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Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP), Berlin, 8.-11.3.2018
Gesellschaft ohne Opposition?
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
"Paralyse der Kritik: Gesellschaft ohne Opposition (Herbert Marcuse)" – so lautet der Titel des Kongresses, den die Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP) vom 8. bis 11. März 2018 in Berlin veranstaltet hat. Damit stellt sich die Frage: leben wir zurzeit in einer Gesellschaft ohne Opposition? Die Antwort heißt NEIN! Die Durchführung des Kongresses ist der Beweis. Der Kongress belegt aber auch sehr deutlich, dass es den herrschenden Kräften darum geht, jede echte Opposition auszuschalten. Das zeigt sich in den diffamierenden Angriffen, die gegen die Neue Gesellschaft für Psychologie und speziell ihren Vorsitzenden laufen. Der Kongress belegt zwar die Existenz von Opposition, hat aber dennoch deutlich gemacht, dass der Prozess des Zurückdrängens von herrschaftskritischer Opposition weit voran geschritten ist, und dass es gilt, diesen Prozess umzudrehen, bevor es zu spät ist. Die Angriffe auf Opposition kommen von außen und innen. Auch das gilt es zu erkennen.
Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder: „Dies ist kein Marcuse-Kongress, nicht eine Hommage an die Kult-Figur, es ist keine Jahr-50-Feier für `68. Sondern: ein Kongress in der Tradition unserer Kongresse: der Analyse der Prozesse und Bedingungen der Bildung von Bewusstsein. Also Psychologie – allerdings: in gesellschaftskritischer Absicht.“ (alle Fotos: arbeiterfotografie.com)
Plenum im Münzenberg-Saal
Plenum im Münzenberg-Saal
Dr. Christoph Bialluch spricht in seinem Referat „Lernen, sich mit dem Gespenst zu unterhalten“ über: „die Wut, Teil des Gemeinwesens zu sein, das Waffen produziert, Kriege führt, große Teile in Armut lässt, Bildungschancen ungleich verteilt, darüber hinaus Arbeitslosigkeit exportiert, Ressourcen und Arbeiter auch im Ausland ausbeutet und eine hegemoniale Außenpolitik mittels Schulden führt. Jenseits ideologischer Kämpfe müsste der Affekt der Wut doch ausreichen für die große Weigerung (nach Marcuse) und (ein bisschen aktueller) für Stephane Hessels 'Empört Euch' von 2010. Er tut es nicht. Zumindest noch nicht.“ (siehe auch Video-Grußworte „Heraus aus der Paralyse der Kritik“)
Plenum im Münzenberg-Saal
Dr. Christoph Bialluch schließt mit einem Zitat von Derrida: "Wenn er zumindest die Gerechtigkeit liebt, wird der Intellektuelle von morgen lernen müssen, zu leben, indem er lernt, sich mit dem Gespenst zu unterhalten, ihm das Wort zu lassen, und sei es auch in sich selbst, im anderen, dem anderen in sich."
Plenum im Münzenberg-Saal
Dr. Christoph Bialluch und Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder – die Kongress-Initiatoren
Dr. Christoph Bialluch und Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder – die Kongress-Initiatoren
Plenum im Münzenberg-Saal
Plenum im Münzenberg-Saal
Dr. Elke Steven: Zur Eskalation eines einwöchigen Protestgeschehens in Hamburg Anfang Juli 2017 aus Anlass des Treffens der G20.
Dr. Elke Steven beschreibt die Attacken auf Protestbewegungen von außen – durch brutale Übergriffe staatlicher Polizeigewalt. Die Angriffe von innen – zum Beispiel die Desorientierung des G20-Protests durch Gleichsetzung von Tätern und Opfern und das damit verbundene Erzeugen falscher Feindbilder zur Vorbereitung von Kriegen wie das Feindbild Putin will sie nicht sehen.
Plenum im Münzenberg-Saal
Plenum im Münzenberg-Saal
Plenum im Münzenberg-Saal
Plenum im Münzenberg-Saal
Karl-Heinz Roth in seinem Vortrag „Die Große Verweigerung 1968 – und heute?“: „Es hat eine Restauration von offener Klassengesellschaft und Klassenherrschaft stattgefunden, die zur Polarisierung zwischen Arm und Reich geführt hat, wie sie sich selbst hart gesottene Marxistinnen und Marxisten vor dreißig Jahren nicht hätten vorstellen können... Dagegen hat es in den letzten Jahren massive Sozialrevolten gegeben. Ich erinnere nur an die Arabellion von 2011.“ Die Funktion der Arabellion (des Arabisches Frühlings) für die US-Regime-Change-Operationen in Libyen und Syrien bleibt unerwähnt.
Plenum im Münzenberg-Saal
Karl-Heinz Roth: „Wie 1968 ist der Prozess der Befreiung als Selbstbefreiung nur noch global denkbar. Damit meine ich aber nicht eine Hinwendung zu irgendwelchen abstrakten Weltsystem-Theorien. Das Gegenteil ist der Fall. Es geht darum, dass wir dort aktiv werden, wo wir uns selbst befinden. Hier im Fall Europa geht es um das Phänomen der begonnenen Selbstzerstörung des europäischen Integrationsprozesses, der einmal das wichtigste Vermächtnis des antifaschistischen Widerstands gewesen war. Durch die autoritären Diktate, durch die Austeritätspolitik der letzten Jahre ist eine Konstellation entstanden, in der die europäische Peripherie zu einer Revenue-Quelle [Einnahmequelle] des Zentrums gemacht geworden ist. Der dominierende Faktor dabei sind die deutschen Machteliten.“
Plenum im Münzenberg-Saal
Plenum im Münzenberg-Saal
Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder: „So wie Anti-Semitismus die Kritik an der Politik des Staats Israel verleumdet, wird mit dem Vorwurf der Verschwörungstheorie versucht, jede Kritische Analyse politischer Zusammenhänge auszuschalten, die nicht an der Oberfläche der Erscheinungen bleibt“
Hannes Heer referiert über "Die Studentenbewegung (1965 bis 1969). Der Aufstand gegen die Nazigeneration": „Die nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands 1945 unterbliebene Revolution wurde in der 60er Jahren nachgeholt in Form einer kulturellen und politischen Revolte.“ Hannes Heer zitiert Max Horkheimer: „Jede Resignation ist schon ein Rückfall in die Vorgeschichte.“ Hannes Heer: „Das ist ein Satz – den müsste man in Zukunft bei jedem Kongress groß plakatieren.“ Hannes Heer zitiert Herbert Marcuse: „Die Tatsache, dass sie anfangen sich zu weigern, das Spiel mitzuspielen, kann der Beginn einer neuen Periode sein.“ Hannes Heer: „Es komme jetzt darauf an – so Marcuse – den Menschentyp freizulegen, der die Revolution haben muss, weil er sonst zusammenbricht. Auch so ein herauszustellender Satz. Dieser revolutionäre Existenzialismus – wie man ihn nennen könnte – war der Funke, der Rudi Dutschkes Leben veränderte und seine Aktivitäten in den folgenden Monaten bestimmen sollte. Lebensnotwendig war demnach nicht das langwierige Geschäft der Vorbereitung der Revolution, sondern die Selbsterziehung zum Revolutionär. Interessantes Konzept, aber als Experiment zu würdigen!“
Hannes Heer beschreibt die antiimperialistische Begeisterung in der Studentenbewegung von 1968. Was mit dieser antiimperialistischen Begeisterung danach geschehen ist, thematisiert er nicht – z.B. als 1999 bei der Eröffnung der von ihm konzipierten Wehrmachtsausstellung die Kölner Bürgermeisterin Canisius (SPD) erklärt, bei dem völkerrechtswidrigen Angriff der NATO inkl. Deutschlands auf die Bundesrepublik Jugoslawien gehe es darum, „mit Waffengewalt eine Schneise zum Frieden zu schlagen“ und Hannes Heer nicht zu denen gehört, die gegen diese Eröffnungsrede protestierten.
Plenum im Münzenberg-Saal
Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder: „Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ‘Ich bin der Faschismus!‘. Nein, er wird sagen: ‘Ich bin der Antifaschismus! ‘. Und so geschieht es bereits.“
Dr. Anton Perzy: Zum Problem gesellschaftlicher Kritik. Ohne organisierten Widerspruch keine Opposition (Panel Kritik des Neoliberalismus III)
Georg Rammer: Die Angst des Staates vor dem Volk. Herrschaft, simulierte Demokratie und Repression (Panel Kritik des Neoliberalismus III)
Dr. Anton Perzy:: „Was ich versuche, ist, zum Problem gesellschaftlicher Kritik Bezug zu nehmen und das Verhältnis Psychoanalyse und Gesellschaftsanalyse zu erörtern... Gesellschaftspolitische Kritik und Gegenentwürfe einer gerechteren Welt werden kaum materiell, d.h. als gesellschaftliche Praxis umgesetzt. Jeder von uns kennt die Ohnmacht angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen, die oft übermächtig werden... aus eigener Erfahrung. D.h. im eigenen, persönlichen, individuellen Umgang mit dieser Ohnmacht bleibt, wenn kein konstruktives, politisches Sich-Einmischen vorstellbar ist..., oft nur die Verdrängung.“
Georg Rammer zitiert aus einer Rede von Bundespräsident Steinmeier: „Die Welt wird zunehmend zu einem unbewohnbaren Ort. Und wir, die westliche Wertegemeinschaft, müssen erkennen, dass wir wesentlich dazu beigetragen haben. Die Ungleichheit hat global empörende Ausmaße angenommen... Zahlreiche Kriege um strategische Vorteile haben Elend und Millionen Menschen den Tod gebracht... 65 Millionen sind auf der Flucht. Und wir bekämpfen die Flüchtlinge und nicht die Ursachen der Flucht... Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir müssen handeln... Unser höchster Wert muss der Mensch sein, nicht der Profit." Um dann aufzuklären: „Sie werden es bemerkt haben. Das ist ein Fake – von mir erfunden... Kein verantwortlicher Politiker benennt diese Probleme, geschweige denn, dass die Ursachen angegangen würden.“
Panel Kritik des Neoliberalismus IV mit Dr. Werner Rügemer und Gerhard Hanloser – Gerhard Hanloser wird vom Moderator u.a. wie folgt vorgestellt: „Gerhard Hanloser ist Sozialwissenschaftler, Historiker, Germanist, arbeitet als Lehrer, ist ein langjähriger linker Publizist, sehr produktiv in verschiedenen Zeitungen [mit mehr oder weniger ausgeprägter antideutscher Tendenz]: 'junge Welt', 'Neues Deutschland', 'Jungle World', 'iz3w'. Seine Schwerpunkte sind Antisemitismus-Theorie, kritische Theorie, Marxismus... 2004 Herausgabe eines Sammelbandes über die 'Antideutschen'...“ Jemand im Saal fragt „Was für Deutsche?“ – und erntet ein herzhaftes Lachen.
Werner Rügemer referiert über „Die Zersetzung des Antifaschismus und Anti-Kapitalismus in Europa“ und „Wie die Siegermacht USA im 2. Weltkrieg und danach die Opposition in Deutschland und Europa infiltrierte, selektiv förderte oder zerstörte“.
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Gerhard Hanloser sagt einleitend: „Ich freue mich, in diesem Panel zu sein. Ich freue mich auch, mit Werner Rügemer zusammen hier zu sein“, um dann mit seinem Referat „Begehren als Kraft der Subversion?“ eine Art Gegenrede zu dem zu bringen, was Werner Rügemer, der nach ihm spricht, sagen wird. Er stellt Herbert Marcuse als jemanden dar, der für die USA gegen den Hitler-Faschismus gearbeitet hat, ohne zu erwähnen, wie die USA den Hitler-Faschismus befördert haben..
Werner Rügemer: „Ich möchte Ihnen eine andere Seite von Marcuse zeigen und vor allem eine andere Seite des Geheimdienstes. 1942 konstatierte Marcuse im Auftrag des US-Geheimdienstes, das propagandistische Trommelfeuer der Nazis habe eine kollektive deutsche Mentalität hervorgebracht, in der Opposition nicht möglich sei, und es gebe sie auch nicht... Tausende von Agenten haben für diesen Geheimdienst gearbeitet, gut bezahlt. Ich komme jetzt insbesondere auf den Umgang mit dem antifaschistischen und Anti-Nazi-Widerstand in Deutschland, den es auch nach Aussage des Geheimdienstmitarbeiters Marcuse nicht gab... Die Agenten vor Ort wussten, dass es ganz anders ist.“
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Gerhard Hanloser: „Über Herbert Marcuse ist vielleicht bekannt, dass er 1942 für den Office of strategic Services OSS gearbeitet hat und für das Office of War Information Auftragsarbeiten gemacht hat. D.h.: er war im Geheimdienst der USA engagiert. Er hat da verschiedenen Texte und Memoranden verfasst, um ... den Nazi-Faschismus zu besiegen.“
Werner Rügemer: „Ich stütze mich zum Teil auf die ausführliche Darstellung von Allen Welsh Dulles, des damaligen Meisters des Geheimdienstes, der das sehr aufschlussreiche Buch 'Verschwörung in Deutschland' verfasst hat. Es ist ein zentrales Buch für die Kriegsgeschichte und die Nachkriegsgeschichte, wie die Bundesrepublik Deutschland gemacht wurde... Ich gucke genauer hin, welche Instrumente hat das Kapital: die Ratingagenturen, die Wirtschaftsprüfer und – von den USA als weltpolitisch ausgreifendes Instrument entwickelt – den Geheimdienst als struktureller Teil der Innen- und vor allem der Außenpolitik. Es begann im Zweiten Weltkrieg und setzt sich fort bis heute – unglaublich modernisiert.“
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Gerhard Hanloser: „Es gibt einen sehr bemerkenswerten Text von Herbert Marcuse aus dem Jahr 1942. Der nennt sich "The New German Mentality" mit der Unterüberschrift "Memorandum zu einer Untersuchung über die psychologischen Grundlagen das Nationalsozialismus und die Möglichkeiten ihrer Zerstörung"... Oberstes Ziel sei es – hält Marcuse fest – den deutschen Faschismus militärisch zu besiegen, weil der deutsche Faschismus nur von außen besiegt werden kann.“
Werner Rügemer erwähnt die Rolle der BIZ – von 1940 bis 1946 mit dem US-Banker McKittrick an ihrer Spitze: „Und in der Schweiz war der Sitz der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, in der alle Kriegsteilnehmer, sowohl die Deutschen mit der Reichsbank wie auch die Wallstreet-Banken... vereinigt waren. Die haben dort die Kriegsfinanzierung für Deutschland abgewickelt. Davon haben amerikanische wie deutsche Unternehmen profitiert, je länger der Krieg dauerte.“ Das entspricht in etwa dem, wie es mit knappen Worten im Buch "Der Turm zu Basel" heißt: „Sie finanzierte den Holocaust und die Kriegsmaschine der Nazis.“
Der linke Medienunternehmer der 1920er- und 1930er-Jahre und 1926/27 Gründer der Arbeiterfotografen-Bewegung Willi Münzenberg im Foyer des Münzenberg-Saals
Norbert Andersch: „Heraus aus der Paralyse der Kritik“ (siehe dazu Video-Grußwort)
Willi Münzenberg im Foyer des Münzenberg-Saals
Willi Münzenbergs Arbeiter-Illustrierte-Zeitung – eine der größten Illustrierten der Weimarer Republik – im Foyer des Münzenberg-Saals
Abstracts aus dem Kongress-Programmheft (auszugsweise)
Plakat und Titelseite des Programmhefts
Klaus-Jürgen Bruder & Christoph Bialluch
Lernen, sich mit dem Gespenst zu unterhalten.
»Gesellschaft ohne Opposition«, wie Marcuse die westliche Gesellschaft in den 60er Jahren charakterisiert hatte, scheint uns auch heute die prägnanteste Diagnose für den Zustand unserer Gesellschaft zu sein. Dennoch gibt es Unterschiede. Während die Opposition Ende der 50er/ Anfang der 60er Jahre »auf technischem Wege besiegt« schien, leben wir heute vor dem Hintergrund einer politischen Niederlage der Opposition. Während die Generation von »68« unverdorben – unbelastet von der Schuld am Faschismus – in ihren Ernstnehmen der Versprechen (»nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg«) enttäuscht mit einer hohen moralischen Empörung auf diese Täuschung geantwortet hatte und ihre Sozialisation in die eigenen Hände nahm und dabei Entdeckungen machen konnte, – nicht zuletzt die Literatur, die der Faschismus zu verbrennen versucht hatte – die ihnen das Recht zu geben schien, zu zerschlagen, was sie zu zermalmen drohte, leben wir heute im »Post«-Horizont, immer noch damit beschäftigt, sich vom Erbe von 68 zu befreien:
• von seinen »radikal«-demokratischen Forderungen und Versprechungen,
• von seiner Unbedingtheit, selbst das Private politisch zu verstehen,
• von seiner Intoleranz gegenüber Unrecht, Verbrechen und Gewalt in den menschlichen Beziehungen,
• von seiner Perspektive der Befreiung durch den Perspektivenwechsel, die Umkehrung der Laufrichtung (Thomas Bernhard).
Der kulturelle Bruch von »68« kann wohl nur totalitär konterkariert, konterrevolutioniert werden. Diese Konterrevolution ist in allererster Linie das Werk der Mächte der Vorzeit, die vor »68« geherrscht hatten, ja bereits vor 45 (und noch weiter zurück). Aber sie ist auch »hausgemacht«: Ergebnis von Resignation und Wende, Umkehr der Insubordination. Das alles wissend ernst zu nehmen, verlangte »wieder ganz von vorne anzufangen« – aber im Zustand der verlorenen Unschuld (Hölderlin): »Lernen – zu leben« (Derrida). »Lernen von Las Vegas« hatten wir gesagt (Kongress Machtwirkung & Glücksversprechen), im Klartext: als Theoretiker von den Praktikern lernen, vom Subjekt: »das spricht« – die Frage ist nur: von woher? (Lacan). »Wenn er zumindest die Gerechtigkeit liebt, wird der Intellektuelle von morgen lernen müssen, zu leben, indem er lernt, sich mit dem Gespenst zu unterhalten, ihm das Wort zu lassen, und sei es auch in sich selbst, im anderen, dem anderen in sich« (Derrida 1993, S. 276).
Klaus-Jürgen Bruder, Prof. Dr. phil. habil., geb. 1941, ist Psychoanalytiker, Professor für Psychologie und erster Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP). Wichtigste Veröffentlichungen: Subjektivität und Postmoderne. Der Diskurs der Psychologie. Frankfurt (Suhrkamp) 1993; Jugend. Psychologie einer Kultur. (mit Almuth Bruder-Bezzel) München (Urban & Schwarzenberg) 1984; Psychologie ohne Bewusstsein. Die Geburt der behavioristischen Sozialtechnologie. Frankfurt (Suhrkamp) 1982; Lüge und Selbsttäuschung (mit Friedrich Voßkühler). Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2009.
Christoph Bialluch, Dr. phil. Dipl.-Psych., erfüllt Lehraufträge an Universitäten, Hoch-, Fach- und Berufsschulen, wo er Psychologie von der Altenpflege über Heil- und Sozialpädagogik bis hin zur Theaterdramaturgie unterrichtet. Sein wissenschaftliches Interesse gilt der Theorie und Geschichte der Psychologie, vor allem der Psychoanalyse und ihrer gesellschaftlichen Bezüge. Er ist zweiter Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP).
Hannes Heer
»Die Studentenbewegung« (1965 bis 1969) – Der Aufstand gegen die Nazigeneration
Die nach der Kapitulation Nazideutschlands 1945 unterbliebene Revolution wurde in Form einer politisch-kulturellen Revolte in den Jahren 1965 bis 1968 nachgeholt. Deren Träger war der »Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS)«, von dem sich die SPD 1960 nach ihrer totalen Anpassung an den restituierten Kapitalismus getrennt hatte. Die Verschärfung der politischen und gesellschaftlichen Widersprüche in der BRD durch die offen zutage tretende postnazistische Personalstruktur in Regierungs- und Beamtenapparat, die im Zeichen des Antikommunismus forcierte Aufrüstung, die Planung grundgesetzwidriger Notstandsgesetze und die aktive Unterstützung des imperialistischen Vietnamkrieges der USA führten zu einem Strategiewechsel des SDS: Statt den von Horkheimer, Adorno und Marcuse entwickelten Modellen der Theorie als »einer Gestalt von Praxis« oder der »absoluten Weigerung« als Form des Widerstands weiter zu folgen, wurde die an der Westberliner Freien Universität (FU) entwickelte antiautoritäre Praxis der bewussten »Regelverletzung« als Möglichkeit kollektiver Lernprozesse und als Mittel zum Aufbau einer Gegenmacht entdeckt. Diese Erfahrungen wurden zum Modell auch für die westdeutschen Studenten. Die Grenzen dieser radikaldemokratischen Revolte, deren Träger die im Krieg Geborenen und mit den Lügen der Nazi-Eltern Aufgewachsenen waren, zeigten sich am 2. Juni 1967 und am 11. April 1968: Der theoretisch wie praktisch erfolgte Versuch der Transformation in eine prae-revolutionäre Bewegung scheiterte.
Hannes Heer, Jg. 1941, SDS Bonn, Studium Germanistik und Geschichte, Staatsexamen und Berufsverbot 1968, Tätigkeit als Rundfunkautor, Theaterdramaturg, Dokumentarfilmer für ARD und ZDF, Ausstellungskurator (u. a. »Verbrechen der Wehrmacht«, »Verstummte Stimmen«) und Publizist.
Elke Steven
Zur Eskalation eines einwöchigen Protestgeschehens in Hamburg Anfang juli 2017 aus Anlass des Treffens der G20
Zum Treffen von G20 hat sich eine breite linke Bewegung zusammengeschlossen, um die mehr oder weniger grundsätzliche Kritik an der Politik, für die G20 steht, zum Ausdruck zu bringen. Über inhaltliche Differenzen hinweg, sollte sowohl die Kritik inhaltlich gefüllt werden – Alternativgipfel – als auch als Protest auf die Straße getragen werden. Diesem breiten Protest ist in einem rot-grün regierten Bundesland mit einer Tradition des harten polizeilichen Durchgreifens begegnet worden. Dafür steht die frühe Entscheidung für den polizeilichen Einsatzleiter, dessen Umgang mit Versammlungen von Gerichten mehrmals als rechtswidrig bewertet wurde. Von Vorneherein wurde vor gewaltbereiten Demonstrierenden gewarnt, ohne diese Befürchtung zu belegen. Eine Allgemeinverfügung machte den größten Teil der Innenstadt zu einer Demonstrationsverbotszone. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie organisierte eine Demonstrationsbeobachtung. Anders als in der ersten medialen Berichterstattung waren die Blicke der Demonstrationsbeobachter*innen auf die angekündigten Versammlungen gerichtet und nicht auf die »Ausschreitungen«, die vor allem eine Nacht prägten. Damit stand die polizeiliche Gewalt im Mittelpunkt der Wahrnehmung, die Zumutungen vom Ignorieren des Gerichtsbeschlusses auf das Recht, ein Camp zu errichten, über die gewaltsame Auflösung einer friedlichen Demonstration bis zur teilweise rücksichtslosen Gewalt gegen Gruppen und Einzelne am Tag des Zivilen Ungehorsams. Auch noch bei der Großdemonstration musste festgestellt werden, dass der Schutz des Versammlungsrechts missachtet wurde. Das polizeiliche Vorgehen legte nahe, dass Eskalation gewollt war. Ging es um die Desavouierung jedes linken Protestes und linker Kritik? Die schnellen Reaktionen und Forderungen aus der Politik könnten dies nahelegen: Linksextremismus soll mehr ins Visier genommen werden, linke Projekte sollen vermehrt geprüft werden, erst recht, wenn sie staatliche Gelder erhalten. Die öffentliche Wahrnehmung war jedoch von der medialen Berichterstattung über die Riots an einem Abend geprägt. Die bürgerliche Mitte mag zwar das die Julirevolution feiernde Gemälde von Eugène Delacroix (1831) – »Die Freiheit führt das Volk« – bewundern, etwaige Aufstände sind gegenwärtig und in unseren Städten jedoch höchst unerwünscht.
Elke Steven, Dr. phil., Soziologin, von 1994 bis 2017 Referentin im Komitee für Grundrechte und Demokratie. Schwerpunkte liegen in den Themen Demonstrationsrecht, Demonstrationsbeobachtungen, »Innere Sicherheit«, elektronische Gesundheitskarte und Gesundheitssystem. Texte zum Protest gegen G20: Geschichte der Eskalation eines einwöchigen Protestgeschehens: http://www.grundrechtekomitee.de/node/876; Auf dem Weg zur Abschaffung des Gewaltmonopols?: http://www.grundrechtekomitee.de/node/875; Ausnahmezustand – Polizeistaat – Aufstandsbekämpfungsübung?: http://www.grundrechtekomitee.de/node/873
Karl Heinz Roth
Die Große Verweigerung 1968 – und heute?
Im Zentrum von »1968« stand die Revolte gegen die entfremdete Konsumgesellschaft, gegen die autoritäre Verlogenheit der Nachkriegsdemokratien, gegen die Deformation des Marxismus zu einem Herrschaftsinstrument, und gegen die exzessive Gewalt des Neo-Kolonialismus. Sie hatte in Herbert Marcuse ihren wichtigsten Sprecher gefunden. Von ihm stammte jene Parole, die den Widerstand am stärksten beflügelte: Die Große Verweigerung als erster Schritt zu einem befreiten und selbstbestimmten Leben. Seither sind 50 Jahre vergangen. Das kapitalistische Weltsystem hat sich sozial, politisch, wirtschaftlich und mental dramatisch gewandelt. Dabei hat ´1968´ markante Spuren hinterlassen. Aber die Negation führte weder zur Transformation der menschlichen Bedürfnisse noch zur Aufhebung von Armut, Elend und entfremdeter Arbeit. Vielmehr sind die Impulse der Revolte metabolisiert worden. Sie erscheinen heute in deformierter Form wieder als Insignien eines marktradikal erneuerten Kapitalismus, der alles, was Marcuse seinerzeit brandmarkte, ins Unermessliche gesteigert hat. Das Ziel des Vortrags besteht darin, die wesentlichen Aspekte dieses konterrevolutionären Metabolisierungsprozesses aufzuzeigen: Die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse, die zum Ich-Kult vorangetriebene Kommodifizierung der Gesellschaft, die Kombination verfeinerter repressiver Toleranz mit innovativen Sozialtechniken, den autoritären Umbau der politischen Regulationssysteme – aber auch die fundamentalistisch-religiöse Instrumentalisierung des antiimperialistischen Widerstands. Es ist schwer, angesichts dieser Tendenzen die Frage nach den Perspektiven einer antisystemischen Alternative aufzuwerfen. Aber wir dürfen ihr nicht ausweichen, wenn wir an der conditio humana festhalten wollen. Hierzu sollen abschließend einige Thesen formuliert werden.
Karl Heinz Roth, Dr. med., Dr. phil, Arzt, Historiker und Publizist. Er ist im Vorstand der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Georg Rammer
Die Angst des Staates vor dem Volk Herrschaft, simulierte Demokratie und Repression
Der Staat hat in der marktkonformen Demokratie eine schwierige Aufgabe zu bewältigen: Einerseits will er das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft garantieren, andererseits den Schein demokratischer Prinzipien aufrechterhalten. Immer wieder lässt sich verfolgen, wie er diesen Widerspruch zu lösen trachtet: Bei der Durchsetzung neoliberaler Freihandelsverträge, der Ausweitung von Militäreinsätzen gegen den Willen der Bevölkerung, der Vertuschung krimineller Taten von Konzernen und Geheimdiensten oder der Förderung wachsender Ungleichheit gegen Grundsätze eines sozialen Rechtsstaates. Während an kapitalistischen Interessen orientierte Konzerne und Verbände nicht demokratisch legitimiert sind, muss der Staat formal demokratische Regeln einhalten – gleichzeitig aber dafür sorgen, dass politische Opposition oder Widerstand gegen Missachtung von Menschenrechten und gegen imperiale Herrschaft im Zaum gehalten werden. Angst des Staates vor Widerstand spielt dabei ebenso eine wichtige Rolle wie seine Strategie, in der Bevölkerung Angst und Unsicherheit zu wecken. Geradezu exemplarisch war das bei den Massenprotesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg zu beobachten. Die folgenden staatlichen Repressionsmaßnahmen fanden Zustimmung und Unterstützung bei den meinungsbildenden Medien. Angsterzeugung und die Ausschaltung von Opposition und Widerstand erleichtern hegemoniale Kriege, neokoloniale Ausbeutung und die Zerstörung der Lebensgrundlagen im globalen Süden. Sie tragen andererseits dazu bei, dass enttäuschte Menschen irrationale Scheinlösungen favorisieren: Rassismus und Gewalt gegen »Fremde« nehmen in Deutschland, der EU und weltweit zu. Wächst das Rettende auch? Welche Kraft glaubwürdige Opposition gegen neoliberale Menschenfeindlichkeit entfalten kann, ließ sich beim Erfolg von Labour-Chef Corbyn verfolgen. Aufklärung und Aktionen im Sinne außerparlamentarischer Opposition zielen auf Systemwandel. Die Aufgabe linker Dissidenz besteht darin, Verbrechen des neoliberalen, neokolonialistischen Kapitalismus zu benennen und auf demokratischen Aufbruch hinzuarbeiten.
Georg Rammer, Psychologe und Publizist. Schwerpunkte: Armut und Ungleichheit, Militarisierung, Neoliberalismus und die Folgen für Menschen und Gesellschaft, nämlich Demokratieabbau, Missachtung der Menschenrechte, Zerstörung der Lebensgrundlagen und Rassismus. Bei Attac engagiert für die Verwirklichung der Grund- und Menschenrechte in einer realen Demokratie.
Anton Perzy
Zum Problem gesellschaftlicher Kritik. Ohne organisierten Widerspruch keine Opposition
Gesellschaftspolitische Kritik und Gegenentwürfe einer gerechteren Welt werden kaum materiell – d.h. als gesellschaftliche Praxis – umgesetzt. Kritik verwandelt sich in Affirmation, bevor sie wirksam werden kann. Gesellschaftlich wirksame Kritik hingegen kann nur gegen den Diskurs der Macht entfaltet werden. Es fällt auf, dass dies kaum gelingt. Stattdessen werden kritische Positionen entweder gar nicht erst entwickelt oder aus opportunistischen Gründen bereitwillig aufgegeben und neoliberale Positionen übernommen. Wer gesellschaftlich aufsteigen will, muss sich an die herrschende Ideologie anpassen. Das scheint für die meisten verlockender zu sein als ihr zu widerstehen. Kritik an den Verhältnissen stört bloß. Das ist nicht nur in der Politik so, sondern ein allgemeines Merkmal von Arbeitsverhältnissen im Kapitalismus. Die eigene Karriere und der eigene Vorteil gehen vor, die herrschende neoliberale Ideologie ist letztlich nur opportunes Vehikel. Wer heute noch meint, dass Kritik am Kapitalismus veraltet und überholt sei, gehört zu denen, die keine andere Möglichkeit für sich sehen als es sich in diesem System einzurichten, so gut es eben geht. Ihre strukturelle Abwehr von Kritik ist konstitutiv geworden. Opposition kann daraus nicht erwachsen. Eine faire Politik kann nur funktionieren, wenn wir unsere existentiellen, konkreten Bedürfnisse verstehen und sie miteinander teilen, also vergesellschaften, und eine nicht allen Menschen in der Gesellschaft gleichermaßen gerecht werdende Politik ablehnen. Ohne einen überzeugenden Gegenentwurf, der alle Bevölkerungsschichten berücksichtigt und den Übergang aus unserem jetzigen Wirtschaftssystem in ein am Gemeinwohl orientiertes System im Detail ausformuliert, lässt sich keine Alternative anbieten und keine Mehrheit im demokratischen Bemühen erreichen. Ohne sich darauf stützenden organisierten Widerspruch gibt es keine mehrheitsfähige Opposition. Ein Kongress, der ein Gesellschaftsmodell entwickelt, das für alle funktioniert, und der diesen Übergang konzipiert, könnte einen Beitrag für die Gesellschaft leisten, der über partei- oder sonstig gebundene Zusammenhänge hinausgeht.
Anton Perzy, Dr. phil., Psychologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa-Universität Flensburg, Interesse an den psychologischen Aspekten von Entwicklung, Sozialisation und Bildung und den Zusammenhang zwischen Psychologie der Person, ihrem sozialen Handeln und Gesellschaft.
Gerhard Hanloser
»Begehren als Kraft der Subversion?«
Mit Blick auf 1968 mag es so erscheinen, als stünde die Emanzipation der Lüste und des Begehrens in einem zwingenden Verhältnis zu antikapitalistischen Kämpfen. Schließlich stand am Anfang der studentischen Bewegung in Nanterre der Kampf gegen die geschlechtliche Segregation in den Wohnheimen, der sich später mit Arbeiterkämpfen verband. Doch mit dem historischen Ende der Linken und der Schwäche antikapitalistischer Bewegungen ab den 80er und 90er Jahren stehen Kämpfe um die Emanzipation der diversen Sexualität mehr denn je unter der Fuchtel des Kapitals, womit auch eine das Kapitalverhältnis sprengen wollende Emanzipationstheorie der Lüste und Triebe, wie sie bei dem Situationisten Raoul Vaneigem anklingt oder in Herbert Marcuses »Triebstruktur und Gesellschaft« vorliegt, fragwürdig geworden ist. Herbert Marcuse versuchte Zentralbegriffe der Psychoanalyse von Freud einer Gesellschaftskritik zuzuführen. In »Triebstruktur und Gesellschaft« schrieb er, die Sexualität sei eine »wesensmäßig explosive Kraft«, die sich mit der Arbeit als »wichtigste(r) soziale(r) Manifestation des Realitätsprinzips« konfrontiert. Libidinöse Lust werde nur als zeitweiliger kontrollierter Zustand geduldet, nicht als beständiger Quell menschlichen Daseins. Heutzutage scheint in den Gesellschaften des postmodernen Kapitalismus das sexuelle Begehren nicht mehr repressiv zu sein, womit diesem kein subversives oder widerständiges Potential mehr zu kommt. Müsste der Trieb- und sexualpolitische Optimismus Marcuses verabschiedet werden?
Gerhard Hanloser ist Sozialwissenschaftler und Pädagoge aus Berlin. Seine letzte Veröffentlichung: Lektüre & Revolte. Der Textfundus der 68er – Fundamentalopposition, (2017, Münster: Unrast Verlag).
Werner Rügemer
Die Zersetzung des Antifaschismus und Anti-Kapitalismus in Europa. Wie die Siegermacht USA im 2. Weltkrieg und danach die Opposition in Deutschland und Europa infiltrierte, selektiv förderte oder zerstörte
Herbert Marcuse stellte in der »fortgeschrittenen Industriegesellschaft« die Subjektlosigkeit der Gesellschaft fest, damit auch das Verschwinden der Opposition. Auch die kapitalistischen Privateigentümer verschwanden. An deren Stelle traten namenlose Verwalter und Manager. Zwischen kapitalistischen und sozialistischen Staaten sah Marcuse nicht einmal eine relative Differenz. Er verzichtete damit auf die Analyse des konkreten Ausbeutungs- und Herrschaftsmechanismus, also der Praktiken der kapitalistischen Unternehmen, Banken, Geheimdienste, Regierungen, Stiftungen, Agenturen, Medien. Als einzig noch mögliche Opposition, sogar mit revolutionärem Potential, diagnostizierte Marcuse die »Geächteten und Außenseiter«, auch die Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen. Da diese aber kein revolutionäres Bewusstsein hätten, müssten die kritischen Intellektuellen ihnen die Theorie beibringen (Herbert Marcuse: One-Dimensional Man. Boston 1964; Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, 1967). Die kritische Theorie Marcuses erwies sich als geschichtslos, hochspekulativ und empirieresistent. Die Akteure und Praktiken für das Verschwinden der Opposition und der Alternativen untersuchte Marcuse nicht. Demgegenüber skizziert Rügemer exemplarisch, welche US-Akteure während des 2. Weltkriegs die antifaschistischen und antikapitalistischen Oppositionen in Deutschland und im besetzten Europa ausschöpften, lähmten, zersetzten, aber reaktionäre, konservative, christliche und »prowestliche« Oppositionen förderten und lenkten, dies dann auch im Nachkriegs-Europa. Rügemer wertet dazu u.a. die Veröffentlichungen und Dokumente des Wall Street-Anwalts Allen Dulles aus, der seit 1942 als Europa-Chef des US-Geheimdienstes OSS und nach dem Krieg als Chef des Nachfolgedienstes CIA agierte. Die demokratische Opposition verschwand nicht anonym in der »fortgeschrittenen Industriegesellschaft«, sondern wurde durch benennbare Akteure gezielt zersetzt – mit Folgen bis heute.
Werner Rügemer, Dr., geb. 1941, Philosoph, Publizist. Mitbegründer der aktion gegen arbeitsunrecht. Letzte Buchveröffentlichung: Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur. 2. Auflage Köln 2017 www.werner-ruegemer.de. www.arbeitsunrecht.de
Siehe auch:
Worauf bereitet der Anti-Semitismus-Diskurs uns vor?
Referat von Klaus-Jürgen Bruder beim Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP), Berlin, 9.3.2018
NRhZ 651 vom 21.03.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24678
Antisemitismus-Behauptung als Diffamierung
Das ND macht in Schweinejournalismus
Von Ulrich Gellermann (mit Leserbrief von Klaus-Jürgen Bruder)
NRhZ 651 vom 21.03.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24687
Heraus aus der Paralyse der Kritik
Video-Grußworte vom Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP), Berlin, 8.-11.3.2018
Von Christoph Bialluch und Norbert Andersch
NRhZ 651 vom 21.03.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24692
Gespräch mit dem Vorsitzenden der Neuen Gesellschaft für Psychologie NGfP am Rande der Tagung „Zur Zeit der Verleumder“
Du bist dieser Maschine nicht ausgeliefert
Klaus-Jürgen Bruder – interviewt von Anneliese Fikentscher
NRhZ 651 vom 21.03.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24693
Online-Flyer Nr. 651 vom 21.03.2018
Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP), Berlin, 8.-11.3.2018
Gesellschaft ohne Opposition?
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
"Paralyse der Kritik: Gesellschaft ohne Opposition (Herbert Marcuse)" – so lautet der Titel des Kongresses, den die Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP) vom 8. bis 11. März 2018 in Berlin veranstaltet hat. Damit stellt sich die Frage: leben wir zurzeit in einer Gesellschaft ohne Opposition? Die Antwort heißt NEIN! Die Durchführung des Kongresses ist der Beweis. Der Kongress belegt aber auch sehr deutlich, dass es den herrschenden Kräften darum geht, jede echte Opposition auszuschalten. Das zeigt sich in den diffamierenden Angriffen, die gegen die Neue Gesellschaft für Psychologie und speziell ihren Vorsitzenden laufen. Der Kongress belegt zwar die Existenz von Opposition, hat aber dennoch deutlich gemacht, dass der Prozess des Zurückdrängens von herrschaftskritischer Opposition weit voran geschritten ist, und dass es gilt, diesen Prozess umzudrehen, bevor es zu spät ist. Die Angriffe auf Opposition kommen von außen und innen. Auch das gilt es zu erkennen.
Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder: „Dies ist kein Marcuse-Kongress, nicht eine Hommage an die Kult-Figur, es ist keine Jahr-50-Feier für `68. Sondern: ein Kongress in der Tradition unserer Kongresse: der Analyse der Prozesse und Bedingungen der Bildung von Bewusstsein. Also Psychologie – allerdings: in gesellschaftskritischer Absicht.“ (alle Fotos: arbeiterfotografie.com)
Plenum im Münzenberg-Saal
Plenum im Münzenberg-Saal
Dr. Christoph Bialluch spricht in seinem Referat „Lernen, sich mit dem Gespenst zu unterhalten“ über: „die Wut, Teil des Gemeinwesens zu sein, das Waffen produziert, Kriege führt, große Teile in Armut lässt, Bildungschancen ungleich verteilt, darüber hinaus Arbeitslosigkeit exportiert, Ressourcen und Arbeiter auch im Ausland ausbeutet und eine hegemoniale Außenpolitik mittels Schulden führt. Jenseits ideologischer Kämpfe müsste der Affekt der Wut doch ausreichen für die große Weigerung (nach Marcuse) und (ein bisschen aktueller) für Stephane Hessels 'Empört Euch' von 2010. Er tut es nicht. Zumindest noch nicht.“ (siehe auch Video-Grußworte „Heraus aus der Paralyse der Kritik“)
Plenum im Münzenberg-Saal
Dr. Christoph Bialluch schließt mit einem Zitat von Derrida: "Wenn er zumindest die Gerechtigkeit liebt, wird der Intellektuelle von morgen lernen müssen, zu leben, indem er lernt, sich mit dem Gespenst zu unterhalten, ihm das Wort zu lassen, und sei es auch in sich selbst, im anderen, dem anderen in sich."
Plenum im Münzenberg-Saal
Dr. Christoph Bialluch und Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder – die Kongress-Initiatoren
Dr. Christoph Bialluch und Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder – die Kongress-Initiatoren
Plenum im Münzenberg-Saal
Plenum im Münzenberg-Saal
Dr. Elke Steven: Zur Eskalation eines einwöchigen Protestgeschehens in Hamburg Anfang Juli 2017 aus Anlass des Treffens der G20.
Dr. Elke Steven beschreibt die Attacken auf Protestbewegungen von außen – durch brutale Übergriffe staatlicher Polizeigewalt. Die Angriffe von innen – zum Beispiel die Desorientierung des G20-Protests durch Gleichsetzung von Tätern und Opfern und das damit verbundene Erzeugen falscher Feindbilder zur Vorbereitung von Kriegen wie das Feindbild Putin will sie nicht sehen.
Plenum im Münzenberg-Saal
Plenum im Münzenberg-Saal
Plenum im Münzenberg-Saal
Plenum im Münzenberg-Saal
Karl-Heinz Roth in seinem Vortrag „Die Große Verweigerung 1968 – und heute?“: „Es hat eine Restauration von offener Klassengesellschaft und Klassenherrschaft stattgefunden, die zur Polarisierung zwischen Arm und Reich geführt hat, wie sie sich selbst hart gesottene Marxistinnen und Marxisten vor dreißig Jahren nicht hätten vorstellen können... Dagegen hat es in den letzten Jahren massive Sozialrevolten gegeben. Ich erinnere nur an die Arabellion von 2011.“ Die Funktion der Arabellion (des Arabisches Frühlings) für die US-Regime-Change-Operationen in Libyen und Syrien bleibt unerwähnt.
Plenum im Münzenberg-Saal
Karl-Heinz Roth: „Wie 1968 ist der Prozess der Befreiung als Selbstbefreiung nur noch global denkbar. Damit meine ich aber nicht eine Hinwendung zu irgendwelchen abstrakten Weltsystem-Theorien. Das Gegenteil ist der Fall. Es geht darum, dass wir dort aktiv werden, wo wir uns selbst befinden. Hier im Fall Europa geht es um das Phänomen der begonnenen Selbstzerstörung des europäischen Integrationsprozesses, der einmal das wichtigste Vermächtnis des antifaschistischen Widerstands gewesen war. Durch die autoritären Diktate, durch die Austeritätspolitik der letzten Jahre ist eine Konstellation entstanden, in der die europäische Peripherie zu einer Revenue-Quelle [Einnahmequelle] des Zentrums gemacht geworden ist. Der dominierende Faktor dabei sind die deutschen Machteliten.“
Plenum im Münzenberg-Saal
Plenum im Münzenberg-Saal
Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder: „So wie Anti-Semitismus die Kritik an der Politik des Staats Israel verleumdet, wird mit dem Vorwurf der Verschwörungstheorie versucht, jede Kritische Analyse politischer Zusammenhänge auszuschalten, die nicht an der Oberfläche der Erscheinungen bleibt“
Hannes Heer referiert über "Die Studentenbewegung (1965 bis 1969). Der Aufstand gegen die Nazigeneration": „Die nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands 1945 unterbliebene Revolution wurde in der 60er Jahren nachgeholt in Form einer kulturellen und politischen Revolte.“ Hannes Heer zitiert Max Horkheimer: „Jede Resignation ist schon ein Rückfall in die Vorgeschichte.“ Hannes Heer: „Das ist ein Satz – den müsste man in Zukunft bei jedem Kongress groß plakatieren.“ Hannes Heer zitiert Herbert Marcuse: „Die Tatsache, dass sie anfangen sich zu weigern, das Spiel mitzuspielen, kann der Beginn einer neuen Periode sein.“ Hannes Heer: „Es komme jetzt darauf an – so Marcuse – den Menschentyp freizulegen, der die Revolution haben muss, weil er sonst zusammenbricht. Auch so ein herauszustellender Satz. Dieser revolutionäre Existenzialismus – wie man ihn nennen könnte – war der Funke, der Rudi Dutschkes Leben veränderte und seine Aktivitäten in den folgenden Monaten bestimmen sollte. Lebensnotwendig war demnach nicht das langwierige Geschäft der Vorbereitung der Revolution, sondern die Selbsterziehung zum Revolutionär. Interessantes Konzept, aber als Experiment zu würdigen!“
Hannes Heer beschreibt die antiimperialistische Begeisterung in der Studentenbewegung von 1968. Was mit dieser antiimperialistischen Begeisterung danach geschehen ist, thematisiert er nicht – z.B. als 1999 bei der Eröffnung der von ihm konzipierten Wehrmachtsausstellung die Kölner Bürgermeisterin Canisius (SPD) erklärt, bei dem völkerrechtswidrigen Angriff der NATO inkl. Deutschlands auf die Bundesrepublik Jugoslawien gehe es darum, „mit Waffengewalt eine Schneise zum Frieden zu schlagen“ und Hannes Heer nicht zu denen gehört, die gegen diese Eröffnungsrede protestierten.
Plenum im Münzenberg-Saal
Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder: „Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ‘Ich bin der Faschismus!‘. Nein, er wird sagen: ‘Ich bin der Antifaschismus! ‘. Und so geschieht es bereits.“
Dr. Anton Perzy: Zum Problem gesellschaftlicher Kritik. Ohne organisierten Widerspruch keine Opposition (Panel Kritik des Neoliberalismus III)
Georg Rammer: Die Angst des Staates vor dem Volk. Herrschaft, simulierte Demokratie und Repression (Panel Kritik des Neoliberalismus III)
Dr. Anton Perzy:: „Was ich versuche, ist, zum Problem gesellschaftlicher Kritik Bezug zu nehmen und das Verhältnis Psychoanalyse und Gesellschaftsanalyse zu erörtern... Gesellschaftspolitische Kritik und Gegenentwürfe einer gerechteren Welt werden kaum materiell, d.h. als gesellschaftliche Praxis umgesetzt. Jeder von uns kennt die Ohnmacht angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen, die oft übermächtig werden... aus eigener Erfahrung. D.h. im eigenen, persönlichen, individuellen Umgang mit dieser Ohnmacht bleibt, wenn kein konstruktives, politisches Sich-Einmischen vorstellbar ist..., oft nur die Verdrängung.“
Georg Rammer zitiert aus einer Rede von Bundespräsident Steinmeier: „Die Welt wird zunehmend zu einem unbewohnbaren Ort. Und wir, die westliche Wertegemeinschaft, müssen erkennen, dass wir wesentlich dazu beigetragen haben. Die Ungleichheit hat global empörende Ausmaße angenommen... Zahlreiche Kriege um strategische Vorteile haben Elend und Millionen Menschen den Tod gebracht... 65 Millionen sind auf der Flucht. Und wir bekämpfen die Flüchtlinge und nicht die Ursachen der Flucht... Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir müssen handeln... Unser höchster Wert muss der Mensch sein, nicht der Profit." Um dann aufzuklären: „Sie werden es bemerkt haben. Das ist ein Fake – von mir erfunden... Kein verantwortlicher Politiker benennt diese Probleme, geschweige denn, dass die Ursachen angegangen würden.“
Panel Kritik des Neoliberalismus IV mit Dr. Werner Rügemer und Gerhard Hanloser – Gerhard Hanloser wird vom Moderator u.a. wie folgt vorgestellt: „Gerhard Hanloser ist Sozialwissenschaftler, Historiker, Germanist, arbeitet als Lehrer, ist ein langjähriger linker Publizist, sehr produktiv in verschiedenen Zeitungen [mit mehr oder weniger ausgeprägter antideutscher Tendenz]: 'junge Welt', 'Neues Deutschland', 'Jungle World', 'iz3w'. Seine Schwerpunkte sind Antisemitismus-Theorie, kritische Theorie, Marxismus... 2004 Herausgabe eines Sammelbandes über die 'Antideutschen'...“ Jemand im Saal fragt „Was für Deutsche?“ – und erntet ein herzhaftes Lachen.
Werner Rügemer referiert über „Die Zersetzung des Antifaschismus und Anti-Kapitalismus in Europa“ und „Wie die Siegermacht USA im 2. Weltkrieg und danach die Opposition in Deutschland und Europa infiltrierte, selektiv förderte oder zerstörte“.
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Gerhard Hanloser sagt einleitend: „Ich freue mich, in diesem Panel zu sein. Ich freue mich auch, mit Werner Rügemer zusammen hier zu sein“, um dann mit seinem Referat „Begehren als Kraft der Subversion?“ eine Art Gegenrede zu dem zu bringen, was Werner Rügemer, der nach ihm spricht, sagen wird. Er stellt Herbert Marcuse als jemanden dar, der für die USA gegen den Hitler-Faschismus gearbeitet hat, ohne zu erwähnen, wie die USA den Hitler-Faschismus befördert haben..
Werner Rügemer: „Ich möchte Ihnen eine andere Seite von Marcuse zeigen und vor allem eine andere Seite des Geheimdienstes. 1942 konstatierte Marcuse im Auftrag des US-Geheimdienstes, das propagandistische Trommelfeuer der Nazis habe eine kollektive deutsche Mentalität hervorgebracht, in der Opposition nicht möglich sei, und es gebe sie auch nicht... Tausende von Agenten haben für diesen Geheimdienst gearbeitet, gut bezahlt. Ich komme jetzt insbesondere auf den Umgang mit dem antifaschistischen und Anti-Nazi-Widerstand in Deutschland, den es auch nach Aussage des Geheimdienstmitarbeiters Marcuse nicht gab... Die Agenten vor Ort wussten, dass es ganz anders ist.“
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Gerhard Hanloser: „Über Herbert Marcuse ist vielleicht bekannt, dass er 1942 für den Office of strategic Services OSS gearbeitet hat und für das Office of War Information Auftragsarbeiten gemacht hat. D.h.: er war im Geheimdienst der USA engagiert. Er hat da verschiedenen Texte und Memoranden verfasst, um ... den Nazi-Faschismus zu besiegen.“
Werner Rügemer: „Ich stütze mich zum Teil auf die ausführliche Darstellung von Allen Welsh Dulles, des damaligen Meisters des Geheimdienstes, der das sehr aufschlussreiche Buch 'Verschwörung in Deutschland' verfasst hat. Es ist ein zentrales Buch für die Kriegsgeschichte und die Nachkriegsgeschichte, wie die Bundesrepublik Deutschland gemacht wurde... Ich gucke genauer hin, welche Instrumente hat das Kapital: die Ratingagenturen, die Wirtschaftsprüfer und – von den USA als weltpolitisch ausgreifendes Instrument entwickelt – den Geheimdienst als struktureller Teil der Innen- und vor allem der Außenpolitik. Es begann im Zweiten Weltkrieg und setzt sich fort bis heute – unglaublich modernisiert.“
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Gerhard Hanloser: „Es gibt einen sehr bemerkenswerten Text von Herbert Marcuse aus dem Jahr 1942. Der nennt sich "The New German Mentality" mit der Unterüberschrift "Memorandum zu einer Untersuchung über die psychologischen Grundlagen das Nationalsozialismus und die Möglichkeiten ihrer Zerstörung"... Oberstes Ziel sei es – hält Marcuse fest – den deutschen Faschismus militärisch zu besiegen, weil der deutsche Faschismus nur von außen besiegt werden kann.“
Werner Rügemer erwähnt die Rolle der BIZ – von 1940 bis 1946 mit dem US-Banker McKittrick an ihrer Spitze: „Und in der Schweiz war der Sitz der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, in der alle Kriegsteilnehmer, sowohl die Deutschen mit der Reichsbank wie auch die Wallstreet-Banken... vereinigt waren. Die haben dort die Kriegsfinanzierung für Deutschland abgewickelt. Davon haben amerikanische wie deutsche Unternehmen profitiert, je länger der Krieg dauerte.“ Das entspricht in etwa dem, wie es mit knappen Worten im Buch "Der Turm zu Basel" heißt: „Sie finanzierte den Holocaust und die Kriegsmaschine der Nazis.“
Der linke Medienunternehmer der 1920er- und 1930er-Jahre und 1926/27 Gründer der Arbeiterfotografen-Bewegung Willi Münzenberg im Foyer des Münzenberg-Saals
Norbert Andersch: „Heraus aus der Paralyse der Kritik“ (siehe dazu Video-Grußwort)
Willi Münzenberg im Foyer des Münzenberg-Saals
Willi Münzenbergs Arbeiter-Illustrierte-Zeitung – eine der größten Illustrierten der Weimarer Republik – im Foyer des Münzenberg-Saals
Abstracts aus dem Kongress-Programmheft (auszugsweise)
Plakat und Titelseite des Programmhefts
Klaus-Jürgen Bruder & Christoph Bialluch
Lernen, sich mit dem Gespenst zu unterhalten.
»Gesellschaft ohne Opposition«, wie Marcuse die westliche Gesellschaft in den 60er Jahren charakterisiert hatte, scheint uns auch heute die prägnanteste Diagnose für den Zustand unserer Gesellschaft zu sein. Dennoch gibt es Unterschiede. Während die Opposition Ende der 50er/ Anfang der 60er Jahre »auf technischem Wege besiegt« schien, leben wir heute vor dem Hintergrund einer politischen Niederlage der Opposition. Während die Generation von »68« unverdorben – unbelastet von der Schuld am Faschismus – in ihren Ernstnehmen der Versprechen (»nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg«) enttäuscht mit einer hohen moralischen Empörung auf diese Täuschung geantwortet hatte und ihre Sozialisation in die eigenen Hände nahm und dabei Entdeckungen machen konnte, – nicht zuletzt die Literatur, die der Faschismus zu verbrennen versucht hatte – die ihnen das Recht zu geben schien, zu zerschlagen, was sie zu zermalmen drohte, leben wir heute im »Post«-Horizont, immer noch damit beschäftigt, sich vom Erbe von 68 zu befreien:
• von seinen »radikal«-demokratischen Forderungen und Versprechungen,
• von seiner Unbedingtheit, selbst das Private politisch zu verstehen,
• von seiner Intoleranz gegenüber Unrecht, Verbrechen und Gewalt in den menschlichen Beziehungen,
• von seiner Perspektive der Befreiung durch den Perspektivenwechsel, die Umkehrung der Laufrichtung (Thomas Bernhard).
Der kulturelle Bruch von »68« kann wohl nur totalitär konterkariert, konterrevolutioniert werden. Diese Konterrevolution ist in allererster Linie das Werk der Mächte der Vorzeit, die vor »68« geherrscht hatten, ja bereits vor 45 (und noch weiter zurück). Aber sie ist auch »hausgemacht«: Ergebnis von Resignation und Wende, Umkehr der Insubordination. Das alles wissend ernst zu nehmen, verlangte »wieder ganz von vorne anzufangen« – aber im Zustand der verlorenen Unschuld (Hölderlin): »Lernen – zu leben« (Derrida). »Lernen von Las Vegas« hatten wir gesagt (Kongress Machtwirkung & Glücksversprechen), im Klartext: als Theoretiker von den Praktikern lernen, vom Subjekt: »das spricht« – die Frage ist nur: von woher? (Lacan). »Wenn er zumindest die Gerechtigkeit liebt, wird der Intellektuelle von morgen lernen müssen, zu leben, indem er lernt, sich mit dem Gespenst zu unterhalten, ihm das Wort zu lassen, und sei es auch in sich selbst, im anderen, dem anderen in sich« (Derrida 1993, S. 276).
Klaus-Jürgen Bruder, Prof. Dr. phil. habil., geb. 1941, ist Psychoanalytiker, Professor für Psychologie und erster Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP). Wichtigste Veröffentlichungen: Subjektivität und Postmoderne. Der Diskurs der Psychologie. Frankfurt (Suhrkamp) 1993; Jugend. Psychologie einer Kultur. (mit Almuth Bruder-Bezzel) München (Urban & Schwarzenberg) 1984; Psychologie ohne Bewusstsein. Die Geburt der behavioristischen Sozialtechnologie. Frankfurt (Suhrkamp) 1982; Lüge und Selbsttäuschung (mit Friedrich Voßkühler). Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2009.
Christoph Bialluch, Dr. phil. Dipl.-Psych., erfüllt Lehraufträge an Universitäten, Hoch-, Fach- und Berufsschulen, wo er Psychologie von der Altenpflege über Heil- und Sozialpädagogik bis hin zur Theaterdramaturgie unterrichtet. Sein wissenschaftliches Interesse gilt der Theorie und Geschichte der Psychologie, vor allem der Psychoanalyse und ihrer gesellschaftlichen Bezüge. Er ist zweiter Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP).
Hannes Heer
»Die Studentenbewegung« (1965 bis 1969) – Der Aufstand gegen die Nazigeneration
Die nach der Kapitulation Nazideutschlands 1945 unterbliebene Revolution wurde in Form einer politisch-kulturellen Revolte in den Jahren 1965 bis 1968 nachgeholt. Deren Träger war der »Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS)«, von dem sich die SPD 1960 nach ihrer totalen Anpassung an den restituierten Kapitalismus getrennt hatte. Die Verschärfung der politischen und gesellschaftlichen Widersprüche in der BRD durch die offen zutage tretende postnazistische Personalstruktur in Regierungs- und Beamtenapparat, die im Zeichen des Antikommunismus forcierte Aufrüstung, die Planung grundgesetzwidriger Notstandsgesetze und die aktive Unterstützung des imperialistischen Vietnamkrieges der USA führten zu einem Strategiewechsel des SDS: Statt den von Horkheimer, Adorno und Marcuse entwickelten Modellen der Theorie als »einer Gestalt von Praxis« oder der »absoluten Weigerung« als Form des Widerstands weiter zu folgen, wurde die an der Westberliner Freien Universität (FU) entwickelte antiautoritäre Praxis der bewussten »Regelverletzung« als Möglichkeit kollektiver Lernprozesse und als Mittel zum Aufbau einer Gegenmacht entdeckt. Diese Erfahrungen wurden zum Modell auch für die westdeutschen Studenten. Die Grenzen dieser radikaldemokratischen Revolte, deren Träger die im Krieg Geborenen und mit den Lügen der Nazi-Eltern Aufgewachsenen waren, zeigten sich am 2. Juni 1967 und am 11. April 1968: Der theoretisch wie praktisch erfolgte Versuch der Transformation in eine prae-revolutionäre Bewegung scheiterte.
Hannes Heer, Jg. 1941, SDS Bonn, Studium Germanistik und Geschichte, Staatsexamen und Berufsverbot 1968, Tätigkeit als Rundfunkautor, Theaterdramaturg, Dokumentarfilmer für ARD und ZDF, Ausstellungskurator (u. a. »Verbrechen der Wehrmacht«, »Verstummte Stimmen«) und Publizist.
Elke Steven
Zur Eskalation eines einwöchigen Protestgeschehens in Hamburg Anfang juli 2017 aus Anlass des Treffens der G20
Zum Treffen von G20 hat sich eine breite linke Bewegung zusammengeschlossen, um die mehr oder weniger grundsätzliche Kritik an der Politik, für die G20 steht, zum Ausdruck zu bringen. Über inhaltliche Differenzen hinweg, sollte sowohl die Kritik inhaltlich gefüllt werden – Alternativgipfel – als auch als Protest auf die Straße getragen werden. Diesem breiten Protest ist in einem rot-grün regierten Bundesland mit einer Tradition des harten polizeilichen Durchgreifens begegnet worden. Dafür steht die frühe Entscheidung für den polizeilichen Einsatzleiter, dessen Umgang mit Versammlungen von Gerichten mehrmals als rechtswidrig bewertet wurde. Von Vorneherein wurde vor gewaltbereiten Demonstrierenden gewarnt, ohne diese Befürchtung zu belegen. Eine Allgemeinverfügung machte den größten Teil der Innenstadt zu einer Demonstrationsverbotszone. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie organisierte eine Demonstrationsbeobachtung. Anders als in der ersten medialen Berichterstattung waren die Blicke der Demonstrationsbeobachter*innen auf die angekündigten Versammlungen gerichtet und nicht auf die »Ausschreitungen«, die vor allem eine Nacht prägten. Damit stand die polizeiliche Gewalt im Mittelpunkt der Wahrnehmung, die Zumutungen vom Ignorieren des Gerichtsbeschlusses auf das Recht, ein Camp zu errichten, über die gewaltsame Auflösung einer friedlichen Demonstration bis zur teilweise rücksichtslosen Gewalt gegen Gruppen und Einzelne am Tag des Zivilen Ungehorsams. Auch noch bei der Großdemonstration musste festgestellt werden, dass der Schutz des Versammlungsrechts missachtet wurde. Das polizeiliche Vorgehen legte nahe, dass Eskalation gewollt war. Ging es um die Desavouierung jedes linken Protestes und linker Kritik? Die schnellen Reaktionen und Forderungen aus der Politik könnten dies nahelegen: Linksextremismus soll mehr ins Visier genommen werden, linke Projekte sollen vermehrt geprüft werden, erst recht, wenn sie staatliche Gelder erhalten. Die öffentliche Wahrnehmung war jedoch von der medialen Berichterstattung über die Riots an einem Abend geprägt. Die bürgerliche Mitte mag zwar das die Julirevolution feiernde Gemälde von Eugène Delacroix (1831) – »Die Freiheit führt das Volk« – bewundern, etwaige Aufstände sind gegenwärtig und in unseren Städten jedoch höchst unerwünscht.
Elke Steven, Dr. phil., Soziologin, von 1994 bis 2017 Referentin im Komitee für Grundrechte und Demokratie. Schwerpunkte liegen in den Themen Demonstrationsrecht, Demonstrationsbeobachtungen, »Innere Sicherheit«, elektronische Gesundheitskarte und Gesundheitssystem. Texte zum Protest gegen G20: Geschichte der Eskalation eines einwöchigen Protestgeschehens: http://www.grundrechtekomitee.de/node/876; Auf dem Weg zur Abschaffung des Gewaltmonopols?: http://www.grundrechtekomitee.de/node/875; Ausnahmezustand – Polizeistaat – Aufstandsbekämpfungsübung?: http://www.grundrechtekomitee.de/node/873
Karl Heinz Roth
Die Große Verweigerung 1968 – und heute?
Im Zentrum von »1968« stand die Revolte gegen die entfremdete Konsumgesellschaft, gegen die autoritäre Verlogenheit der Nachkriegsdemokratien, gegen die Deformation des Marxismus zu einem Herrschaftsinstrument, und gegen die exzessive Gewalt des Neo-Kolonialismus. Sie hatte in Herbert Marcuse ihren wichtigsten Sprecher gefunden. Von ihm stammte jene Parole, die den Widerstand am stärksten beflügelte: Die Große Verweigerung als erster Schritt zu einem befreiten und selbstbestimmten Leben. Seither sind 50 Jahre vergangen. Das kapitalistische Weltsystem hat sich sozial, politisch, wirtschaftlich und mental dramatisch gewandelt. Dabei hat ´1968´ markante Spuren hinterlassen. Aber die Negation führte weder zur Transformation der menschlichen Bedürfnisse noch zur Aufhebung von Armut, Elend und entfremdeter Arbeit. Vielmehr sind die Impulse der Revolte metabolisiert worden. Sie erscheinen heute in deformierter Form wieder als Insignien eines marktradikal erneuerten Kapitalismus, der alles, was Marcuse seinerzeit brandmarkte, ins Unermessliche gesteigert hat. Das Ziel des Vortrags besteht darin, die wesentlichen Aspekte dieses konterrevolutionären Metabolisierungsprozesses aufzuzeigen: Die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse, die zum Ich-Kult vorangetriebene Kommodifizierung der Gesellschaft, die Kombination verfeinerter repressiver Toleranz mit innovativen Sozialtechniken, den autoritären Umbau der politischen Regulationssysteme – aber auch die fundamentalistisch-religiöse Instrumentalisierung des antiimperialistischen Widerstands. Es ist schwer, angesichts dieser Tendenzen die Frage nach den Perspektiven einer antisystemischen Alternative aufzuwerfen. Aber wir dürfen ihr nicht ausweichen, wenn wir an der conditio humana festhalten wollen. Hierzu sollen abschließend einige Thesen formuliert werden.
Karl Heinz Roth, Dr. med., Dr. phil, Arzt, Historiker und Publizist. Er ist im Vorstand der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Georg Rammer
Die Angst des Staates vor dem Volk Herrschaft, simulierte Demokratie und Repression
Der Staat hat in der marktkonformen Demokratie eine schwierige Aufgabe zu bewältigen: Einerseits will er das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft garantieren, andererseits den Schein demokratischer Prinzipien aufrechterhalten. Immer wieder lässt sich verfolgen, wie er diesen Widerspruch zu lösen trachtet: Bei der Durchsetzung neoliberaler Freihandelsverträge, der Ausweitung von Militäreinsätzen gegen den Willen der Bevölkerung, der Vertuschung krimineller Taten von Konzernen und Geheimdiensten oder der Förderung wachsender Ungleichheit gegen Grundsätze eines sozialen Rechtsstaates. Während an kapitalistischen Interessen orientierte Konzerne und Verbände nicht demokratisch legitimiert sind, muss der Staat formal demokratische Regeln einhalten – gleichzeitig aber dafür sorgen, dass politische Opposition oder Widerstand gegen Missachtung von Menschenrechten und gegen imperiale Herrschaft im Zaum gehalten werden. Angst des Staates vor Widerstand spielt dabei ebenso eine wichtige Rolle wie seine Strategie, in der Bevölkerung Angst und Unsicherheit zu wecken. Geradezu exemplarisch war das bei den Massenprotesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg zu beobachten. Die folgenden staatlichen Repressionsmaßnahmen fanden Zustimmung und Unterstützung bei den meinungsbildenden Medien. Angsterzeugung und die Ausschaltung von Opposition und Widerstand erleichtern hegemoniale Kriege, neokoloniale Ausbeutung und die Zerstörung der Lebensgrundlagen im globalen Süden. Sie tragen andererseits dazu bei, dass enttäuschte Menschen irrationale Scheinlösungen favorisieren: Rassismus und Gewalt gegen »Fremde« nehmen in Deutschland, der EU und weltweit zu. Wächst das Rettende auch? Welche Kraft glaubwürdige Opposition gegen neoliberale Menschenfeindlichkeit entfalten kann, ließ sich beim Erfolg von Labour-Chef Corbyn verfolgen. Aufklärung und Aktionen im Sinne außerparlamentarischer Opposition zielen auf Systemwandel. Die Aufgabe linker Dissidenz besteht darin, Verbrechen des neoliberalen, neokolonialistischen Kapitalismus zu benennen und auf demokratischen Aufbruch hinzuarbeiten.
Georg Rammer, Psychologe und Publizist. Schwerpunkte: Armut und Ungleichheit, Militarisierung, Neoliberalismus und die Folgen für Menschen und Gesellschaft, nämlich Demokratieabbau, Missachtung der Menschenrechte, Zerstörung der Lebensgrundlagen und Rassismus. Bei Attac engagiert für die Verwirklichung der Grund- und Menschenrechte in einer realen Demokratie.
Anton Perzy
Zum Problem gesellschaftlicher Kritik. Ohne organisierten Widerspruch keine Opposition
Gesellschaftspolitische Kritik und Gegenentwürfe einer gerechteren Welt werden kaum materiell – d.h. als gesellschaftliche Praxis – umgesetzt. Kritik verwandelt sich in Affirmation, bevor sie wirksam werden kann. Gesellschaftlich wirksame Kritik hingegen kann nur gegen den Diskurs der Macht entfaltet werden. Es fällt auf, dass dies kaum gelingt. Stattdessen werden kritische Positionen entweder gar nicht erst entwickelt oder aus opportunistischen Gründen bereitwillig aufgegeben und neoliberale Positionen übernommen. Wer gesellschaftlich aufsteigen will, muss sich an die herrschende Ideologie anpassen. Das scheint für die meisten verlockender zu sein als ihr zu widerstehen. Kritik an den Verhältnissen stört bloß. Das ist nicht nur in der Politik so, sondern ein allgemeines Merkmal von Arbeitsverhältnissen im Kapitalismus. Die eigene Karriere und der eigene Vorteil gehen vor, die herrschende neoliberale Ideologie ist letztlich nur opportunes Vehikel. Wer heute noch meint, dass Kritik am Kapitalismus veraltet und überholt sei, gehört zu denen, die keine andere Möglichkeit für sich sehen als es sich in diesem System einzurichten, so gut es eben geht. Ihre strukturelle Abwehr von Kritik ist konstitutiv geworden. Opposition kann daraus nicht erwachsen. Eine faire Politik kann nur funktionieren, wenn wir unsere existentiellen, konkreten Bedürfnisse verstehen und sie miteinander teilen, also vergesellschaften, und eine nicht allen Menschen in der Gesellschaft gleichermaßen gerecht werdende Politik ablehnen. Ohne einen überzeugenden Gegenentwurf, der alle Bevölkerungsschichten berücksichtigt und den Übergang aus unserem jetzigen Wirtschaftssystem in ein am Gemeinwohl orientiertes System im Detail ausformuliert, lässt sich keine Alternative anbieten und keine Mehrheit im demokratischen Bemühen erreichen. Ohne sich darauf stützenden organisierten Widerspruch gibt es keine mehrheitsfähige Opposition. Ein Kongress, der ein Gesellschaftsmodell entwickelt, das für alle funktioniert, und der diesen Übergang konzipiert, könnte einen Beitrag für die Gesellschaft leisten, der über partei- oder sonstig gebundene Zusammenhänge hinausgeht.
Anton Perzy, Dr. phil., Psychologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa-Universität Flensburg, Interesse an den psychologischen Aspekten von Entwicklung, Sozialisation und Bildung und den Zusammenhang zwischen Psychologie der Person, ihrem sozialen Handeln und Gesellschaft.
Gerhard Hanloser
»Begehren als Kraft der Subversion?«
Mit Blick auf 1968 mag es so erscheinen, als stünde die Emanzipation der Lüste und des Begehrens in einem zwingenden Verhältnis zu antikapitalistischen Kämpfen. Schließlich stand am Anfang der studentischen Bewegung in Nanterre der Kampf gegen die geschlechtliche Segregation in den Wohnheimen, der sich später mit Arbeiterkämpfen verband. Doch mit dem historischen Ende der Linken und der Schwäche antikapitalistischer Bewegungen ab den 80er und 90er Jahren stehen Kämpfe um die Emanzipation der diversen Sexualität mehr denn je unter der Fuchtel des Kapitals, womit auch eine das Kapitalverhältnis sprengen wollende Emanzipationstheorie der Lüste und Triebe, wie sie bei dem Situationisten Raoul Vaneigem anklingt oder in Herbert Marcuses »Triebstruktur und Gesellschaft« vorliegt, fragwürdig geworden ist. Herbert Marcuse versuchte Zentralbegriffe der Psychoanalyse von Freud einer Gesellschaftskritik zuzuführen. In »Triebstruktur und Gesellschaft« schrieb er, die Sexualität sei eine »wesensmäßig explosive Kraft«, die sich mit der Arbeit als »wichtigste(r) soziale(r) Manifestation des Realitätsprinzips« konfrontiert. Libidinöse Lust werde nur als zeitweiliger kontrollierter Zustand geduldet, nicht als beständiger Quell menschlichen Daseins. Heutzutage scheint in den Gesellschaften des postmodernen Kapitalismus das sexuelle Begehren nicht mehr repressiv zu sein, womit diesem kein subversives oder widerständiges Potential mehr zu kommt. Müsste der Trieb- und sexualpolitische Optimismus Marcuses verabschiedet werden?
Gerhard Hanloser ist Sozialwissenschaftler und Pädagoge aus Berlin. Seine letzte Veröffentlichung: Lektüre & Revolte. Der Textfundus der 68er – Fundamentalopposition, (2017, Münster: Unrast Verlag).
Werner Rügemer
Die Zersetzung des Antifaschismus und Anti-Kapitalismus in Europa. Wie die Siegermacht USA im 2. Weltkrieg und danach die Opposition in Deutschland und Europa infiltrierte, selektiv förderte oder zerstörte
Herbert Marcuse stellte in der »fortgeschrittenen Industriegesellschaft« die Subjektlosigkeit der Gesellschaft fest, damit auch das Verschwinden der Opposition. Auch die kapitalistischen Privateigentümer verschwanden. An deren Stelle traten namenlose Verwalter und Manager. Zwischen kapitalistischen und sozialistischen Staaten sah Marcuse nicht einmal eine relative Differenz. Er verzichtete damit auf die Analyse des konkreten Ausbeutungs- und Herrschaftsmechanismus, also der Praktiken der kapitalistischen Unternehmen, Banken, Geheimdienste, Regierungen, Stiftungen, Agenturen, Medien. Als einzig noch mögliche Opposition, sogar mit revolutionärem Potential, diagnostizierte Marcuse die »Geächteten und Außenseiter«, auch die Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen. Da diese aber kein revolutionäres Bewusstsein hätten, müssten die kritischen Intellektuellen ihnen die Theorie beibringen (Herbert Marcuse: One-Dimensional Man. Boston 1964; Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, 1967). Die kritische Theorie Marcuses erwies sich als geschichtslos, hochspekulativ und empirieresistent. Die Akteure und Praktiken für das Verschwinden der Opposition und der Alternativen untersuchte Marcuse nicht. Demgegenüber skizziert Rügemer exemplarisch, welche US-Akteure während des 2. Weltkriegs die antifaschistischen und antikapitalistischen Oppositionen in Deutschland und im besetzten Europa ausschöpften, lähmten, zersetzten, aber reaktionäre, konservative, christliche und »prowestliche« Oppositionen förderten und lenkten, dies dann auch im Nachkriegs-Europa. Rügemer wertet dazu u.a. die Veröffentlichungen und Dokumente des Wall Street-Anwalts Allen Dulles aus, der seit 1942 als Europa-Chef des US-Geheimdienstes OSS und nach dem Krieg als Chef des Nachfolgedienstes CIA agierte. Die demokratische Opposition verschwand nicht anonym in der »fortgeschrittenen Industriegesellschaft«, sondern wurde durch benennbare Akteure gezielt zersetzt – mit Folgen bis heute.
Werner Rügemer, Dr., geb. 1941, Philosoph, Publizist. Mitbegründer der aktion gegen arbeitsunrecht. Letzte Buchveröffentlichung: Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur. 2. Auflage Köln 2017 www.werner-ruegemer.de. www.arbeitsunrecht.de
Siehe auch:
Worauf bereitet der Anti-Semitismus-Diskurs uns vor?
Referat von Klaus-Jürgen Bruder beim Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP), Berlin, 9.3.2018
NRhZ 651 vom 21.03.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24678
Antisemitismus-Behauptung als Diffamierung
Das ND macht in Schweinejournalismus
Von Ulrich Gellermann (mit Leserbrief von Klaus-Jürgen Bruder)
NRhZ 651 vom 21.03.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24687
Heraus aus der Paralyse der Kritik
Video-Grußworte vom Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP), Berlin, 8.-11.3.2018
Von Christoph Bialluch und Norbert Andersch
NRhZ 651 vom 21.03.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24692
Gespräch mit dem Vorsitzenden der Neuen Gesellschaft für Psychologie NGfP am Rande der Tagung „Zur Zeit der Verleumder“
Du bist dieser Maschine nicht ausgeliefert
Klaus-Jürgen Bruder – interviewt von Anneliese Fikentscher
NRhZ 651 vom 21.03.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24693
Online-Flyer Nr. 651 vom 21.03.2018