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Literatur
Tanjev Schultz: „Der Terror von rechts und das Versagen des Staates“
...und unterm Teppich bleibt der Dreck
Buchbesprechung von Harry Popow

„Das Gericht sei fleißig gewesen wie Bienen, aber es habe keinen Honig produziert.“ „Der NSU-Prozess erinnere sie an einen oberflächlichen Hausputz. Um gründlich zu reinigen, müsste man die Teppiche anheben, unter die so vieles gekehrt worden sei.“ „Es sind ihre Worte, die hoffentlich auch von der Gesellschaft als Mahnung und Verpflichtung verstanden werden, gegen Rechtsextremismus und Rassismus einzutreten und ihre Ausbreitung zu verhindern.“ Diese anklagenden Worte von Nebenklägern sowie der Kommentar dazu als Schlussfolgerung findet der Leser auf den Seiten 416, 421 und 422 des 555-seitigen Sachbuches mit dem Titel „NSU – Der Terror von rechts und das Versagen des Staates“ von Tanjev Schultz.

Bei dieser Buchbesprechung muss man nicht darauf hinweisen, dass es sich um 10 Morde, 15 Raubüberfälle und drei Sprengstoff-Anschläge handelt, die ein Trio verübt haben soll: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Verdächtigt wurden Ausländer, aber die Täter waren Ausländerhasser. 500 Zeugen, 50 Sachverständige, fast 100 Nebenkläger und 14 Verteidiger waren am Ball, doch Tore wurden nicht geschossen. Auf Seite 10 heißt es: „Die individuelle Schuld von Beate Zschäpe und vier Mitangeklagten ist die eine Seite, das kollektive Scheitern der Gesellschaft und des Staates die andere.“

Die brennende Frage aller Fragen liegt auf der Hand: Schafft es der 1974 geborene Autor - er ist Professor für Journalismus an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz - sie grundsätzlich zu beantworten? Zumal die Ereignisse in Chemnitz einen unerhörten und dringend nötigen Schub für die politische Aufklärung gegeben haben?

Ein Meer von Pannen

Was der Autor in diesem wie einen ganz harten Krimi zu lesenden Wälzer zusammengetragen hat, ist trotz der zahllosen Pannen, Inkompetenzen, Kompetenzgerangeln und Vertuschungen bewundernswert. Die Story reicht vom Untertauchen des Neonazi-Trios Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe im Jahr 1998 bis zu seinem eher zufälligen Auffliegen im Jahr 2011.

Einige Stichworte mögen genügen, um diesen echten oder auch angeblichen Knäuel zu charakterisieren. Von fatalen Fehlern, vom Desaster, vom Verdacht gezielter Sabotage, von dilettantischen Ermittlern, von Ignoranz und Skepsis, vom Verdrängen des Neonazi-Problems ist die Rede. Auch von Ausländerhass und Rivalitäten zwischen Polizei, Geheimdiensten und Justiz. Mehr noch: Das Trio sei nur eine kleine Zelle, die ohne Strategie arbeite, einige wollen alles im Kleinen halten und meinen sogar, von einem „Feierabendterrorismus“ sprechen zu können.

Auf den Seiten 256/257 erinnert der Autor an die „Rechte Armee Fraktion“, die sehr wohl Thema bei den militanten Neonazis gewesen war, doch in den Behörden hielt man dies für extreme Träumerei. Wörtlich: „Der Rechtsextremismus wurde verwaltet.“ „Die Regierung sah in Neonazis keine allzu große Bedrohung mehr.“

Schließlich werden einige Gründe aufgeführt, sprich Ausreden, weshalb es angeblich zum Versagen der Behörden gekommen war: Der Autor nennt die Arbeitsteilung, bei der zu viele im Einsatz waren, als eine Ursache. Man stützte sich vor allem nur auf organisierte Kriminalität. Als fraglich sieht er zum Beispiel den Föderalismus an. Auch sei die BRD kein Polizeistaat (S. 435). In einer arbeitsteiligen Gesellschaft sei es nicht verwunderlich, dass es viele Fehlerquellen gebe. Bereits auf der nächsten Seite gesteht er unumwunden ein, dass es Rassismus in den Behörden gibt. Dies sei aber kein Beweis „für eine bewusste staatliche Kumpanei mit dem NSU.“ Aber vielleicht gibt es andere Beweise? Wäre doch schön, könnte man die Leute von der Linken ein wenig ablenken von drängenden sozialen Alltagsfragen. Auch vom Kriegsgebaren in der Welt. Auch von Sorgen. Und davon überzeugen, es sei mehr Überwachung dringend geboten. Man wird sehen...

Der Hase im Pfeffer

Die Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten bei den deutschen Sicherheitsbehörden führt der Autor auf die unrühmliche Tradition nach der Zeit des Nationalsozialismus zurück, die „keineswegs“ beendet sei. (S. 324) So glaubte man, nicht an einen rechten Terrorismus, sondern - „wie bei der Ceská-Serie – an eine ausländische Bande“.

Hier liegt bei der Suche nach der tieferen Ursache der Hase im Pfeffer. Tanjev Schultz verweist auf Seite 105 auf die Nachkriegszeit. Er prangert an, dass nach dem Zweiten Weltkrieg Polizei und Geheimdienst in der BRD von braunen Beamten durchsetzt war und Kommunisten mit Härte behandelt wurden. Das hänge mit dem historischen Erbe und „einem fehlenden Mentalitätswandel“ zusammen. „Ursprünglich wollten die Siegermächte verhindern, dass die alten Geister ausgerechnet im Sicherheitsapparat weiter herumspuken konnten. Doch in den Zeiten des Kalten Krieges sahen es die Amerikaner bald nicht mehr so eng.“

Fehlender Mentalitätswandel? Das ist wohl sehr leicht danebengegriffen. Die Befreiung vom Faschismus 1945 war das eine. Dann kam das, was am dringendsten nottat: Das Umpflügen des Ackers, auf dem erneut kapitalistische Eigentumsverhältnissen und somit neue Gefahren für das Leben von Millionen Menschen in Deutschland und in der Welt sprießen würden. In der Sowjetischen Besatzungszone wurden die Könige der Wirtschaft und eigentlichen Verursacher am Zweiten Weltkrieg enteignet. Das war auch in den Augen der heutigen Kapitaleliten das eigentlich schwerste Verbrechen. Die am Krieg verdienenden sollten verschont bleiben? Der Arbeiter-und-Bauern-Staat war da anderer Meinung, mit Recht.

Im Westen Deutschlands wurde diese Chance verpasst. Gewollt im Interesse der Kapitalherrschaft. Die Mittel dazu: Marshallplan, Währungsunion und eine bürgerliche Gesetzgebung, die der Speerspitze gegenüber „der roten Gefahr“ den nötigen wirtschaftlichen starken Boden und eine satte Bürgerschaft sicherte. Und das alles unter dem Schutz und der Obhut der Westalliierten.

Tanjev Schultz versucht auf Seite 106 – in Außerachtlassung der grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnisse in der BRD – dennoch eine Ursachenfindung: „Im Fall des NSU fehlte eine koordinierende Kraft. Noch mehr fehlte allerdings die analytische Kompetenz, um die Neonazi-Szene zu durchdringen.“ Er stellt sich im gesamten Buch schützend vor den Rechtsstaat. Er weist Thesen von Verschwörungstheoretikern zurück, wonach „der NSU eine Erfindung des Staates“ sei. (S. 124) Bereits auf Seite 12 frohlockt der Autor, dass es keine Belege dafür gebe, „dass es mit Absicht geschah und eine schützende Hand des Staates den NSU gezielt abschirmte“. So lässt sich dann die folgende Feststellung nicht ohne Entsetzen gut verstehen: „Der Kampf gegen den Rechtsextremismus erschien bald auch nicht mehr als vordringlich.“ Einige Zeilen weiter: „Die Regierung sah in Neonazis keine allzu große Bedrohung mehr“. (S. 257)

Und nun besinnt sich Tanjev Schultz als Vertreter der bürgerlichen Ideologie plötzlich auf Seiten des nach wie vor praktizierten Antikommunismus. Den Feinden der Demokratie dürfe nicht gestattet sein – bezugnehmend auf den NSU -, „die Freiheit und den Rechtsstaat auszuhöhlen.“ Auch könne man die Mängel in der BRD nicht mit der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in der DDR „verrühren“. (S. 436) Wer in seiner Kritik überziehe und „suggeriert, der Staat sei ein Komplize oder gar der Drahtzieher des Terrors, untergräbt auf seine Weise die Ordnung der Freiheit.“ (S. 435) Seite 436: Man dürfe „nicht leichtfertig die Unterschiede verwischen, die es zwischen den Verhältnissen in der Bundesrepublik und in den vielen Unrechtsstaaten dieser Welt gibt, in denen nicht einmal öffentliche Kritik an den Sicherheitsorganen erlaubt wäre“.

Auf der Seite 445 folgt der nunmehr fast letzte Satz über die ungenügende Aufdeckung der von den Nebenklägern erhofften Aufklärung über die Ursachen der NSU-Morde: „Der rechte Terror ist und bleibt eine konkrete Bedrohung.“

Dieses Buch mit über 500 Seiten über den Nationalsozialistischen Untergrund ist eine offensichtlich in Szene gesetzte Konstruktion und dient ausschließlich – angesichts zunehmender innerer und äußerer Widersprüche – der Verfestigung des deutschen und internationalen Imperialismus. So werden immer wieder Feinde an die Wand gemalt und Kriege vorbereitet. Die Überwachung nimmt zu. Und jene Medienschlacht, die Dummheit befördert.

Die Anfangs angstvoll gestellten Fragen der Nebenkläger in diesem gigantischen Prozess ohne Ergebnisse und ohne nennenswerten Tiefgang bleiben unbeantwortet. Im Gegenteil, es ist noch mehr Dreck unter den Teppich gekehrt worden.

Nachtrag

Nicht die Unfähigkeit selbst ist die Ursache der zahlreichen Pannen in der Aufdeckung der Gewalttaten, sondern die „ideologischen Scheuklappen innerhalb der Sicherheitsorgane“, so Dr. Rolf Gössner in seinem Buch „Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates“. Man folge alten Feindbildern, wie dem Linksextremismus, dem Ausländerextremismus und dem Islamismus. Man ignoriere die Tatsache, „dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit weit hinein in die Mitte der Gesellschaft reichen“, (S. 33) meint der Autor. Zum Kern der Ursachen des Versagens des Geheimdienstes trifft er auf Seite 46 seines Buches von 2003 folgende Feststellung: Der VS sei ein Kind des Kalten Krieges zur Absicherung des westdeutschen „Bollwerkes gegen den Kommunismus“. So erhielt der VS seine streng antisozialistische Ausrichtung bereits mit ehemaligen Nazis an der Führungsspitze. (S. 48) Im Kampf gegen „Linksextremismus“ sei die neonazistische Gefahr jahrzehntelang vernachlässigt worden. Nach dem Kalten Krieg – keine Gedanken daran, die Geheimorganisationen in Frage zu stellen.


Tanjev Schultz: „Der Terror von rechts und das Versagen des Staates“



Gebundene Ausgabe, 576 Seiten, Verlag: Droemer HC (20. August 2018), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3426276283, ISBN-13: 978-3426276280, Größe: 15,6 x 4,5 x 22,2 cm, Preis: 26,99 Euro

Online-Flyer Nr. 676  vom 03.10.2018



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