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Zur Geschichte der Münchner Räterepublik – zur Debatte
Die Arbeiter an der Macht
Von Hermann Kopp
„Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub.“ Der Mann, von dem dieses geflügelte Wort stammt, ist heute außerhalb des Kreises der Revolutionshistoriker fast vergessen: Eugen Leviné, Mitbegründer und einer der führenden Köpfe der jungen KPD. Anfang März 1919 zusammen mit Paul Frölich und anderen von der KPD-Zentrale nach München entsandt, um dort bei der Organisation der rasch wachsenden, aber theoretisch noch unklaren Ortsgruppe mitzuhelfen, Redakteur der „Münchener Roten Fahne“, wurde Leviné im April von den Organen der Räterepublik an ihre Spitze gewählt, nach ihrer Niederschlagung verhaftet und vor ein Sondergericht gestellt. Vor dessen Schranken fiel am 5. Juni 1919 der berühmt gewordene Satz. Er war geboren aus der Erfahrung der vorangegangenen Monate: Ein knappes halbes Jahr zuvor waren Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet worden, im März Leo Jogiches zusammen mit über tausend Berliner Arbeitern, Anfang Mai Hunderte – die Schätzungen reichen bis zu 2000 – als „Spartakisten“ verdächtige Arbeiter in der bayerischen Landeshauptstadt.
Kurt Eisner (nach der Vorlage eines Fotos von Robert Sennecke bearbeitete Postkarte von 1919, gemeinfrei)
Die Sache, für die die Münchner Arbeiterschaft unter Levinés Führung kämpfte, war konkret. Sie hieß: Schluss mit dem seit Jahren dauernden Hunger, der mit Kohlrüben, Krähenbraten und Fuchsragout notdürftig gestillt werden musste, während die Hamsterlager der Kriegsgewinnler vollgestopft waren mit Delikatessen; Schluss mit der Wohnungsnot, die zahllose Arbeiterfamilien in feuchte Kellerwohnungen und ausrangierte Eisenbahnwaggons zwang, während sich das Besitzbürgertum in weitläufigen Villen breitmachte; Schluss vor allem auch mit den zahllosen großen und kleinen Demütigungen, denen die arbeitenden Massen durch die „bessere“ Gesellschaft ausgesetzt waren.
Wohl kaum eine zweite Periode der bayerischen Geschichte ist so massiv umgelogen worden wie die Apriltage des Jahres 1919, als in München und anderen Teilen Bayerns die Arbeiter an der Macht waren; als Leviné vorschlug, die rachitischen Kinder aus dem Arbeiterviertel Giesing in den Villen Bogenhausens unterzubringen; als die Räteregierung dem profitablen Schleichhandel zu Leibe rückte, die gehamsterten Reichtümer aufspüren und unter die Armen und Kranken verteilen ließ; als in den Großbetrieben des Münchner Nordens das Gewehr neben der Werkbank stand – sichtbarer Ausdruck einer plötzlichen Umkehr der „natürlichen“ Ordnung.
Das bürgerliche Trauma, bis heute wirksam, hat selbst die Monate vor der Ausrufung der Räterepublik dem Verdikt verfallen lassen. Die Benennung einer Straße nach dem sozialdemokratischen Begründer und ersten Ministerpräsidenten des bayerischen Freistaats, Kurt Eisner, in den 70er Jahren war nur gegen den geschlossenen Widerstand der CSU-Fraktion im Münchner Stadtrat möglich, und erst seit 1989, aus Anlass von Eisners 70. Todestag, erinnert wenigstens eine bescheidene Bodenplatte an ihn in dieser Stadt, die übersät ist mit Monumenten noch für die unscheinbarsten Vertreter der durch die Novemberrevolution gestürzten Wittelsbacher- Monarchie.
Dabei hatte Eisner mit der Räterepublik nichts zu tun, konnte gar nichts mit ihr zu tun haben. Er wurde bereits am 21. Februar ermordet, auf dem Weg zur konstituierenden Sitzung des Landtags. Seine Partei, die USPD, hatte dort ganze drei der 180 Sitze inne; bei seinem Tod trug er die Rücktrittserklärung in der Tasche. Als ihn die Kugeln des Grafen Arco niederstreckten (der nach rasch durchstandener Ehrenhaft mit einem Direktorenposten der Lufthansa belohnt wurde), war Eisner politisch bereits ein toter Mann. Schuld daran war vor allem seine Inkonsequenz und die der USPD.
Eisner hatte mit seinem Intimfeind Erhard Auer, dem bayerischen SPD-Vorsitzenden, einen Mann als Innenminister in die Regierung geholt, der für seine enge Verbindungen zur Konterrevolution, den Eisner-Mörder Arco eingeschlossen, weithin bekannt war; die anderen mehrheitssozialdemokratischen Minister, sie stellten zusammen mit einem bürgerlichen Fachminister die Mehrheit des Kabinetts Eisner, waren von ähnlichem Kaliber. So waren auch in Bayern nach dem Novemberumsturz weder der monarchistische Staats- und Verwaltungsapparat entmachtet noch irgendwelche Schritte in Richtung der oft versprochenen „Sozialisierung“ unternommen worden. Die bürgerliche Presse, deren Hetze gegen den „galizischen Juden“, „Entente-Agenten“ etc. Eisner für den Mord an ihm wesentlich mitverantwortlich war, blieb von seiner Regierung völlig unangetastet. Obwohl prinzipiell rätefreundlich, hatte Eisner zugelassen, dass Auer den in der Revolution spontan entstandenen Räten schon im Dezember alle Entscheidungskompetenzen nahm und sie auf eine bloße Beraterfunktion beschränkte.
Der tote Eisner jedoch wurde zu einem politischen Faktor. Das Attentat wurde vom Volk zu Recht als Versuch verstanden, die Errungenschaften der Novemberrevolution – Sturz der Monarchie, Koalitionsfreiheit, Acht-Stunden-Tag, gleiches Wahlrecht auch zu den Kommunalparlamenten u. a. m. – rückgängig zu machen. Es half die Einberufung des Bayerischen Rätekongresses durchzusetzen, der nach dem Auseinanderlaufen des Landtags am 25. Februar als oberstes beschlussfassendes Organ des revolutionären Bayern zusammentrat.
Doch zunächst gelang es der SPD-Führung, die Räteregierung in ihr genehme Bahnen zu lenken. Nach Verhandlungen zwischen dem Rätekongress und den beiden sozialdemokratischen Parteien (SPD und USPD) wurde Mitte März eine als „rein sozialistisch“ bezeichnete Regierung gebildet – und einstimmig bestätigt von einem Landtag, in dem die bürgerlichen Parteien die Mehrheit hatten. An ihre Spitze stellte man den rechten Sozialdemokraten Hoffmann, einen entschiedenen Rätegegner.
Aber die Arbeiter Münchens und anderer bayerischer Städte gaben sich mit dem sozialistischen Etikett nicht zufrieden: Hunger, Arbeitslosigkeit, extreme Wohnungsnot und akuter Kohlenmangel – das waren die Probleme, an deren Lösung sie die Regierungen maßen. Das Ministerium Hoffmann jedoch blieb weitgehend untätig. So fiel die Initiative, mehr als je zuvor, den (örtlichen) Räten zu, die vielfach erst jetzt entstanden bzw., vor allem in den Kleinstädten und auf dem flachen Land, erstmals wirklich als Machtorgane zu agieren lernten.
Unter diesen Bedingungen wurde die Ausrufung der ungarischen Räterepublik am 21. März zum Fanal. Der Ruf nach der Rätemacht wurde immer lauter und nachdrücklicher erhoben; am 4. April bekräftigten ihn die Arbeiter Augsburgs mit einem Generalstreik. Die Bevölkerung, so drahtete der Vertreter der Reichsregierung nach Berlin, „verfällt immer stärker spartakistischen Gedanken... Regierung, die äußersten Ernst der Lage voll einsieht, ist machtlos wegen gänzlichen Fehlens zuverlässiger Truppen und ständigen Nach-Links-Gleitens der Massen.“
Angesichts dieser Entwicklung ergriffen die (mehrheits-) sozialdemokratischen Minister die Flucht nach vorn: Bestrebt, ihren Einfluss in der Bevölkerung nicht völlig zu verlieren, betrieben sie seit dem 4. April selbst die Ausrufung der Räterepublik. Am 7. April verkündeten rote Plakate den Münchnern: „Die Entscheidung ist gefallen. Bayern ist Räterepublik. Das werktätige Volk ist Herr seines Geschickes.“ In den nächsten Tagen wurde in fast ganz Südbayern und in allen größeren Städten Nordbayerns – mit der freilich wichtigen Ausnahme Nürnbergs – die Räterepublik proklamiert.
Zu diesem Zeitpunkt allerdings hatten sich die SPD-Führer unter dem Einfluss der Reichsregierung schon wieder von dem Unternehmen zurückgezogen. Während ihre offiziellen Vertreter in München an der Zusammenstellung einer Räteregierung mitwirkten, bereiteten sie von Bamberg aus – dorthin war das Hoffmann-Ministerium am 6. April umgesiedelt –, die wirtschaftliche Strangulierung und militärische Niederschlagung der Räterepublik vor.
Die KPD, deren (wenige) Mitglieder im bayerischen Rätekongress noch Anfang März die Räterepublik gefordert hatten, warnte in den Verhandlungen mit USPD-, SPD-, Bauernbundvertretern und Anarchisten dringend vor ihrer voreiligen Ausrufung. Entscheidend für diesen Positionswechsel war der Einfluss Levinés. Er teilte in dieser Frage die Einschätzung der KPD-Zentrale. Die angebotenen Volksbeauftragten-Posten wurden von den Kommunisten abgelehnt. Bayern, so betonte Leviné, sei wirtschaftlich vom Reich abhängig und habe auf sich allein gestellt keine Überlebenschance; solange sich die Arbeiter im übrigen Deutschland noch nicht von den schweren Niederlagen der vorangegangenen Monate erholt hätten, könne man das Vorpreschen der Münchner Minister „nur als den Versuch bankrotter Führer, durch eine scheinbar revolutionäre Aktion den Anschluss an die Massen zu gewinnen, oder als eine bewusste Provokation“ verstehen. Eine Räterepublik könne nicht vom grünen Tisch aus proklamiert werden, sie könne nur das Ergebnis „ernster Kämpfe“ des Proletariats sein.
Die meisten Anarchisten und Unabhängigen, die die erste Räteregierung, nach dem Rückzug der SPD, dann hauptsächlich trugen, meinten es sicher ehrlich mit der sozialistischen Umwälzung; doch fehlte es ihren führenden Köpfen wie Toller, Landauer, Mühsam, Niekisch völlig an einer strategischen Konzeption, an Vorstellungen darüber, welche praktischen Schritte als nächste gegangen werden müssten. Ganz zu schweigen von Wirrköpfen wie dem Vorsitzenden des Rats der Volksbeauftragten, Dr. Lipp, der wegen der lächerlichen Telegramme, die er in alle Welt schickte, schon nach drei Tagen wieder abgesetzt werden musste.
Trotzdem identifizierten sich die Arbeiter Münchens und Südbayerns mit der Räterepublik. Die „Schein-Räteregierung“ (so die KPD) begnügte sich zwar weitgehend mit der Herausgabe schöner Deklarationen von literarischem Rang (die zitierte Gründungsproklamation etwa hatte Erich Mühsam formuliert), andererseits ließ sie den Arbeiterräten einen größeren Spielraum, als sie je zuvor gehabt hatten. Vor allem aber war der Schreck über die Ausrufung der Räterepublik der Bourgeoisie so in die Knochen gefahren, dass sie sich zu einer Reihe bedeutsamer Zugeständnisse bereitfand. Deshalb konnten beispielsweise die bayerischen Metallarbeiter Lohnerhöhungen um bis zu 80 Prozent durchsetzen, die Drucker, neben anderem, eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 48 auf 44 Stunden. Daraus erklärt sich, dass die Kommunisten mit ihren Argumenten gegen die „Scheinräterepublik“ nicht durchdrangen. Auf zahlreichen Massenversammlungen wurden sie vielmehr aufgefordert, sich an der Räteregierung zu beteiligen.
Aber es war nicht nur dieses Drängen – das im Übrigen der Stimmung großer Teile der Ende März / Anfang April rapide angewachsenen Münchner KPD-Basis entsprach –, was die KPD dann doch veranlasste, die Rolle des warnend Abseitsstehenden aufzugeben. Es war vor allem die Einsicht, dass die Reaktion mit der Niederwerfung der Räterepublik die Arbeiterbewegung insgesamt tödlich treffen wollte. Am 13. April versuchten Teile der Münchner Garnison, in Absprache mit der Hoffmann-Regierung und großzügig gesponsert von der „Antibolschewistischen Liga“, einen Putsch. Er wurde von bewaffneten Arbeitern unter Führung der KPD-Sektionen zurückgeschlagen. Die Münchner Betriebs- und Kasernenräte zogen Konsequenzen: Sie setzten die hilflose „Scheinräteregierung“ ab und übertrugen die Macht einem fünfzehnköpfigen Aktionsausschuss, der einen Vollzugsrat mit Eugen Leviné an der Spitze wählte.
Die von Leviné geführte, auf die Betriebs- und Soldatenräte sich stützende zweite, provisorische Räteregierung sah ihre zentrale Aufgabe darin, die Verteidigung der Arbeiterschaft gegen die heranmarschierende Konterrevolution zu organisieren. Binnen weniger Tage wurden 20 000 Gewehre an die Münchner Arbeiter ausgegeben, unter Leitung des Matrosen Rudolf Egelhofer begann der Aufbau einer Roten Armee. Polizeiaufgaben wurden einer ebenfalls aus Arbeitern bestehenden Roten Garde übertragen. Dem Ziel der revolutionären Verteidigung war die gesamte Tätigkeit der Rätemacht untergeordnet: das Verbot bürgerlicher Zeitungen, die Ausrufung eines zehntägigen Generalstreiks, die Kontrolle des Eisenbahn- und Straßenverkehrs, die Überwachung des Telefon- und Telegrafenverkehrs, die Bildung von Revolutionstribunalen. Auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet musste sich die Räteregierung auf Sofortmaßnahmen beschränken: die in Safes liegenden Gelder wurden beschlagnahmt, die Banken unter Kontrolle gestellt, gehamsterte Lebensmittel requiriert, leerstehender Wohnraum verteilt, die Betriebe der Kontrolle durch die Betriebsräte unterstellt.
Die Inangriffnahme all dieser Aufgaben war nur möglich, weil sich die Rätemacht zumindest in München und den anderen südbayrischen Zentren auf die Zustimmung und breite Mitwirkung der Arbeiterschaft stützen konnte. Und zwar unabhängig von deren parteipolitischen Präferenzen. Über einen von Münchner Geschäftsleuten gegebenen Stimmungsbericht heißt es in einem Schreiben der Berliner Reichskanzlei an den Reichspräsidenten vom 29. April:
„Die große Masse der Bevölkerung, d. h. die arbeitenden Klassen, gingen in zunehmendem Maße zu der kommunistischen Regierung über. Denn sie erhielten höhere Löhne, die Angestellten höhere Gehälter, sie würden durch besondere Veranstaltungen unterhalten; das Theater zum Beispiel stehe den Arbeitern gegen Vorzeigung ihrer Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei oder auch zu den Gewerkschaften für einen geringen Preis offen und dergl. mehr. Infolgedessen greife in den breiten Massen immer mehr die Ansicht Platz, dass diese Regierung viel mehr für die Arbeiter tue, als je eine revolutionäre Regierung getan habe...“
Für die konterrevolutionären Kräfte ganz Deutschlands war klar, dass das „rote Geschwür“ in Bayern ausgemerzt werden musste, bevor es sich stabilisieren und ausbreiten konnte. Nachdem die gegen München in Marsch gesetzten regulären bayerischen Truppen, aufgeklärt durch ihre Münchner Kameraden, großenteils die Waffen niedergelegt oder sich sogar der Roten Armee angeschlossen hatten, schickte Noske aus Berlin seine Söldner gegen Südbayern, gegen den angeblich in München „rasenden bolschewistischen Terror“. Die erst im Aufbau begriffene Rote Armee war dem Ansturm nicht gewachsen, zumal nicht wenige derer, die mit am lautesten nach der Räterepublik gerufen hatten, ein USPD-Führer wie Toller etwa, in den letzten Apriltagen in Panik gerieten und Defätismus verbreiteten.
Am 1. Mai 1919 zogen die Noske-Garden in München ein. Mit einer erhöhten Mordprämie wurden sie fitgemacht für ihr blutiges Geschäft. Tags zuvor waren – ein spontaner, politisch sinnloser Vergeltungsakt von Rotgardisten für zahlreiche an ihren Kameraden begangene Morde – zehn aktive Konterrevolutionäre, die meisten davon Mitglieder der faschistischen Thule-Gesellschaft, erschossen worden. Gräuelmärchen über angebliche Misshandlungen und Verstümmelungen der Opfer dieses (fälschlicherweise so genannten) „Geiselmords“ taten ein Übriges, um das folgende Blutbad vorzubereiten. Den selbsternannten „Befreiern“ nahmen sie die letzten Skrupel bei ihrer Jagd nach tatsächlichen oder vermeintlichen „Spartakisten“; die Anhänger der Rätemacht verwirrten und entmutigten sie, zumal unter den Bedingungen der Militärdiktatur sachliche Informationen über die Vorgänge keine Chance hatten, die Öffentlichkeit zu erreichen. Die Verurteilung des „Geiselmords“ reichte bis weit hinein in die Reihen der kommunistischen Partei. Auch Leviné distanzierte sich von ihm in seiner eingangs erwähnten, von prozesstaktischen Erwägungen sicher freien Rede vor Gericht.
Bis zum 3. Mai war München mit Ausnahme von Teilen des Arbeiterviertels Giesing „befreit“. 600 Menschen – nach den zu niedrigen offiziellen Angaben – fielen allein in der ersten Woche nach dem Einmarsch der „Befreiungstat“ zum Opfer; auf besonders bestialische Weise wurden Rudolf Egelhofer und Gustav Landauer umgebracht. Weit über hunderttausend Münchner (bei einer Einwohnerzahl von rund 600 000) verbrachten Stunden, manchmal Tage der Angst und der Misshandlungen in den „Gefangenensammelstellen“. 5 000 Menschen, die die Mitte Mai abflauende Mordwelle lebend überstanden hatten, wurden in den folgenden Monaten von der Justiz abgeurteilt – einige zum Tode, die meisten zu oft langjährigen Freiheitsstrafen, unter ihnen Erich Mühsam und Ernst Toller. Für Eugen Leviné stand das Todesurteil von vornherein fest.
Anfang April hatten die SPD-Minister die Ausrufung der Räterepublik betrieben; jetzt, genau zwei Monate später, bestätigten sie, zusammen mit ihren inzwischen hinzugekommenen bürgerlichen Kabinettskollegen, das Urteil gegen den „Hochverräter“ Leviné – ungeachtet zahlreicher Appelle bürgerlicher Intellektueller aus ganz Deutschland, von ihrem Begnadigungsrecht Gebrauch zu machen. Es wurde noch am Tag der Verkündung vollstreckt.
Der sozialdemokratische Mohr hatte damit seine Schuldigkeit getan. Schon ein dreiviertel Jahr später wurde die SPD aus der Regierung gedrängt und der Kapp-Putschist Gustav von Kahr in den Ministerpräsidentensessel gehievt Der Freistaat wurde zur „Ordnungszelle Bayern“ (Kahr) ausgebaut. In der bayerischen Landeshauptstadt tummelten sich fortan, liebevoll gehätschelt und polizeilich abgeschirmt vor jedem möglichen Zugriff der Reichsorgane – Polizeipräsident war der spätere Nazi Pöhner, Leiter der Politischen Polizei der Nazi Frick –, die extremsten Reaktionäre aller Schattierungen: Fememörder, Antisemiten, Klerikalfaschisten, Freikorpsleute, Nazis. So wurde München, für wenige Wochen die Hoffnung des arbeitenden Deutschlands, zur „Hauptstadt der Bewegung“ eines Reichswehrspitzels namens Adolf Hitler und seiner großindustriellen Auftraggeber. Wohin diese Bewegung führte, ist bekannt.
Erstveröffentlichung im "vorwärts", der Zeitung der deutschschweizerischen Kommunisten (PdAS), vom 22. Februar 2019
Siehe auch:
Ein kritischer Rückblick
Die Ermordung von Kurt Eisner
Von Wolfgang Effenberger
NRhZ 694 vom 27.02.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25684
Online-Flyer Nr. 695 vom 06.03.2019
Zur Geschichte der Münchner Räterepublik – zur Debatte
Die Arbeiter an der Macht
Von Hermann Kopp
„Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub.“ Der Mann, von dem dieses geflügelte Wort stammt, ist heute außerhalb des Kreises der Revolutionshistoriker fast vergessen: Eugen Leviné, Mitbegründer und einer der führenden Köpfe der jungen KPD. Anfang März 1919 zusammen mit Paul Frölich und anderen von der KPD-Zentrale nach München entsandt, um dort bei der Organisation der rasch wachsenden, aber theoretisch noch unklaren Ortsgruppe mitzuhelfen, Redakteur der „Münchener Roten Fahne“, wurde Leviné im April von den Organen der Räterepublik an ihre Spitze gewählt, nach ihrer Niederschlagung verhaftet und vor ein Sondergericht gestellt. Vor dessen Schranken fiel am 5. Juni 1919 der berühmt gewordene Satz. Er war geboren aus der Erfahrung der vorangegangenen Monate: Ein knappes halbes Jahr zuvor waren Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet worden, im März Leo Jogiches zusammen mit über tausend Berliner Arbeitern, Anfang Mai Hunderte – die Schätzungen reichen bis zu 2000 – als „Spartakisten“ verdächtige Arbeiter in der bayerischen Landeshauptstadt.
Kurt Eisner (nach der Vorlage eines Fotos von Robert Sennecke bearbeitete Postkarte von 1919, gemeinfrei)
Die Sache, für die die Münchner Arbeiterschaft unter Levinés Führung kämpfte, war konkret. Sie hieß: Schluss mit dem seit Jahren dauernden Hunger, der mit Kohlrüben, Krähenbraten und Fuchsragout notdürftig gestillt werden musste, während die Hamsterlager der Kriegsgewinnler vollgestopft waren mit Delikatessen; Schluss mit der Wohnungsnot, die zahllose Arbeiterfamilien in feuchte Kellerwohnungen und ausrangierte Eisenbahnwaggons zwang, während sich das Besitzbürgertum in weitläufigen Villen breitmachte; Schluss vor allem auch mit den zahllosen großen und kleinen Demütigungen, denen die arbeitenden Massen durch die „bessere“ Gesellschaft ausgesetzt waren.
Wohl kaum eine zweite Periode der bayerischen Geschichte ist so massiv umgelogen worden wie die Apriltage des Jahres 1919, als in München und anderen Teilen Bayerns die Arbeiter an der Macht waren; als Leviné vorschlug, die rachitischen Kinder aus dem Arbeiterviertel Giesing in den Villen Bogenhausens unterzubringen; als die Räteregierung dem profitablen Schleichhandel zu Leibe rückte, die gehamsterten Reichtümer aufspüren und unter die Armen und Kranken verteilen ließ; als in den Großbetrieben des Münchner Nordens das Gewehr neben der Werkbank stand – sichtbarer Ausdruck einer plötzlichen Umkehr der „natürlichen“ Ordnung.
Das bürgerliche Trauma, bis heute wirksam, hat selbst die Monate vor der Ausrufung der Räterepublik dem Verdikt verfallen lassen. Die Benennung einer Straße nach dem sozialdemokratischen Begründer und ersten Ministerpräsidenten des bayerischen Freistaats, Kurt Eisner, in den 70er Jahren war nur gegen den geschlossenen Widerstand der CSU-Fraktion im Münchner Stadtrat möglich, und erst seit 1989, aus Anlass von Eisners 70. Todestag, erinnert wenigstens eine bescheidene Bodenplatte an ihn in dieser Stadt, die übersät ist mit Monumenten noch für die unscheinbarsten Vertreter der durch die Novemberrevolution gestürzten Wittelsbacher- Monarchie.
Dabei hatte Eisner mit der Räterepublik nichts zu tun, konnte gar nichts mit ihr zu tun haben. Er wurde bereits am 21. Februar ermordet, auf dem Weg zur konstituierenden Sitzung des Landtags. Seine Partei, die USPD, hatte dort ganze drei der 180 Sitze inne; bei seinem Tod trug er die Rücktrittserklärung in der Tasche. Als ihn die Kugeln des Grafen Arco niederstreckten (der nach rasch durchstandener Ehrenhaft mit einem Direktorenposten der Lufthansa belohnt wurde), war Eisner politisch bereits ein toter Mann. Schuld daran war vor allem seine Inkonsequenz und die der USPD.
Eisner hatte mit seinem Intimfeind Erhard Auer, dem bayerischen SPD-Vorsitzenden, einen Mann als Innenminister in die Regierung geholt, der für seine enge Verbindungen zur Konterrevolution, den Eisner-Mörder Arco eingeschlossen, weithin bekannt war; die anderen mehrheitssozialdemokratischen Minister, sie stellten zusammen mit einem bürgerlichen Fachminister die Mehrheit des Kabinetts Eisner, waren von ähnlichem Kaliber. So waren auch in Bayern nach dem Novemberumsturz weder der monarchistische Staats- und Verwaltungsapparat entmachtet noch irgendwelche Schritte in Richtung der oft versprochenen „Sozialisierung“ unternommen worden. Die bürgerliche Presse, deren Hetze gegen den „galizischen Juden“, „Entente-Agenten“ etc. Eisner für den Mord an ihm wesentlich mitverantwortlich war, blieb von seiner Regierung völlig unangetastet. Obwohl prinzipiell rätefreundlich, hatte Eisner zugelassen, dass Auer den in der Revolution spontan entstandenen Räten schon im Dezember alle Entscheidungskompetenzen nahm und sie auf eine bloße Beraterfunktion beschränkte.
Der tote Eisner jedoch wurde zu einem politischen Faktor. Das Attentat wurde vom Volk zu Recht als Versuch verstanden, die Errungenschaften der Novemberrevolution – Sturz der Monarchie, Koalitionsfreiheit, Acht-Stunden-Tag, gleiches Wahlrecht auch zu den Kommunalparlamenten u. a. m. – rückgängig zu machen. Es half die Einberufung des Bayerischen Rätekongresses durchzusetzen, der nach dem Auseinanderlaufen des Landtags am 25. Februar als oberstes beschlussfassendes Organ des revolutionären Bayern zusammentrat.
Doch zunächst gelang es der SPD-Führung, die Räteregierung in ihr genehme Bahnen zu lenken. Nach Verhandlungen zwischen dem Rätekongress und den beiden sozialdemokratischen Parteien (SPD und USPD) wurde Mitte März eine als „rein sozialistisch“ bezeichnete Regierung gebildet – und einstimmig bestätigt von einem Landtag, in dem die bürgerlichen Parteien die Mehrheit hatten. An ihre Spitze stellte man den rechten Sozialdemokraten Hoffmann, einen entschiedenen Rätegegner.
Aber die Arbeiter Münchens und anderer bayerischer Städte gaben sich mit dem sozialistischen Etikett nicht zufrieden: Hunger, Arbeitslosigkeit, extreme Wohnungsnot und akuter Kohlenmangel – das waren die Probleme, an deren Lösung sie die Regierungen maßen. Das Ministerium Hoffmann jedoch blieb weitgehend untätig. So fiel die Initiative, mehr als je zuvor, den (örtlichen) Räten zu, die vielfach erst jetzt entstanden bzw., vor allem in den Kleinstädten und auf dem flachen Land, erstmals wirklich als Machtorgane zu agieren lernten.
Unter diesen Bedingungen wurde die Ausrufung der ungarischen Räterepublik am 21. März zum Fanal. Der Ruf nach der Rätemacht wurde immer lauter und nachdrücklicher erhoben; am 4. April bekräftigten ihn die Arbeiter Augsburgs mit einem Generalstreik. Die Bevölkerung, so drahtete der Vertreter der Reichsregierung nach Berlin, „verfällt immer stärker spartakistischen Gedanken... Regierung, die äußersten Ernst der Lage voll einsieht, ist machtlos wegen gänzlichen Fehlens zuverlässiger Truppen und ständigen Nach-Links-Gleitens der Massen.“
Angesichts dieser Entwicklung ergriffen die (mehrheits-) sozialdemokratischen Minister die Flucht nach vorn: Bestrebt, ihren Einfluss in der Bevölkerung nicht völlig zu verlieren, betrieben sie seit dem 4. April selbst die Ausrufung der Räterepublik. Am 7. April verkündeten rote Plakate den Münchnern: „Die Entscheidung ist gefallen. Bayern ist Räterepublik. Das werktätige Volk ist Herr seines Geschickes.“ In den nächsten Tagen wurde in fast ganz Südbayern und in allen größeren Städten Nordbayerns – mit der freilich wichtigen Ausnahme Nürnbergs – die Räterepublik proklamiert.
Zu diesem Zeitpunkt allerdings hatten sich die SPD-Führer unter dem Einfluss der Reichsregierung schon wieder von dem Unternehmen zurückgezogen. Während ihre offiziellen Vertreter in München an der Zusammenstellung einer Räteregierung mitwirkten, bereiteten sie von Bamberg aus – dorthin war das Hoffmann-Ministerium am 6. April umgesiedelt –, die wirtschaftliche Strangulierung und militärische Niederschlagung der Räterepublik vor.
Die KPD, deren (wenige) Mitglieder im bayerischen Rätekongress noch Anfang März die Räterepublik gefordert hatten, warnte in den Verhandlungen mit USPD-, SPD-, Bauernbundvertretern und Anarchisten dringend vor ihrer voreiligen Ausrufung. Entscheidend für diesen Positionswechsel war der Einfluss Levinés. Er teilte in dieser Frage die Einschätzung der KPD-Zentrale. Die angebotenen Volksbeauftragten-Posten wurden von den Kommunisten abgelehnt. Bayern, so betonte Leviné, sei wirtschaftlich vom Reich abhängig und habe auf sich allein gestellt keine Überlebenschance; solange sich die Arbeiter im übrigen Deutschland noch nicht von den schweren Niederlagen der vorangegangenen Monate erholt hätten, könne man das Vorpreschen der Münchner Minister „nur als den Versuch bankrotter Führer, durch eine scheinbar revolutionäre Aktion den Anschluss an die Massen zu gewinnen, oder als eine bewusste Provokation“ verstehen. Eine Räterepublik könne nicht vom grünen Tisch aus proklamiert werden, sie könne nur das Ergebnis „ernster Kämpfe“ des Proletariats sein.
Die meisten Anarchisten und Unabhängigen, die die erste Räteregierung, nach dem Rückzug der SPD, dann hauptsächlich trugen, meinten es sicher ehrlich mit der sozialistischen Umwälzung; doch fehlte es ihren führenden Köpfen wie Toller, Landauer, Mühsam, Niekisch völlig an einer strategischen Konzeption, an Vorstellungen darüber, welche praktischen Schritte als nächste gegangen werden müssten. Ganz zu schweigen von Wirrköpfen wie dem Vorsitzenden des Rats der Volksbeauftragten, Dr. Lipp, der wegen der lächerlichen Telegramme, die er in alle Welt schickte, schon nach drei Tagen wieder abgesetzt werden musste.
Trotzdem identifizierten sich die Arbeiter Münchens und Südbayerns mit der Räterepublik. Die „Schein-Räteregierung“ (so die KPD) begnügte sich zwar weitgehend mit der Herausgabe schöner Deklarationen von literarischem Rang (die zitierte Gründungsproklamation etwa hatte Erich Mühsam formuliert), andererseits ließ sie den Arbeiterräten einen größeren Spielraum, als sie je zuvor gehabt hatten. Vor allem aber war der Schreck über die Ausrufung der Räterepublik der Bourgeoisie so in die Knochen gefahren, dass sie sich zu einer Reihe bedeutsamer Zugeständnisse bereitfand. Deshalb konnten beispielsweise die bayerischen Metallarbeiter Lohnerhöhungen um bis zu 80 Prozent durchsetzen, die Drucker, neben anderem, eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 48 auf 44 Stunden. Daraus erklärt sich, dass die Kommunisten mit ihren Argumenten gegen die „Scheinräterepublik“ nicht durchdrangen. Auf zahlreichen Massenversammlungen wurden sie vielmehr aufgefordert, sich an der Räteregierung zu beteiligen.
Aber es war nicht nur dieses Drängen – das im Übrigen der Stimmung großer Teile der Ende März / Anfang April rapide angewachsenen Münchner KPD-Basis entsprach –, was die KPD dann doch veranlasste, die Rolle des warnend Abseitsstehenden aufzugeben. Es war vor allem die Einsicht, dass die Reaktion mit der Niederwerfung der Räterepublik die Arbeiterbewegung insgesamt tödlich treffen wollte. Am 13. April versuchten Teile der Münchner Garnison, in Absprache mit der Hoffmann-Regierung und großzügig gesponsert von der „Antibolschewistischen Liga“, einen Putsch. Er wurde von bewaffneten Arbeitern unter Führung der KPD-Sektionen zurückgeschlagen. Die Münchner Betriebs- und Kasernenräte zogen Konsequenzen: Sie setzten die hilflose „Scheinräteregierung“ ab und übertrugen die Macht einem fünfzehnköpfigen Aktionsausschuss, der einen Vollzugsrat mit Eugen Leviné an der Spitze wählte.
Die von Leviné geführte, auf die Betriebs- und Soldatenräte sich stützende zweite, provisorische Räteregierung sah ihre zentrale Aufgabe darin, die Verteidigung der Arbeiterschaft gegen die heranmarschierende Konterrevolution zu organisieren. Binnen weniger Tage wurden 20 000 Gewehre an die Münchner Arbeiter ausgegeben, unter Leitung des Matrosen Rudolf Egelhofer begann der Aufbau einer Roten Armee. Polizeiaufgaben wurden einer ebenfalls aus Arbeitern bestehenden Roten Garde übertragen. Dem Ziel der revolutionären Verteidigung war die gesamte Tätigkeit der Rätemacht untergeordnet: das Verbot bürgerlicher Zeitungen, die Ausrufung eines zehntägigen Generalstreiks, die Kontrolle des Eisenbahn- und Straßenverkehrs, die Überwachung des Telefon- und Telegrafenverkehrs, die Bildung von Revolutionstribunalen. Auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet musste sich die Räteregierung auf Sofortmaßnahmen beschränken: die in Safes liegenden Gelder wurden beschlagnahmt, die Banken unter Kontrolle gestellt, gehamsterte Lebensmittel requiriert, leerstehender Wohnraum verteilt, die Betriebe der Kontrolle durch die Betriebsräte unterstellt.
Die Inangriffnahme all dieser Aufgaben war nur möglich, weil sich die Rätemacht zumindest in München und den anderen südbayrischen Zentren auf die Zustimmung und breite Mitwirkung der Arbeiterschaft stützen konnte. Und zwar unabhängig von deren parteipolitischen Präferenzen. Über einen von Münchner Geschäftsleuten gegebenen Stimmungsbericht heißt es in einem Schreiben der Berliner Reichskanzlei an den Reichspräsidenten vom 29. April:
„Die große Masse der Bevölkerung, d. h. die arbeitenden Klassen, gingen in zunehmendem Maße zu der kommunistischen Regierung über. Denn sie erhielten höhere Löhne, die Angestellten höhere Gehälter, sie würden durch besondere Veranstaltungen unterhalten; das Theater zum Beispiel stehe den Arbeitern gegen Vorzeigung ihrer Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei oder auch zu den Gewerkschaften für einen geringen Preis offen und dergl. mehr. Infolgedessen greife in den breiten Massen immer mehr die Ansicht Platz, dass diese Regierung viel mehr für die Arbeiter tue, als je eine revolutionäre Regierung getan habe...“
Für die konterrevolutionären Kräfte ganz Deutschlands war klar, dass das „rote Geschwür“ in Bayern ausgemerzt werden musste, bevor es sich stabilisieren und ausbreiten konnte. Nachdem die gegen München in Marsch gesetzten regulären bayerischen Truppen, aufgeklärt durch ihre Münchner Kameraden, großenteils die Waffen niedergelegt oder sich sogar der Roten Armee angeschlossen hatten, schickte Noske aus Berlin seine Söldner gegen Südbayern, gegen den angeblich in München „rasenden bolschewistischen Terror“. Die erst im Aufbau begriffene Rote Armee war dem Ansturm nicht gewachsen, zumal nicht wenige derer, die mit am lautesten nach der Räterepublik gerufen hatten, ein USPD-Führer wie Toller etwa, in den letzten Apriltagen in Panik gerieten und Defätismus verbreiteten.
Am 1. Mai 1919 zogen die Noske-Garden in München ein. Mit einer erhöhten Mordprämie wurden sie fitgemacht für ihr blutiges Geschäft. Tags zuvor waren – ein spontaner, politisch sinnloser Vergeltungsakt von Rotgardisten für zahlreiche an ihren Kameraden begangene Morde – zehn aktive Konterrevolutionäre, die meisten davon Mitglieder der faschistischen Thule-Gesellschaft, erschossen worden. Gräuelmärchen über angebliche Misshandlungen und Verstümmelungen der Opfer dieses (fälschlicherweise so genannten) „Geiselmords“ taten ein Übriges, um das folgende Blutbad vorzubereiten. Den selbsternannten „Befreiern“ nahmen sie die letzten Skrupel bei ihrer Jagd nach tatsächlichen oder vermeintlichen „Spartakisten“; die Anhänger der Rätemacht verwirrten und entmutigten sie, zumal unter den Bedingungen der Militärdiktatur sachliche Informationen über die Vorgänge keine Chance hatten, die Öffentlichkeit zu erreichen. Die Verurteilung des „Geiselmords“ reichte bis weit hinein in die Reihen der kommunistischen Partei. Auch Leviné distanzierte sich von ihm in seiner eingangs erwähnten, von prozesstaktischen Erwägungen sicher freien Rede vor Gericht.
Bis zum 3. Mai war München mit Ausnahme von Teilen des Arbeiterviertels Giesing „befreit“. 600 Menschen – nach den zu niedrigen offiziellen Angaben – fielen allein in der ersten Woche nach dem Einmarsch der „Befreiungstat“ zum Opfer; auf besonders bestialische Weise wurden Rudolf Egelhofer und Gustav Landauer umgebracht. Weit über hunderttausend Münchner (bei einer Einwohnerzahl von rund 600 000) verbrachten Stunden, manchmal Tage der Angst und der Misshandlungen in den „Gefangenensammelstellen“. 5 000 Menschen, die die Mitte Mai abflauende Mordwelle lebend überstanden hatten, wurden in den folgenden Monaten von der Justiz abgeurteilt – einige zum Tode, die meisten zu oft langjährigen Freiheitsstrafen, unter ihnen Erich Mühsam und Ernst Toller. Für Eugen Leviné stand das Todesurteil von vornherein fest.
Anfang April hatten die SPD-Minister die Ausrufung der Räterepublik betrieben; jetzt, genau zwei Monate später, bestätigten sie, zusammen mit ihren inzwischen hinzugekommenen bürgerlichen Kabinettskollegen, das Urteil gegen den „Hochverräter“ Leviné – ungeachtet zahlreicher Appelle bürgerlicher Intellektueller aus ganz Deutschland, von ihrem Begnadigungsrecht Gebrauch zu machen. Es wurde noch am Tag der Verkündung vollstreckt.
Der sozialdemokratische Mohr hatte damit seine Schuldigkeit getan. Schon ein dreiviertel Jahr später wurde die SPD aus der Regierung gedrängt und der Kapp-Putschist Gustav von Kahr in den Ministerpräsidentensessel gehievt Der Freistaat wurde zur „Ordnungszelle Bayern“ (Kahr) ausgebaut. In der bayerischen Landeshauptstadt tummelten sich fortan, liebevoll gehätschelt und polizeilich abgeschirmt vor jedem möglichen Zugriff der Reichsorgane – Polizeipräsident war der spätere Nazi Pöhner, Leiter der Politischen Polizei der Nazi Frick –, die extremsten Reaktionäre aller Schattierungen: Fememörder, Antisemiten, Klerikalfaschisten, Freikorpsleute, Nazis. So wurde München, für wenige Wochen die Hoffnung des arbeitenden Deutschlands, zur „Hauptstadt der Bewegung“ eines Reichswehrspitzels namens Adolf Hitler und seiner großindustriellen Auftraggeber. Wohin diese Bewegung führte, ist bekannt.
Erstveröffentlichung im "vorwärts", der Zeitung der deutschschweizerischen Kommunisten (PdAS), vom 22. Februar 2019
Siehe auch:
Ein kritischer Rückblick
Die Ermordung von Kurt Eisner
Von Wolfgang Effenberger
NRhZ 694 vom 27.02.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25684
Online-Flyer Nr. 695 vom 06.03.2019