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Arbeit und Soziales
Bei der großen Bettelrazzia im September 1933 halfen auch Presse und Wohlfahrtsverbände tüchtig mit
Gemeinsam gegen Schwächste
Von Harald Schauff
In den letzten Monaten gab es historisch einiges zu gedenken: 100 Jahre Ende des I. Weltkrieges, Novemberrevolution, Abdankung des Kaisers und Entstehung der Weimarer Republik. Dazu: 80 Jahre Reichskristallnacht und November Pogrome 1938, der bis dahin unrühmliche Höhepunkt der gezielten Verfolgung jüdischer Menschen im Dritten Reich, welche mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 beginnt. Bereits 1933 gerät auch eine andere Bevölkerungsgruppe ins Visier der NS-Häscher: Bettler. Sie werden als ‘asozial’ eingestuft, als Makel am ‘Volkskörper’ und lästige Konkurrenz für Organisationen, die Spenden sammeln, empfunden. Mitte Juli 1933 schreibt das frisch gegründete Propagandaministerium dem Reichsinnenministerium. Es geht um eine ‘umfassende Bekämpfung des Bettelunwesens.’
Man sieht in bettelnden Menschen eine unerwünschte, bedrohliche Konkurrenz für die Spendensammelaktionen des geplanten Winterhilfswerks 1933/34. Die ‘Bekämpfung des übermäßig angefür ein Gelingen der Winterhilfe’. Man sorgt sich, dass die ‘leistungsfähigsten und gebefreudigsten Bevölkerungskreise’ weniger zur offiziell organisierten Winterhilfe beitragen. Denn sie würden ‘derart stark belastet’ von ‘den unwürdigsten Elementen, zum Teil ganz wohl situierten berufsmäßigen Bettlern’.
Um gegen diese ‘unwürdigsten Elemente’ vorzugehen, empfiehlt das Propagandaministerium die Durchführung einer einheitlichen, reichsweiten Bettlerrazzia. Dabei sollen Polizeikräfte ‘schlagartig in einer bestimmten Zeitspanne mit ganzem Aufgebot sämtliche bettelnde Personen’ anhalten. Stattfinden solle die ‘Aktion’ in der zweiten Septemberhälfte, rechtzeitig vor der Anfang Oktober einsetzenden Propagandakampagne für das Winterhilfswerk, die das Motto trug:’Keiner soll hungern, keiner soll frieren’ (Informationen: Wolfgang Ayaß - ‘Wohnungslose im Nationalsozialismus’; Begleitheft zur Wanderausstellung der BAG Wohnungslosenhilfe e.V.).
August 1933 werden bereits die Wohlfahrtsverbände über die geplante Razzia informiert. Darunter: Der Caritas-Verband und der ‘Zentralausschuss für Innere Mission’. Die Verbände sollen mitwirken und über die Auswirkungen der Razzia Bericht erstatten. Auch die Wohnungslosenhilfe, damals hieß sie ‘Wandererfürsorge’, beteiligt sich. Einer ihrer führenden Funktionäre, der Chef der ‘Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg’, Karl Mailänder, wird am 25. August über die geplante Verhaftungswelle in Kenntnis gesetzt. Er antwortet umgehend, seine Organisation begrüße es ‘lebhaft, dass nunmehr gegen den gewerbsmäßigen Bettel strenger wie bisher vorgegangen werden soll’. Er schlägt vor, sich im vorhinein zu besprechen, ‘um ein erfolgreiches Zusammengehen von Polizei, öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege und der Presse sicherzustellen.’
Am 18. September 1933 beginnt die Razzia. Bis zum 25. September durchkämmt die Polizei Herbergen, Nachtasyle und bekannte Treffpunkte. Mehrere zehntausend Wohnungslose werden verhaftet, in Württemberg allein fast 5000, in Hamburg 1400. Die Tagespresse berichtet umfangreich über die Aktion. Durchgängig auf taucht der Stereotyp des angeblich wohlhabenden Bettlers, dem es besser gehe als ‘anständigen Arbeitern’.
Das ‘Hamburger Fremdenblatt’ spricht Bettlern die ‘existenzielle Not’ ab. Die Bettelei sei ein ‘organisiertes, profitträchtiges Gewerbe’, das den Bettlern höhere Einkünfte bringe als Arbeitern, Fürsorgeempfängern sowieso. Angeblich hätten ‘einzelne gerissene Bettler’ mit Handwagen oder sogar Pferdefuhrwerken Lebensmittel erbettelt, um diese in der nächsten Stadt zu verkaufen.
Bereits einige Wochen früher liefert der ‘Völkische Beobachter’ die Schlagzeile ‘Niemand muss betteln’. Darunter heißt es, die öffentliche Fürsorge habe fest gestellt, ’dass der größte Prozentsatz der Bettler . . . gar nicht hilfsbedürftig ist, sondern sich aus den Schichten zusammensetzt, der die Not eines großen Volksteils für sich auszunutzen versteht.’ Die angeblich fehlende Bedürftigkeit bzw. der angeblich versteckte Wohlstand von Bettlern zieht sich als roter Faden durch die gesamte Pressekampagne. Reichsweit gibt es Schlagzeilen über aufgegriffene Bettler, bei denen angeblich Tausende von Reichsmark gefunden wurden, welche nebenher Sozialleistungen beziehen oder sogar Häuser besitzen sollen.
Auch das Klischee vom falschen blinden Bettler wird eifrig bemüht. Die Berliner Börsenzeitung berichtet am 27. September über den angeblichen Fall eines stark kurzsichtigen Mannes, der sich von einer befreundeten Familie ein Kind ausgeliehen haben soll. Mit diesem sei er als ‘Blinder’ auf gemeinsame Betteltour gegangen.
Weit verbreitet ist zu Ende der Weimarer Republik das Bild einer mafia-ähnlichen Organisation falscher Bettler. Es taucht in Bertolt Brechts ‘Dreigroschenoper’ auf so wie in Fritz Langs Kinofilm ‘M. Eine Stadt sucht ihren Mörder’.
Die bei der Razzia Aufgegriffenen bleiben bis zu sechs Wochen inhaftiert. Rechtsgrundlage ist $ 361 des Strafgesetzbuches, wonach Bettelei und Landstreicherei seit 1871 als Straftaten gelten. Da das Fassungsvermögen der vorhandenen Haftanstalten nicht für alle fest genommenen Bettler ausreicht, werden vorübergehend spezielle Bettlerhaftlager eingerichtet. Ein derartiges Lager wird von der Tagespresse als ‘das erste Konzentrationslager für Bettler’ betitelt.
Nach Verbüßung der eher kurzen Haftstrafe werden einige Tausend der Verhafteten für bis zu zwei Jahre in Arbeitshäuser eingewiesen. Zur ‘korrektionellen Nachbehandlung’ gemäß § 362 Strafgesetzbuch. Arbeitshäuser gibt es auch noch in der Bundesrepublik. Erst Ende der 60er Jahre werden die letzten geschlossen. Und erst 1973 werden Bettelei und Landstreicherei als Straftatbestände gestrichen.
1938, im Jahr der November-Pogrome, gibt es eine weitere Großaktion gegen Bettler, Landstreicher, Wohnungslose und andere ‘Asoziale’. Sie trägt die Bezeichnung ‘Arbeitsscheu Reich’. April und Juni 1933 führen Gestapo und Kriminalpolizei eine Razzia gegen sog. ‘Arbeitsscheue’ durch. Dabei werden über 10.000 Männer fest genommen und in Konzentrationslager verschleppt.
Ob Staatsorgane, Justiz, Polizei, Presse oder Gesellschaft: Alle spielen damals mit, um der Menschenverachtung den Weg zu ebnen. Am Ende stehen Millionen Opfer gezielter Vernichtung: Juden, Sinti und Roma, Andersdenkende, Homosexuelle, Wohnungslose und alle übrigen als ‘asozial’ Gebrandmarkten. Zu allem Überfluss werden letztere von der Nachkriegsgesellschaft nicht als Opfer anerkannt.
Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe Dezember 2018, erschienen.
Online-Flyer Nr. 685 vom 05.12.2018
Bei der großen Bettelrazzia im September 1933 halfen auch Presse und Wohlfahrtsverbände tüchtig mit
Gemeinsam gegen Schwächste
Von Harald Schauff
In den letzten Monaten gab es historisch einiges zu gedenken: 100 Jahre Ende des I. Weltkrieges, Novemberrevolution, Abdankung des Kaisers und Entstehung der Weimarer Republik. Dazu: 80 Jahre Reichskristallnacht und November Pogrome 1938, der bis dahin unrühmliche Höhepunkt der gezielten Verfolgung jüdischer Menschen im Dritten Reich, welche mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 beginnt. Bereits 1933 gerät auch eine andere Bevölkerungsgruppe ins Visier der NS-Häscher: Bettler. Sie werden als ‘asozial’ eingestuft, als Makel am ‘Volkskörper’ und lästige Konkurrenz für Organisationen, die Spenden sammeln, empfunden. Mitte Juli 1933 schreibt das frisch gegründete Propagandaministerium dem Reichsinnenministerium. Es geht um eine ‘umfassende Bekämpfung des Bettelunwesens.’
Man sieht in bettelnden Menschen eine unerwünschte, bedrohliche Konkurrenz für die Spendensammelaktionen des geplanten Winterhilfswerks 1933/34. Die ‘Bekämpfung des übermäßig angefür ein Gelingen der Winterhilfe’. Man sorgt sich, dass die ‘leistungsfähigsten und gebefreudigsten Bevölkerungskreise’ weniger zur offiziell organisierten Winterhilfe beitragen. Denn sie würden ‘derart stark belastet’ von ‘den unwürdigsten Elementen, zum Teil ganz wohl situierten berufsmäßigen Bettlern’.
Um gegen diese ‘unwürdigsten Elemente’ vorzugehen, empfiehlt das Propagandaministerium die Durchführung einer einheitlichen, reichsweiten Bettlerrazzia. Dabei sollen Polizeikräfte ‘schlagartig in einer bestimmten Zeitspanne mit ganzem Aufgebot sämtliche bettelnde Personen’ anhalten. Stattfinden solle die ‘Aktion’ in der zweiten Septemberhälfte, rechtzeitig vor der Anfang Oktober einsetzenden Propagandakampagne für das Winterhilfswerk, die das Motto trug:’Keiner soll hungern, keiner soll frieren’ (Informationen: Wolfgang Ayaß - ‘Wohnungslose im Nationalsozialismus’; Begleitheft zur Wanderausstellung der BAG Wohnungslosenhilfe e.V.).
August 1933 werden bereits die Wohlfahrtsverbände über die geplante Razzia informiert. Darunter: Der Caritas-Verband und der ‘Zentralausschuss für Innere Mission’. Die Verbände sollen mitwirken und über die Auswirkungen der Razzia Bericht erstatten. Auch die Wohnungslosenhilfe, damals hieß sie ‘Wandererfürsorge’, beteiligt sich. Einer ihrer führenden Funktionäre, der Chef der ‘Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg’, Karl Mailänder, wird am 25. August über die geplante Verhaftungswelle in Kenntnis gesetzt. Er antwortet umgehend, seine Organisation begrüße es ‘lebhaft, dass nunmehr gegen den gewerbsmäßigen Bettel strenger wie bisher vorgegangen werden soll’. Er schlägt vor, sich im vorhinein zu besprechen, ‘um ein erfolgreiches Zusammengehen von Polizei, öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege und der Presse sicherzustellen.’
Am 18. September 1933 beginnt die Razzia. Bis zum 25. September durchkämmt die Polizei Herbergen, Nachtasyle und bekannte Treffpunkte. Mehrere zehntausend Wohnungslose werden verhaftet, in Württemberg allein fast 5000, in Hamburg 1400. Die Tagespresse berichtet umfangreich über die Aktion. Durchgängig auf taucht der Stereotyp des angeblich wohlhabenden Bettlers, dem es besser gehe als ‘anständigen Arbeitern’.
Das ‘Hamburger Fremdenblatt’ spricht Bettlern die ‘existenzielle Not’ ab. Die Bettelei sei ein ‘organisiertes, profitträchtiges Gewerbe’, das den Bettlern höhere Einkünfte bringe als Arbeitern, Fürsorgeempfängern sowieso. Angeblich hätten ‘einzelne gerissene Bettler’ mit Handwagen oder sogar Pferdefuhrwerken Lebensmittel erbettelt, um diese in der nächsten Stadt zu verkaufen.
Bereits einige Wochen früher liefert der ‘Völkische Beobachter’ die Schlagzeile ‘Niemand muss betteln’. Darunter heißt es, die öffentliche Fürsorge habe fest gestellt, ’dass der größte Prozentsatz der Bettler . . . gar nicht hilfsbedürftig ist, sondern sich aus den Schichten zusammensetzt, der die Not eines großen Volksteils für sich auszunutzen versteht.’ Die angeblich fehlende Bedürftigkeit bzw. der angeblich versteckte Wohlstand von Bettlern zieht sich als roter Faden durch die gesamte Pressekampagne. Reichsweit gibt es Schlagzeilen über aufgegriffene Bettler, bei denen angeblich Tausende von Reichsmark gefunden wurden, welche nebenher Sozialleistungen beziehen oder sogar Häuser besitzen sollen.
Auch das Klischee vom falschen blinden Bettler wird eifrig bemüht. Die Berliner Börsenzeitung berichtet am 27. September über den angeblichen Fall eines stark kurzsichtigen Mannes, der sich von einer befreundeten Familie ein Kind ausgeliehen haben soll. Mit diesem sei er als ‘Blinder’ auf gemeinsame Betteltour gegangen.
Weit verbreitet ist zu Ende der Weimarer Republik das Bild einer mafia-ähnlichen Organisation falscher Bettler. Es taucht in Bertolt Brechts ‘Dreigroschenoper’ auf so wie in Fritz Langs Kinofilm ‘M. Eine Stadt sucht ihren Mörder’.
Die bei der Razzia Aufgegriffenen bleiben bis zu sechs Wochen inhaftiert. Rechtsgrundlage ist $ 361 des Strafgesetzbuches, wonach Bettelei und Landstreicherei seit 1871 als Straftaten gelten. Da das Fassungsvermögen der vorhandenen Haftanstalten nicht für alle fest genommenen Bettler ausreicht, werden vorübergehend spezielle Bettlerhaftlager eingerichtet. Ein derartiges Lager wird von der Tagespresse als ‘das erste Konzentrationslager für Bettler’ betitelt.
Nach Verbüßung der eher kurzen Haftstrafe werden einige Tausend der Verhafteten für bis zu zwei Jahre in Arbeitshäuser eingewiesen. Zur ‘korrektionellen Nachbehandlung’ gemäß § 362 Strafgesetzbuch. Arbeitshäuser gibt es auch noch in der Bundesrepublik. Erst Ende der 60er Jahre werden die letzten geschlossen. Und erst 1973 werden Bettelei und Landstreicherei als Straftatbestände gestrichen.
1938, im Jahr der November-Pogrome, gibt es eine weitere Großaktion gegen Bettler, Landstreicher, Wohnungslose und andere ‘Asoziale’. Sie trägt die Bezeichnung ‘Arbeitsscheu Reich’. April und Juni 1933 führen Gestapo und Kriminalpolizei eine Razzia gegen sog. ‘Arbeitsscheue’ durch. Dabei werden über 10.000 Männer fest genommen und in Konzentrationslager verschleppt.
Ob Staatsorgane, Justiz, Polizei, Presse oder Gesellschaft: Alle spielen damals mit, um der Menschenverachtung den Weg zu ebnen. Am Ende stehen Millionen Opfer gezielter Vernichtung: Juden, Sinti und Roma, Andersdenkende, Homosexuelle, Wohnungslose und alle übrigen als ‘asozial’ Gebrandmarkten. Zu allem Überfluss werden letztere von der Nachkriegsgesellschaft nicht als Opfer anerkannt.
Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe Dezember 2018, erschienen.
Online-Flyer Nr. 685 vom 05.12.2018