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Kultur und Wissen
Das menschliche Gemeinschaftsgefühl und der Geist der Verantwortlichkeit müssen die Gewalttätigkeit beenden
Gemeinsinn als leitende Idee
Von Rudolf Hänsel

Zu Beginn des Jahres 2019 blicken viele Deutsche so pessimistisch in die Zukunft wie lange nicht mehr. Nur 17 Prozent der Befragten sehen dem kommenden Jahr mit Optimismus entgegen. (1) Wie können wir unseren Mitmenschen, insbesondere unserer jungen Generation Zuversicht vermitteln? Allgegenwärtiges Streben nach Herrschaft und Macht vergiftet unser Zusammenleben. Deshalb müssen das menschliche Gemeinschaftsgefühl und der Geist der Verantwortlichkeit die Gewalttätigkeit beenden. Kulturentwicklung besteht im Wesentlichen darin, dass sich die Stimme des Menschheitsgewissens mehr und mehr Gehör verschafft. Eine ethische Errungenschaft ist das Anwachsen des menschlichen Gemeinschaftsgefühls, das Wissen um die Zusammengehörigkeit aller Menschen. Es gäbe die Menschheit nicht mehr, hätten unsere Vorfahren nicht Gemeinsinn und das Gefühl des Miteinanderseins zum Leitmotiv ihres Handelns gemacht. Diese Idee muss auch die Jugend durchdringen. Sie soll ja die Welt einmal in eine andere Bahn lenken.

Dem Streben nach Herrschaft und Macht entsagen

Die Ideologie der Macht, dieser fürchterliche Irrtum des Menschengeschlechts, vergiftet die Atmosphäre unserer Kultur, und die allseitige Infektion durch den Bazillus der Machtgier führt immer wieder zu epidemischen Auswüchsen wie Krieg und Terror, die Millionen von Menschen dahinraffen wie die Pest des Mittelalters. Nur die Machtgier derer, die innerhalb der Völker als Obrigkeit fungieren und durch ihre soziale Stellung vom Geist der Gewalt durchdrungen sind, führt ständig neu zu kriegerischen Auseinandersetzungen, in denen die Völker zugunsten ihrer Herren und Ausbeuter verbluten.

Der Weg des Einzelnen in der gewalttätigen Kultur gerät unweigerlich in den Einflussbereich dieses Macht- und Herrschaftsstrebens. Alle Vorbilder und Ideale, unter denen das Kind unserer Kulturkreise aufwächst, sind vom Machtwillen gefärbt. Der Drang des Menschen nach Selbstvervollkommnung nimmt so unwillkürlich die Leitlinie der Machtgier an: groß sein, mächtig sein wird zum Ziel, dass sich der Schwache setzt, um stark zu werden. Das Blendwerk der Gewalt ergreift von der Seele des Einzelnen bereits zu einem Zeitpunkt Besitz, wo er weder über bewusste Einsicht, noch über ein ausgebildetes Gerechtigkeitsgefühl verfügt.

Der Abbau der Machtgier und des Gewaltstrebens ist deshalb kein Postulat der Moralprediger: er ist die schlichte Notwendigkeit des gemeinschaftlichen Lebens. Man kann die Mahnrufe des menschlichen Gemeinschaftsgefühls wohl unterdrücken; gänzlich ausmerzen kann man sie nie, denn das Geschenk der Evolution besteht im sittlichen Bewusstsein des Einzelnen, in der Einsicht in die Verantwortung aller gegenüber allen. Unsere Aufgabe für die Zukunft scheint vor allem die Pflege und Stärkung der Gemeinschaftsgefühle zu sein. Kein Mittel darf uns zu gering sein, keine Anstrengung zu mühsam, um Menschen zu lehren, dass Gewalt und Machtgier nur ins Verhängnis führen können.

Gemeinsinn als leitende Idee

„Das Streben nach Herrschaft“, schreibt Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, „ist ein verhängnisvolles Blendwerk und vergiftet das Zusammenleben der Menschen. Wer die Gemeinschaft will, muss dem Streben nach Macht entsagen!“ Die „tiefste Idee aller Kultur“ sei die endgültige Erhebung des Gemeinsinns zur leitenden Idee. Die Kulturentwicklung besteht im Wesentlichen darin, dass sich die Stimme des Menschheitsgewissens mehr und mehr Gehör verschafft und dass der Geist der Verantwortlichkeit an die Stelle der Gewalttätigkeit tritt. (2)


Alfred Adler (1870–1937), österreichischer Arzt und Psychotherapeut, Begründer der Individualpsychologie (Foto: aufgenommen etwa 1930 von Albert Hilscher, gemeinfrei)

Aus der Einsicht um die Zusammengehörigkeit aller, die Menschenantlitz tragen, erwuchsen die Lehren der sittlichen Führer der Menschheit, die Weisheit des Laotse, das Gebot der Nächstenliebe und die unzähligen Formen des gesellschaftlichen Lebens und Verhaltens, in denen der Gemeinsinn zum Ausdruck kommt.

Unter uns Menschen spielen soziale Gefühle und gemeinschaftliche Verbundenheit ganz gewiss eine ebenso große Rolle wie der Wille zur Macht und der Eigennutz, denn der Mensch ist zur Hingabe und Selbstaufopferung fähig. Alle unsere Bestrebungen in der Welt und der Wissenschaft sollten das Leitmotiv haben, in Zukunft einen Menschentypus hervorzubringen, für den – wie es Alfred Adler formulierte – Gemeinschaftsgefühl und mitmenschliche Verbundenheit ebenso selbstverständlich sind wie das Atmen.


Fussnoten:

(1) https://www.welt.de/politik/deutschland/article186077996/Deutsche-blicken-so-pessimistisch-in-die-Zukunft-wie-lange-nicht-mehr.html
(2) Ansbacher, H. L./Antoch, R. F. (Hrsg.) (1982). Alfred Adler. Psychotherapie und Erziehung. Ausgewählte Aufsätze; Band I: 1919 - 1929. Frankfurt


Dr. Rudolf Hänsel ist Diplom-Psychologe und Erziehungswissenschaftler



Online-Flyer Nr. 689  vom 02.01.2019



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