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Aktueller Online-Flyer vom 21. Dezember 2024  

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Literatur
Aus dem Roman "Alle Wünsche werden erfüllt" (3)
Brustkrebs – Eine Krankheit von Karrierefrauen?
Von Renate Schoof

Brustkrebs ist die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Derzeit erkrankt eine von acht Frauen im Laufe ihres Lebens daran – so die Deutsche Krebshilfe. Die Aussage der alleinerziehenden Mutter Raphaela: „Bemerkenswert finde ich, dass in der DDR seltener Frauen an Brustkrebs erkrankten“, löst in Renate Schoofs Roman „Alle Wünsche werden erfüllt“ eine hitzige Debatte aus. Beim Frühstück in der Rehaklinik geht es um mögliche Ursachen für Krebs, um eine krankmachende Gesellschaft, in der kanzerogene Stoffe zum Alltag gehören und um den missbrauchten Begriff „Eigenverantwortung“. (1)(2)(3)


Am Samstagmorgen kommt Josephin nicht zum Frühstück. „Ich glaube, sie hat Besuch“, erklärt Amelie den leeren Platz und träumt beim Essen aus dem Fenster, beteiligt sich nicht am Gespräch, obwohl das Thema sie interessiert. Udo wirft die Frage auf, warum gerade in Industriegesellschaften bei immer mehr Frauen Brustkrebs diagnostiziert wird.

„Bemerkenswert finde ich, dass in der DDR weitaus seltener Frauen an Brustkrebs erkrankten“, sagt Raphaela. „Das ist statistisch nachgewiesen.“ Weil Udo sie erstaunt anschaut, erklärt sie: „Jung ein Kind zu bekommen und es lange zu stillen, soll die Mutter davor schützen. Und bei uns war es üblich, früh eine Familie zu gründen. Meine Mutter zum Beispiel heiratete mit neunzehn, kurz vor der Geburt meiner Schwester. Drei Jahre später kam mein Bruder zur Welt, und als ich ein Jahr vor dem Mauerfall geboren wurde, hatte meine Mutter gerade ihren siebenundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.“ Nach einem kurzen Lachen, das wehmütig klingt, sagt sie: „Ohne die Wende hätte ich sicherlich auch noch jüngere Geschwister.“

„Frühe Mutterschaft und langes Stillen sind in der Tat die besten Vorbeugemaßnahmen“, pflichtet Udo ihr bei. „Darüber habe ich gelesen. Solche Mütter werden dafür belohnt, dass sie die Rolle annehmen, die ihnen die Natur zugedacht hat. Wenn eine denkt, sie kann erst mal Karriere machen, erhöht sie ihr Risiko. Auch bei kinderlosen Frauen ...“

Raphaela unterbricht ihn: „Welche denkende Frau traut sich denn heute noch, früh Mutter zu werden? In der DDR war das kein Problem, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine Selbstverständlichkeit“, stellt sie klar. „Während der Babypausen von jeweils einem Jahr behielt meine Mutter ihren Arbeitsplatz, ihr Einkommen und ihren Rentenanspruch. Zudem gab es für jedes Kind einen Krippenplatz.“ Gereizt fragt sie: „Wissen Sie eigentlich, wie hoch das Armutsrisiko für Familien mit mehreren Kindern ist, gar nicht zu reden von dem für Alleinerziehende?“ Ohne Udos Reaktion abzuwarten, fährt sie aufgebracht fort: „Und die Mütter waren in der DDR nicht vom Vater der Kinder abhängig, sie mussten sich nicht erniedrigen, damit er sie und die Kinder finanziell absichert. Sie ahnen gar nicht, wie von innen her selbstbewusst Frauen wie meine Mutter bis heute sind.“

„Fressen Sie mich nicht gleich auf“, versucht Udo sie mit scherzhaft erhobenen Händen zu beruhigen.

Doch Raphaela ist nicht mehr zu bremsen. „Sie sind ja nicht der Erste, der Frauen, die sich im Beruf verwirklichen und eigenes Geld verdienen, die Verantwortung für ihre Krankheit aufbürdet. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, welch eine grandiose Entlastung das für all diejenigen ist, die unsere Nahrung, das Trinkwasser und die Atemluft mit krebserregenden Stoffen verseuchen? In jeder noch so harmlos duftenden Hautcreme müssen wir kanzerogene Substanzen vermuten.“

Sie hat recht, überlegt Amelie. Es ist bequem für die Macher in Politik und Wirtschaft, den Kranken die Schuld für ihre Krankheit zuzuschieben. Und es sind die gleichen Mechanismen, die dazu führen, dass unsere Umwelt mit krebserregenden Stoffen verseucht ist, und die verhindern, dass sich Paare trauen, zeitig Eltern zu werden. Kinder sind in den sogenannten westlichen Wertegemeinschaften ein finanzielles Risiko. Während Udo sich über egoistische Karrierefrauen und Rabenmütter auslässt, freut sich Amelie, eine ganz neue Seite von Raphaela kennenzulernen, die gut informiert dagegenhält.

„Schon vor Jahren wurden mehr als hundertvierzig Chemikalien identifiziert, die eine Rolle bei der Verursachung von Brustkrebs spielen“, erklärt sie. „Doch statt konsequent zu forschen und solche Stoffe zu verbieten, werden immer ausgeklügeltere Chemotherapien auf den Markt gebracht. Teure Heilungsversprechen ersetzen die Ursachenbekämpfung. Mit der Strahlung ist es das gleiche. Strahlung, auch die Röntgenstrahlen bei der Mammografie, schaden dem Gewebe. Und was hilft, wenn es zerstört ist? Natürlich Bestrahlung. Es gibt inzwischen eine regelrechte ‚Brustkrebsindustrie‘!“ Ruhiger werdend, fügt sie hinzu: „Würde so viel Geld für die Vermeidung der Ursachen ausgegeben wie für Therapieangebote, würde uns und unseren Kindern viel Leid erspart.“ Sie wendet sich wieder ihrem Müsli zu.

Genau so ist es, denkt Amelie. Der Teufel wird mit dem Beelzebub ausgetrieben. Statt dem Körper weniger Schadstoffe zuzumuten, versucht man ihn mit Chemie und Physik zu heilen. Als Raphaela sprach, ist ihr vieles durch den Kopf gegangen, etwa der Missbrauch des Begriffes Eigenverantwortung. Politik und Wirtschaft erzeugen Ungleichgewichte, das weiß jeder. Sie machen das Leben zum Kampf. Gute Noten, gute Arbeitsplätze, Wohnraum, die würdevolle Behandlung bei Krankheit und im Alter – alles Lebensgrundlagen, die erkämpft werden müssen. Und wenn etwas schiefläuft, ist der Einzelne verantwortlich. Solidarität war gestern, beim Strampeln in der Wettbewerbsgesellschaft ist jeder sich selbst der Nächste.

Es kann eben doch nicht jeder wählen zwischen seinem bisherigen Leben und einem geeigneteren, das ist ihr schon lange bewusst. Als Lehrerin hat sie in zu viele Familien hineingesehen, um zu glauben, dass das so einfach wäre. Klar, die Mami oder der Papi können abhauen und sich selbst verwirklichen, wenn ihnen alles zu viel wird, wenn sie sich das Leben in Deutschland oder das Leben mit Kindern anders vorgestellt haben, wenn der Job oder die Arbeitslosigkeit unerträglich wird. Jeder hat die Freiheit, auf der Straße zu schlafen.

Raphaelas Wutausbruch hat die Luft bereinigt. Endlich hat mal jemand Udo, dessen Machohaltung sie immer weniger erträgt, Paroli geboten. Sie nimmt sich vor, in den wenigen Tagen, die sie noch da ist, doch einmal mit den Frauen spazieren zu gehen. Anscheinend sind die Gespräche, die dort geführt werden, nicht so oberflächlich, wie sie befürchtet hat. Ein Mutter-und-Kind-Bild fehlt noch in ihren Plänen für Frauenporträts. Und wohnt Raphaela nicht in der Nähe von B.? Sie könnten Adressen tauschen, um Kontakt zu halten.

Draußen lockt die Sonne. Ein guter Tag, um die Burg zu besichtigen und einen Cappuccino lang in der Burgschänke zu sitzen, denkt sie, trinkt ihren Tee aus und verabschiedet sich früher als sonst aus der Runde.


Renate Schoof: Alle Wünsche werden erfüllt



Klappenbroschur, 275 Seiten, 16.90 Euro
Zeitgeist Verlag, Höhr-Grenzhausen 2018

Mitten im Leben neu beginnen. Raus aus dem überfordernden Alltag und der zu eng gewordenen Partnerschaft. Endlich Luft zum Atmen und Träumen, endlich Platz für Wünsche. Amelie lebt nun in einer Stadt für Anfänge und überraschende Begegnungen. Sie genießt es, unterwegs zu sein, zu malen – und sich zu verlieben. Der Verdacht, an Krebs erkrankt zu sein, verändert alles: Amelie gerät in einen Irrgarten aus Angst und Hoffnung. Doch da ist auch das Bedürfnis, dem inneren Kompass zu folgen. Ein Roman über die Kunst, die Liebe und die Krankheit.


Renate Schoof lebt als freie Schriftstellerin in Göttingen. Nach einer Ausbildung im Buchhandel arbeitete sie als Dokumentarin bei der Deutschen Presse-Agentur in Hamburg; anschließend studierte sie Pädagogik und Germanistik und war neun Jahre als Lehrerin tätig. Von ihr erschienen bisher mehr als zwanzig Bücher, u. a. die Romane „Blauer Oktober“ und „Alle Wünsche werden erfüllt“, der Erzählungsband „In ganz naher Ferne“, das Sachbuch „Geheimnisse des Christentums – Vom verborgenen Wissen alter Bilder“ sowie die Kinder- und Jugendromane „W + M = Liebe?“ und „Wiedersehen in Berlin“. Weitere Informationen: www.renateschoof.de


Fußnoten:

1 Besprechung des Romans "Alle Wünsche werden erfüllt" von Renate Schoof
Von Beate Grazianski
NRhZ 651 vom 21.03.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24694

2 Weiterer Auszug aus dem Roman "Alle Wünsche werden erfüllt" (1)
Geisterbahn Schule
NRhZ 672 vom 05.09.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25173

3 Weiterer Auszug aus dem Roman "Alle Wünsche werden erfüllt" (2)
Sprayen (und fotografieren) als Gesellschaftskritik
NRhZ 674 vom 19.09.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25233

Online-Flyer Nr. 679  vom 24.10.2018



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