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Inland
Rede bei der Kundgebung "Wer stoppt Israel?" am 07. April 2018 in Bonn anläßlich von Israels Karfreitagsmassaker
Die Schere in unserem Kopf
Von Verena Harwardt

Ich bin hier, um meine Solidarität mit einem Volk auszudrücken, dass gewaltsam unterdrückt wird. Ich stehe hier für Palästina. Aber ich frage mich, warum stehen meistens so wenig Menschen auf Kundgebungen, um sich mit Palästina solidarisch zu zeigen? Ich möchte heute nicht direkt über Palästina sprechen, sondern über unsere Gesellschaft und warum es uns so schwer fällt, die Angriffe Israels auf die Palästinenser als das zu sehen was sie sind – nämlich schwerste Menschenrechtsverletzungen. Warum regt sich so heftiger Widerstand in uns, warum möchten wir nicht hören, dass der Staat Israel die Palästinenser vertreibt, einschüchtert, foltert, ins Gefängnis steckt und tötet? Wir können es nicht glauben, es kann nicht sein. Es gibt drei wesentliche Einflüsse, die unser Denken und Fühlen bezüglich Israel und Palästina geprägt haben.


Verena Harwardt bei ihrer Rede (alle Fotos: arbeiterfotografie.com)

Antisemitismusvorwurf und Schuldgefühle

Der erste bedeutende Einfluss ist unsere Geschichte. Unsere Geschichte erinnert uns an Deutschlands Verbrechen im dritten Reich an den Juden. Wir fühlen eine starke Verantwortung für die Sicherheit der Juden heute, und das ist auch richtig. Wir sind mit Schuldgefühlen erzogen worden. Schuldgefühle sind immer eine gute Möglichkeit der emotionalen Erpressung, oder auch der Kontrolle von Menschen und genau so werden sie auch genutzt. Die Schlussfolgerung „Nie wieder“ ist richtig, aber sie gilt für alle Völker. Nie wieder Völkermord, das heißt auch, dass wir bei dem Völkermord an den Palästinensern nicht tatenlos zuschauen dürfen. Wir verurteilen den Völkermord an den Juden im Dritten Reich, aber wie können wir den Völkermord seit 70 Jahren an den Palästinensern ignorieren? Wie können wir so mit zweierlei Maß messen und es nicht einmal merken. Ganz einfach: weil wir emotional erpressbar sind. Sobald jemand die Politik des Staates Israels kritisiert, wird er als Antisemit diffamiert. Dann sagt keiner mehr etwas gegen die Politik Israels. Vor dieser Zuschreibung – Antisemit – haben wir große Angst. Natürlich, ich bin ein total antirassistischer Mensch und möchte nicht als Antisemit beschimpft werden, ich bin keiner! Alle Menschen sind gleichwert für mich.

Versuchen Sie doch mal zu sagen: „Ich kritisiere, dass Israel mit Waffengewalt gegen friedlich demonstrierende Menschen vorgeht“. [Sie bekommen zu hören:]
Antisemit!
Schlagen Sie doch mal vor, den israelischen Botschafter auszuweisen.
Antisemit!
Oder Sanktionen gegen Israel zu verhängen, bis Israel das Völkerrecht einhält.
Antisemit!
Keine legitimen Aussagen? Nicht wenn es um Israel geht. Bei Russland oder dem Iran sind wir ganz schnell mit den gleichen Aussagen. Wir messen mit zweierlei Maß und werden gestoppt, wenn wir auch nur ansatzweise ein kritisches Denken gegenüber Israel entwickeln.


Verena Harwardt bei ihrer Rede - "Freiheit für Palästina"

Israel: das auserwählte Volk Gottes?

Der zweite Punkt ist unsere religiöse Prägung. Ich habe die Karwoche teilweise im Kloster verbracht, bis zum Karfreitag, an dem die Demonstrationen begannen. Seit Zweitausend Jahren wird uns gepredigt, dass Israel das auserwählte Volk Gottes sei. Erst jetzt, im Alter von 40 Jahren fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Es gibt kein auserwähltes Volk. Wir sind alle gleichwert vor Gott, und sicher liebt er unsere Vielfalt, sonst hätte er uns nicht so unterschiedlich geschaffen. Sollte Gott ein Volk mehr lieben aufgrund seiner Nationalität??? Wäre das nicht rassistisch??? Tatsächlich ähnelt die Ideologie des auserwählten Volkes stark der Ideologie der Herrenrasse. Es geht in beiden Fällen um eine Erhöhung eines Volkes aufgrund von Hautfarbe oder der Nationalität und somit auch Erniedrigung anderer Völker. Auch wenn Sie vielleicht nicht religiös sind, sind Sie seit Ihrer Kindheit sicher oft genug in Kirchen gewesen und haben dort Lobpsalme für Israel gehört. Wir sind mit dieser Ideologie des auserwählten Volkes groß geworden, sie ist für viele eine nicht anzuzweifelnde Wahrheit, denn wenn es in der Bibel steht, muss es wohl auch wahr sein.

Wahrheiten, die man verinnerlicht, aufzugeben, ist sehr schwierig. Eine Wahrheit, an die man immer geglaubt hat, ist ja auch Teil der eigenen Identität. Wenn jemand dann sagt, „Israel tötet wehrlose Menschen“, dann können wir das nicht akzeptieren, denn Israel ist das auserwählte Volk Gottes, wie könnte es solche Verbrechen begehen? Doch israelische Soldaten dringen in nächtlichen Razzien in palästinensische Häuser ein und nehmen ohne Anklage Männer und Frauen, Jungen und Mädchen fest und halten diese ohne Gerichtsverfahren monatelang im Gefängnis. Checkpoints sind die Kontrollinstrumente des Staates Israel. Hier wird mit Tränengas geschossen und mit scharfer Munition. Gestern wurde ein 15jähriger in Hebron erschossen, ohne Grund, er war unbewaffnet. Letzte Woche wurde ein dreijähriger von der Polizei festgenommen, weil er mit einem Kartoffelschäler an der Ibrahimi-Moschee vorbei gelaufen ist - ein Dreijähriger!

Ich erwähne nicht die 2000 Toten aus dem letzten Gazakrieg und die 18 Toten vom Karfreitag. Das alles geschieht im Auftrag des israelischen Staates. Entscheiden Sie selber, ob das die Taten eines von Gott auserwählten Volkes sein können. Die Christlichen Kirchen aber, die seit 2000 Jahren an dem Gedanken des auserwählten Volkes festhalten und offensichtlich noch nie festgestellt haben, dass diese Ideologie rassistisch ist, sollten sich im Angesicht der von Israel Getöteten überlegen, ob sie weiter das Volk Israel loben und preisen. Meiner Meinung nach ist es Verrat an den christlichen Werten, das Leiden der Palästinenser noch zu verhöhnen, indem man ihre Peiniger lobt und preist.


Verena Harwardt bei ihrer Rede

Redefreiheit: nicht für alle

Der dritte Faktor, der uns massiv beeinflusst, sind Medien und Politik. Es wird viel diskutiert über die Glaubhaftigkeit der Medien. Wir leben in Deutschland in einer Demokratie, und es gibt Redefreiheit für jeden. Unsere Medien sind frei. Und da sind wir sehr stolz drauf. Auch das sind Glaubenssätze, die wir stark verinnerlicht haben. Wir sind stolz, in einem freien, demokratischen Land zu leben. Uns diesen Glauben zu nehmen, ist noch schlimmer als uns unsere Religion zu nehmen. Es zieht uns den Boden unter den Füßen weg. Tatsache ist, dass es nicht für alle Redefreiheit gibt. Wer für die Freiheit Palästinas sprechen will, wird oft daran gehindert. Selbst jüdische Kritiker des Israelischen Staates werden in Deutschland mundtot gemacht, indem ihre Veranstaltungen in letzter Minute abgesagt werden. Was die Medien aus den Vorfällen in Palästina/Israel machen, ist auch haarsträubend, und bitte beobachten Sie sich selbst, wie Sie dieser Berichterstattung immer wieder auf den Leim gegangen sind.

Es werden 18 unbewaffnete Palästinenser von Israel getötet und wir diskutieren über die Umweltverschmutzung durch die Reifen, die Palästinenser angezündet haben. Jetzt ernsthaft???? Wie zynisch ist das? Die Reifen werden angezündet, damit die Soldaten eine schlechtere Sicht haben, wenn sie auf Palästinenser schießen. Das ist gewaltfreier Widerstand! Es ist wirklich beeindruckend, wie die Palästinenser immer noch gewaltfrei demonstrieren, obwohl sie Waffen benutzen könnten. Wurde das schon mal in unseren Medien erwähnt??? Würden Sie sich der Gewalt Israels gewaltfrei aussetzen, oder würden Sie zurückschießen?


"Boykottiert israelische Besatzung (bds-kampagne.de) - BDS: Boykott, Investionsstopp (divestment), Sanktionen"

Verrat an Demokratie und Menschlichkeit

Auch als Jerusalem von den USA als Hauptstadt Israels anerkannt wurde, haben unsere Medien und Politiker nicht darüber diskutiert, dass das Land illegal besetzt wird (wie schon seit Jahrzehnten). Wir haben uns nicht aufgeregt, dass palästinensische Familien wieder mit Gewalt aus ihren Häusern vertrieben werden, damit jüdische Einwanderer, die gerade erst ins Land gekommen sind, deren Häuser und Land übernehmen. Wir waren nicht empört, dass diesen Familien ohne Recht alles genommen wird. Dass einem Volk seine Hauptstadt und seine Heiligtümer geraubt werden. Wir waren empört, weil eine Israelfahne in Deutschland verbrannt wurde.

Wo ist die Relation? Was bewerten wir als schlimm, und was ignorieren wir? Das, was die Medien uns präsentieren als empörenswert, empört uns. Und was sie uns verschweigen, das möchten wir oft auch gar nicht sehen. Wenn wir aber schweigen, wenn friedlich Demonstrierende mit Panzern und Schusswaffen getötet und verletzt werden, dann verraten wir auch die Werte unserer Demokratie. Wenn wir immer schweigen, wenn Palästinenser entrechtet, unterdrückt und ermordet werden, verraten wir auch die Werte der Menschlichkeit.


Siehe auch:


GRUSS an die Leserinnen und Zuschauer der Neuen Rheinischen Zeitung
Aktiv werden und solidarisieren
Von Gertrud Nehls, George Rashmawi und Wojna
NRhZ 654 vom 11.04.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24764

Fotogalerie
Kundgebung "Wer stoppt Israel?" am 7. April 2018 in Bonn
Israels Massakern ein Ende setzen!
Von Arbeiterfotografie
NRhZ 654 vom 11.04.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24763

Online-Flyer Nr. 654  vom 11.04.2018



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