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Literatur
Kurzgeschichte
Nur Wasser
Von Ute Bales
Der Mann musste den überdachten Vorbau an unserer Turnhalle während der Weihnachtsferien entdeckt haben, denn als im Januar die Schule wieder losging, hatte er sich dort bereits häuslich niedergelassen. Er schlief im Halbsitzen, den Schlafsack bis zum Bauch hochgezogen, als wir ihn an diesem frostigen Januarmorgen aufspürten. Ein graumelierter Bart überwucherte sein halbes Gesicht. Filzig standen die Haare vom Kopf ab. Der blauen Weste, die er trug, fehlten die Knöpfe. Die Bügel seiner Brille waren links mit Tesa, rechts mit Isolierband geflickt. Er hatte einiges Zeug um sich verstreut: Lidl-Tüten, Coladosen, Kronkorken, ein leerer Pappbecher. Irritiert fuhr er auf, gestört durch unser Glotzen und Schwätzen, raffte aus der Sitzposition zusammen was greifbar war, stopfte es zu sich in den Schlafsack und sah mit flinken, grauen Augen von einem zum anderen.
Foto: arbeiterfotografie.com
Julian trieb sofort seine Späße mit ihm, machte Anstalten, eine der Plastiktüten zu greifen, kickte mit dem Fuß nach dem Pappbecher, den er Jan zuspielte, dann Chris, dann Tim, der den Becher schließlich aufhob, ihn wieder vor dem Mann abstellte und, indem er sich nach uns Gaffenden umdrehte, sagte, dass es ein richtiges Ding sei, nachts bei dieser Kälte draußen auszuhalten, dass allenfalls Leute wie Messner, Scott oder Amundsen zu Solchem in der Lage seien und dass er es unmöglich fände, dass gerade wir, im Jahr unseres Abiturs und da wir doch gerade den Woyzeck gelesen hätten, uns so daneben benehmen könnten. Er sprach den Mann sogar an, kniete sich vor ihn hin. Der aber zog den Schlafsack bis zu den Augen und kroch noch mehr in sich zusammen. Unser Lehrer unterbrach die Sache, indem er in die Hände klatschte und uns in die Umkleidekabinen schickte.
Durch die Oberlichter beobachteten wir, wie er mit dem Mann sprach, wie der sich schließlich aus dem Schlafsack schälte, vom schützenden Eingang abrückte und sich keine fünf Meter weiter auf dem gefrorenen Rasen niederließ. Der Hausmeister eilte herbei, fuchtelte mit den Armen, stieß seinen spitzen Finger in die Luft, schrie nach dem Ordnungsamt.
Wir hingegen gingen zur Nächstenliebe über. Tim gab dem Mann seine Milchschnitte, Carina einen Schokoriegel, ich meine geschnitten Apfelstücke samt der Tupperdose meiner Mutter. Hassan überlegte, ob er ihm seine Handschuhe dalassen sollte, für die Nacht, entschied sich aber dagegen. Die Handschuhe waren fast neu, von Weihnachten, und teuer gewesen. Außerdem sei ungewiss, ob er sie wiederbekäme. Unhygienisch sei es ohnehin. Der Mann stinke nämlich.
Später, vom Klassenzimmer aus, sahen wir, wie ein paar Lehrer sich um ihn gruppierten, mit ihm sprachen. Besonders unser Kunstlehrer gab sich Mühe, telefonierte und gestikulierte, stampfte mit den Füßen, weil seine dünnen Sohlen die Kälte nicht abhielten. Dass der Mann bei dieser Schweinekälte schon von selbst gehen würde, hörten wir ihn sagen und dass man ihn als Exempel betrachten soll, integrierbar in den Unterricht, diskutierbar, zum Trainieren der Sozialkompetenz.
Am nächsten Tag war der Mann noch da, obwohl es kälter geworden war und eisige Luftwalzen aus östlicher Richtung dafür sorgten, dass wir uns nur noch dick eingemummt nach draußen trauten. Tim zog zwei Kaffee aus dem Automaten und verbrachte mit ihm die 10-Uhr-Pause. In der Freistunde lud er ihn in den Aufenthaltsraum ein, lockte mit Tee und Keksen, aber der Mann schüttelte den Kopf und blieb wo er war.
Der Hausmeister kam mit einem Uniformierten, der sich den Pass zeigen ließ, Notizen machte und kurz darauf mit zwei Kollegen dafür sorgte, dass der Mann seine Sachen packte und mit seinen Tüten in Richtung Stadt verschwand.
Am dritten Tag fanden wir ihn wieder am gleichen Platz. Die Nacht war grimmig kalt gewesen und der Mann hatte sich verändert. Er hatte Wunden an den Händen, offene Stellen, und Schorf im Gesicht, sah müde aus, und wenn ihn jemand ansprach, schlief er fast während des Sprechens ein. Einer unserer Lehrer versuchte ihn zu überreden, in ein Obdachlosenheim zu gehen, schon der Kälte wegen. Einen Platz hatte er ausgehandelt. Aber es half nichts.
Der Hausmeister schoss heran, schrie etwas von „Pack“ und „Schandfleck“, sprang mit seinem Smartphone um den Mann herum, lichtete ihn von allen Seiten ab und drohte mit der Polizei. Der Mann tat, als höre und sehe er nichts.
Dass er Maurer war, jetzt aber ein Flaschensammler geworden wäre, erzählte er uns, als wir ihn am vierten Tag frühmorgens mit heißem Tee weckten. Seit Jahren sei er schon unterwegs, landauf, landab, nächtige bevorzugt in Hauseingängen, habe über längere Zeit im Gartenhaus eines Zahnarztes gewohnt, aber es werde immer schwieriger, einen ruhigen und vor allem sicheren Platz zu finden, weil es immer mehr Leute gäbe, die auf der Straße lebten. „Sie streiten um Schlafplätze in den Sammelunterkünften“, sagte er und fügte hinzu: „Aber draußen ist es auch nicht leicht. Jetzt erfrieren wieder welche.“
Er griff nach dem Gebäck, das wir ihm hinhielten, kaute und schmatzte. Sogar der dünne Kaffee aus dem Automaten schmeckte ihm. Warum er auf der Straße sei, wollten wir wissen. Seine Antwort war ausweichend. „In Brühl hatte ich mal ne Frau und drei Kinder. Aber die hab ich ewig nicht gesehn.“ Warum er keine Wohnung habe, fragten wir. Er würde doch sicher Unterstützung bekommen. „Ohne festen Wohnsitz ist alles schwierig. Du kannst einen Tagessatz kriegen“, erklärte der Mann, „aber den musst du dir täglich beim Arbeitsamt abholen. Damit kannst du keine Wohnung mieten oder kennt ihr einen Vermieter, der sich mit ein paar Euro Bargeld als Mietanzahlung zufrieden gibt?“ Wir forschten weiter. Und die Eltern? „Mein Vater ist gestorben, als ich sechs war. Meine Mutter hat selbst nichts. Immerhin hab ich ein Postfach. Und einen Ausweis in dem OFW steht. Klingt wie ein Adelstitel, was? Ohne festen Wohnsitz“, lachte er, öffnet dabei den Reißverschluss seines Schlafsacks und hievte sein rechtes Bein heraus. „Was viel schlimmer ist“, fuhr er fort, „meine Schuhe sind durch, die Sohlen hängen runter.“ Tim warf einen prüfenden Blick auf die Schuhe. „Welche Größe? Morgen bringen wir neue.“
In der Nacht sank das Thermometer auf minus 26 Grad. Am Morgen lag der Mann nach der Seite gebeugt und seltsam gekrümmt, als wir ihm Kaffee brachten. Er sprach nicht mehr mit uns. Sein Gesicht war von Reif überzogen und violett, an Wimpern und Augenbrauen, auch in den Haaren, hingen kleine Eisklumpen. Die handschuhlosen Finger waren bläulich, taub und so starr, als könnten sie bei Berührung zerbrechen. Sein ganzer Körper war steif. Wir gerieten in Aufregung. „Schnell! Ein Arzt!“, schrie jemand. Einer von uns rannte los, um Decken zu holen, andere warfen Jacken über den Gefrorenen. Lehrer mischten sich in die Aufregung und gaben Ratschläge. Es dauerte, bis der Rettungswagen eintraf. Drei Sanitäter beugten sich über den Mann, beklopften ihm die Wangen, prüften den Puls, leuchteten in seine starren Augen. Keiner von uns sprach. Wir standen um ihn herum, sahen auf sein verzerrtes Gesicht und die brettsteifen Kleider.
Eine halbe Stunde später war der Mann fortgeschafft. Der Hausmeister fegte die Stelle, auf der er gelegen hatte. Unter seinen kräftigen Besenstrichen sammelten sich Pappbecher, Kronkorken und Zigarettenstummel.
Wir waren wie gelähmt.
Im Aufenthaltsraum saßen wir und redeten durcheinander. Bis Julian aufstand, zum Fenster ging und sich dann nach uns umdrehte: „Gestern war Training. Als wir aus der Halle kamen, war es dunkel. Da stand er am Zaun, hat seine Klamotten ausgeschüttelt und gejammert, dass der Hausmeister ihm einen Eimer Wasser über Schlafsack und Klamotten gekippt hätte. Fast geheult hat er. Und geflucht. Er wusste nicht, wie er die Sachen trocknen sollte. Wir haben gefragt, ob wir ihm helfen können. Aber er wollte nicht. Wir sind sogar noch mal zurückgegangen. Er hat nur abgewinkt. Nein, nein, hat er gesagt, die Klamotten kriegt er schon wieder trocken. Es sei doch nur Wasser, nur Wasser.“
Ute Bales ist 1961 in Borler/Eifel geboren und in Gerolstein/Eifel aufgewachsen. Sie studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Kunst in Giessen und Freiburg/ Breisgau, wo sie als Dozentin an einer privaten Wirtschaftsakademie arbeitet. Schwerpunkte ihrer schriftstellerischen Arbeit sind Romane, in denen Menschen, Geschichte und Landschaft der Eifel und des Rheinlands untrennbar verbunden sind. Diese Komponenten bilden gleichsam das Charakteristische ihres Erzählstils. Für Ute Bales liegt es auf der Hand, dass derjenige, der die eigene Geschichte zu verstehen versucht, sich selbst näher kommt. Sie hält es für wichtig, einen Sinn zu entwickeln für das Abseitige, das Ungewöhnliche und daran zu erinnern, wie arm Eifel und Rheinland waren, wie vernachlässigt, wie die Leute über Generationen belogen und ausgebeutet wurden, wie abhängig sie waren von ihren Äckern, wie chancenlos. Bekannt wurde Ute Bales besonders durch ihren Roman „Kamillenblumen“, der, in der Eifel spielend, das karge Leben einer Hausiererin in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts erzählt. In ihrem Debütroman „Der Boden dunkel“ (erscheint 2018 neu unter dem Titel „Amerika ist weit“) schildert Ute Bales die ungewöhnliche, wie verhängnisvolle Geschichte des Träumers Klaus Henkes vor dem Hintergrund eines Eifeldorfes im Kylltal nach dem Einrücken der US-amerikanischen Truppen zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Dem Roman „Peter Zirbes“ liegt die Geschichte des ersten Eifeldichters und gleichzeitig wandernden Porzellanhändlers Peter Zirbes zugrunde. Für diesen Roman erhielt Ute Bales 2010 den Sonderpreis im Wettbewerb Buch des Jahres Rheinland-Pfalz. „Unter dem großen Himmel“ (Untertitel: „Pitt Kreuzberg – Geschichte eines Unbeirrbaren“) zeichnet die Biografie des Malers Pitt Kreuzberg aus Ahrweiler nach, der sich unbeirrbar und leidenschaftlich der Kunst verschrieb. Der Roman „Großes Ey“ beschreibt das Leben und Wirken der legendären Düsseldorfer Galeristin Johanna Ey. Hintergrund des Anfang 2016 erschienenen Romans „Die Welt zerschlagen“ ist die Lebensgeschichte der Kölner DADA-Künstlerin Angelika Hoerle. Derzeit arbeitet Ute Bales an einem Roman über die NS-Rassenhygienikerin Eva Justin, die mitverantwortlich war für die Deportation tausender Sinti und Roma.
Online-Flyer Nr. 653 vom 04.04.2018
Kurzgeschichte
Nur Wasser
Von Ute Bales
Der Mann musste den überdachten Vorbau an unserer Turnhalle während der Weihnachtsferien entdeckt haben, denn als im Januar die Schule wieder losging, hatte er sich dort bereits häuslich niedergelassen. Er schlief im Halbsitzen, den Schlafsack bis zum Bauch hochgezogen, als wir ihn an diesem frostigen Januarmorgen aufspürten. Ein graumelierter Bart überwucherte sein halbes Gesicht. Filzig standen die Haare vom Kopf ab. Der blauen Weste, die er trug, fehlten die Knöpfe. Die Bügel seiner Brille waren links mit Tesa, rechts mit Isolierband geflickt. Er hatte einiges Zeug um sich verstreut: Lidl-Tüten, Coladosen, Kronkorken, ein leerer Pappbecher. Irritiert fuhr er auf, gestört durch unser Glotzen und Schwätzen, raffte aus der Sitzposition zusammen was greifbar war, stopfte es zu sich in den Schlafsack und sah mit flinken, grauen Augen von einem zum anderen.
Foto: arbeiterfotografie.com
Julian trieb sofort seine Späße mit ihm, machte Anstalten, eine der Plastiktüten zu greifen, kickte mit dem Fuß nach dem Pappbecher, den er Jan zuspielte, dann Chris, dann Tim, der den Becher schließlich aufhob, ihn wieder vor dem Mann abstellte und, indem er sich nach uns Gaffenden umdrehte, sagte, dass es ein richtiges Ding sei, nachts bei dieser Kälte draußen auszuhalten, dass allenfalls Leute wie Messner, Scott oder Amundsen zu Solchem in der Lage seien und dass er es unmöglich fände, dass gerade wir, im Jahr unseres Abiturs und da wir doch gerade den Woyzeck gelesen hätten, uns so daneben benehmen könnten. Er sprach den Mann sogar an, kniete sich vor ihn hin. Der aber zog den Schlafsack bis zu den Augen und kroch noch mehr in sich zusammen. Unser Lehrer unterbrach die Sache, indem er in die Hände klatschte und uns in die Umkleidekabinen schickte.
Durch die Oberlichter beobachteten wir, wie er mit dem Mann sprach, wie der sich schließlich aus dem Schlafsack schälte, vom schützenden Eingang abrückte und sich keine fünf Meter weiter auf dem gefrorenen Rasen niederließ. Der Hausmeister eilte herbei, fuchtelte mit den Armen, stieß seinen spitzen Finger in die Luft, schrie nach dem Ordnungsamt.
Wir hingegen gingen zur Nächstenliebe über. Tim gab dem Mann seine Milchschnitte, Carina einen Schokoriegel, ich meine geschnitten Apfelstücke samt der Tupperdose meiner Mutter. Hassan überlegte, ob er ihm seine Handschuhe dalassen sollte, für die Nacht, entschied sich aber dagegen. Die Handschuhe waren fast neu, von Weihnachten, und teuer gewesen. Außerdem sei ungewiss, ob er sie wiederbekäme. Unhygienisch sei es ohnehin. Der Mann stinke nämlich.
Später, vom Klassenzimmer aus, sahen wir, wie ein paar Lehrer sich um ihn gruppierten, mit ihm sprachen. Besonders unser Kunstlehrer gab sich Mühe, telefonierte und gestikulierte, stampfte mit den Füßen, weil seine dünnen Sohlen die Kälte nicht abhielten. Dass der Mann bei dieser Schweinekälte schon von selbst gehen würde, hörten wir ihn sagen und dass man ihn als Exempel betrachten soll, integrierbar in den Unterricht, diskutierbar, zum Trainieren der Sozialkompetenz.
Am nächsten Tag war der Mann noch da, obwohl es kälter geworden war und eisige Luftwalzen aus östlicher Richtung dafür sorgten, dass wir uns nur noch dick eingemummt nach draußen trauten. Tim zog zwei Kaffee aus dem Automaten und verbrachte mit ihm die 10-Uhr-Pause. In der Freistunde lud er ihn in den Aufenthaltsraum ein, lockte mit Tee und Keksen, aber der Mann schüttelte den Kopf und blieb wo er war.
Der Hausmeister kam mit einem Uniformierten, der sich den Pass zeigen ließ, Notizen machte und kurz darauf mit zwei Kollegen dafür sorgte, dass der Mann seine Sachen packte und mit seinen Tüten in Richtung Stadt verschwand.
Am dritten Tag fanden wir ihn wieder am gleichen Platz. Die Nacht war grimmig kalt gewesen und der Mann hatte sich verändert. Er hatte Wunden an den Händen, offene Stellen, und Schorf im Gesicht, sah müde aus, und wenn ihn jemand ansprach, schlief er fast während des Sprechens ein. Einer unserer Lehrer versuchte ihn zu überreden, in ein Obdachlosenheim zu gehen, schon der Kälte wegen. Einen Platz hatte er ausgehandelt. Aber es half nichts.
Der Hausmeister schoss heran, schrie etwas von „Pack“ und „Schandfleck“, sprang mit seinem Smartphone um den Mann herum, lichtete ihn von allen Seiten ab und drohte mit der Polizei. Der Mann tat, als höre und sehe er nichts.
Dass er Maurer war, jetzt aber ein Flaschensammler geworden wäre, erzählte er uns, als wir ihn am vierten Tag frühmorgens mit heißem Tee weckten. Seit Jahren sei er schon unterwegs, landauf, landab, nächtige bevorzugt in Hauseingängen, habe über längere Zeit im Gartenhaus eines Zahnarztes gewohnt, aber es werde immer schwieriger, einen ruhigen und vor allem sicheren Platz zu finden, weil es immer mehr Leute gäbe, die auf der Straße lebten. „Sie streiten um Schlafplätze in den Sammelunterkünften“, sagte er und fügte hinzu: „Aber draußen ist es auch nicht leicht. Jetzt erfrieren wieder welche.“
Er griff nach dem Gebäck, das wir ihm hinhielten, kaute und schmatzte. Sogar der dünne Kaffee aus dem Automaten schmeckte ihm. Warum er auf der Straße sei, wollten wir wissen. Seine Antwort war ausweichend. „In Brühl hatte ich mal ne Frau und drei Kinder. Aber die hab ich ewig nicht gesehn.“ Warum er keine Wohnung habe, fragten wir. Er würde doch sicher Unterstützung bekommen. „Ohne festen Wohnsitz ist alles schwierig. Du kannst einen Tagessatz kriegen“, erklärte der Mann, „aber den musst du dir täglich beim Arbeitsamt abholen. Damit kannst du keine Wohnung mieten oder kennt ihr einen Vermieter, der sich mit ein paar Euro Bargeld als Mietanzahlung zufrieden gibt?“ Wir forschten weiter. Und die Eltern? „Mein Vater ist gestorben, als ich sechs war. Meine Mutter hat selbst nichts. Immerhin hab ich ein Postfach. Und einen Ausweis in dem OFW steht. Klingt wie ein Adelstitel, was? Ohne festen Wohnsitz“, lachte er, öffnet dabei den Reißverschluss seines Schlafsacks und hievte sein rechtes Bein heraus. „Was viel schlimmer ist“, fuhr er fort, „meine Schuhe sind durch, die Sohlen hängen runter.“ Tim warf einen prüfenden Blick auf die Schuhe. „Welche Größe? Morgen bringen wir neue.“
In der Nacht sank das Thermometer auf minus 26 Grad. Am Morgen lag der Mann nach der Seite gebeugt und seltsam gekrümmt, als wir ihm Kaffee brachten. Er sprach nicht mehr mit uns. Sein Gesicht war von Reif überzogen und violett, an Wimpern und Augenbrauen, auch in den Haaren, hingen kleine Eisklumpen. Die handschuhlosen Finger waren bläulich, taub und so starr, als könnten sie bei Berührung zerbrechen. Sein ganzer Körper war steif. Wir gerieten in Aufregung. „Schnell! Ein Arzt!“, schrie jemand. Einer von uns rannte los, um Decken zu holen, andere warfen Jacken über den Gefrorenen. Lehrer mischten sich in die Aufregung und gaben Ratschläge. Es dauerte, bis der Rettungswagen eintraf. Drei Sanitäter beugten sich über den Mann, beklopften ihm die Wangen, prüften den Puls, leuchteten in seine starren Augen. Keiner von uns sprach. Wir standen um ihn herum, sahen auf sein verzerrtes Gesicht und die brettsteifen Kleider.
Eine halbe Stunde später war der Mann fortgeschafft. Der Hausmeister fegte die Stelle, auf der er gelegen hatte. Unter seinen kräftigen Besenstrichen sammelten sich Pappbecher, Kronkorken und Zigarettenstummel.
Wir waren wie gelähmt.
Im Aufenthaltsraum saßen wir und redeten durcheinander. Bis Julian aufstand, zum Fenster ging und sich dann nach uns umdrehte: „Gestern war Training. Als wir aus der Halle kamen, war es dunkel. Da stand er am Zaun, hat seine Klamotten ausgeschüttelt und gejammert, dass der Hausmeister ihm einen Eimer Wasser über Schlafsack und Klamotten gekippt hätte. Fast geheult hat er. Und geflucht. Er wusste nicht, wie er die Sachen trocknen sollte. Wir haben gefragt, ob wir ihm helfen können. Aber er wollte nicht. Wir sind sogar noch mal zurückgegangen. Er hat nur abgewinkt. Nein, nein, hat er gesagt, die Klamotten kriegt er schon wieder trocken. Es sei doch nur Wasser, nur Wasser.“
Ute Bales ist 1961 in Borler/Eifel geboren und in Gerolstein/Eifel aufgewachsen. Sie studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Kunst in Giessen und Freiburg/ Breisgau, wo sie als Dozentin an einer privaten Wirtschaftsakademie arbeitet. Schwerpunkte ihrer schriftstellerischen Arbeit sind Romane, in denen Menschen, Geschichte und Landschaft der Eifel und des Rheinlands untrennbar verbunden sind. Diese Komponenten bilden gleichsam das Charakteristische ihres Erzählstils. Für Ute Bales liegt es auf der Hand, dass derjenige, der die eigene Geschichte zu verstehen versucht, sich selbst näher kommt. Sie hält es für wichtig, einen Sinn zu entwickeln für das Abseitige, das Ungewöhnliche und daran zu erinnern, wie arm Eifel und Rheinland waren, wie vernachlässigt, wie die Leute über Generationen belogen und ausgebeutet wurden, wie abhängig sie waren von ihren Äckern, wie chancenlos. Bekannt wurde Ute Bales besonders durch ihren Roman „Kamillenblumen“, der, in der Eifel spielend, das karge Leben einer Hausiererin in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts erzählt. In ihrem Debütroman „Der Boden dunkel“ (erscheint 2018 neu unter dem Titel „Amerika ist weit“) schildert Ute Bales die ungewöhnliche, wie verhängnisvolle Geschichte des Träumers Klaus Henkes vor dem Hintergrund eines Eifeldorfes im Kylltal nach dem Einrücken der US-amerikanischen Truppen zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Dem Roman „Peter Zirbes“ liegt die Geschichte des ersten Eifeldichters und gleichzeitig wandernden Porzellanhändlers Peter Zirbes zugrunde. Für diesen Roman erhielt Ute Bales 2010 den Sonderpreis im Wettbewerb Buch des Jahres Rheinland-Pfalz. „Unter dem großen Himmel“ (Untertitel: „Pitt Kreuzberg – Geschichte eines Unbeirrbaren“) zeichnet die Biografie des Malers Pitt Kreuzberg aus Ahrweiler nach, der sich unbeirrbar und leidenschaftlich der Kunst verschrieb. Der Roman „Großes Ey“ beschreibt das Leben und Wirken der legendären Düsseldorfer Galeristin Johanna Ey. Hintergrund des Anfang 2016 erschienenen Romans „Die Welt zerschlagen“ ist die Lebensgeschichte der Kölner DADA-Künstlerin Angelika Hoerle. Derzeit arbeitet Ute Bales an einem Roman über die NS-Rassenhygienikerin Eva Justin, die mitverantwortlich war für die Deportation tausender Sinti und Roma.
Online-Flyer Nr. 653 vom 04.04.2018