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Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (5)
Steinkohlen-Zeit: Der Autor als Berglehrling
Von Harry Popow
Zwickau, Seminarstraße 1. Ein großes graues Gebäude - die Bergbauberufsschule. Glück für Henry. Die Lehrzeit beginnt erst Mitte September, also noch über zehn Tage Zeit. Er meldet sich jedenfalls an und wohnt ab 15.9.1954 im Lehrlingswohnheim. Das Bergwerk der Steinkohle heißt „Karl Marx“. Es gibt noch ein zweites Bergwerk - „Martin Hoop“. In den Schaufenstern der Stadt sieht er die ersten Fernsehapparate mit den kleinen Bildschirmen. Aber so etwas Technisches macht ihn nicht an. Zuerst paukt er nur Theoretisches. Über die Geschichte des Bergbaus, über die Untertagearbeiten, wie die Technik heißt, die die jungen Leute da unten erwartet, und daß die Steinkohlenflöze noch Vorräte für weitere siebzig Jahre im Berg festhalten. Also ganz schöne Aussichten. Im Sommer beginnt die praktische Arbeit unter Tage. Zuvor Kleider wechseln in einer großen Halle. Von der Decke herab baumeln an langen eisernen Ketten wie geräucherte Ware die dunklen Arbeitsklamotten. Der Lehrling öffnet das Sicherheitsschloß, läßt die Kette herunter. Sein sauberes Zeug kommt an den Haken, alles hochziehen, fertig. Grubenlampe empfangen. Rein in die Fahrt, so nennt sich der „Fahrstuhl“, und ab in die Tiefe. Kribbeln im Bauch, denn die Mannschaftsfahrt hat eine Sinkgeschwindigkeit von sechs Metern pro Sekunde. (Die Produktenfahrt ist doppelt so schnell.) 900 Meter Tiefe (Teufe).
Eine unheimliche Stille empfängt die jungen Bergleute. Irgendwo kreischt ein „Hunt“ in den Weichen, so heißen die kleinen Wägelchen für den Kohletransport. Langsam tasten die Lehrlinge sich vorwärts, die elektrisch betriebenen Grubenlampen in ihren Händen werfen nur ein spärliches Licht auf den dunklen Stollenboden. Manchmal blitzt eine kleine Wasserpfütze auf. Dann und wann müssen die Männer eine „Schleuse“ passieren, ein Wetter, durch die der Grubenwind geregelt wird. Endlich am Ziel, man sagt „vor Ort“. Aus einer Kiste holt Henry sein Gezähe (Werkzeug), lockert mit dem Picker das Schwarz aus der Grubenwand, haut Stempel (Stützbalken) zurecht, hilft mit, den neu entstehenden Stollen abzusichern, übt sich im Handversatz, verletzt sich an der Schüttelrutsche, trinkt schwarzen Kaffee aus der großen Blechkanne, wartet sehnsüchtig auf das Ende der Schicht, auf den hellen Himmel über der Stadt ... Nach der Ausfahrt unter die Dusche. Er lernt, sich richtig zu waschen. Beim zweitenmal glaubt er, jetzt geht‘s.
Ein Blick in den Spiegel überzeugt ihn vom Gegenteil: Die Augenbrauen, der Haaransatz am Kopf, die Ohrmuscheln – alles ist noch pechrabenschwarz. Zum Teufel noch mal! Das ganze noch einmal. Bald bekommen die Lehrlinge ihr erstes eigenes Lehrlingsgeld: 20 M Abschlag. Das ist ein Gefühl! Überhaupt, Henry fühlt sich wohl, er versteht sich mit den anderen Lehrlingen gut, seine erste Erkenntnis: Manche, die ihm fürs erste nicht so nahe sind, erweisen sich dann doch als prima Kumpel. Und dann noch das: Für gutes Lernen überreicht man ihm drei Bände Goethe und sechs Bände Heine. Er meldet sich in einer neu gegründeten Volkstanzgruppe an, und da er nicht ungeschickt ist, nimmt man bei ihm Maß für eine entsprechende Tracht. Eigentlich wollte er gar nicht so sehr tanzen, ihm liegt vielmehr daran, bei dieser „Gelegenheit“ ein Mädchen kennenzulernen. Aber manchmal muß er daran denken, wie schön es sein müßte, über Tage arbeiten zu können, unter dem blauen Himmel, an frischer Luft.
Dann passiert etwas. Henry ist gerade in Leipzig in Urlaub, da stürzen im Erzgebirge Wassermassen vom Frühlingshimmel. Die Zwickauer Mulde kriecht schnell über die Ufer, läßt ihre schmutzigbraunen Wasser in die Stadt laufen. Ahnungslos steigt Henry nach dem Urlaub am Bahnhof aus - Totenstille. Ein einziger Straßenbahnwagen steht bereit für die Fahrt ins Zentrum. Das ist nicht nur merkwürdig, das ist gespenstig. Ihm schwant etwas, doch er steigt ein. Nach zwei oder drei Haltestellen ein Halt. Alles Aussteigen! Und dann steht man an einem Ufer, einem „Straßenufer“. Mitten in der Stadt. Kähne verkehren. Der Lehrling Henry muß ans andere Ende der Stadt, ins Lehrlingswohnheim. Doch das wird erst morgen klappen. Zunächst muß er in ein Massenquartier. Schöne Bescherung! Tage später. Eine gute Nachricht von der Bergbauberufsschule. Man eröffnet ihm, daß er wegen seines Alters ein Jahr der Ausbildung überspringen könne, muß aber Wurzelziehen und andere Lehraufgaben im Selbststudium in den Ferien nachholen. Er paukt. Und weil er Grippe hat - auch im Bett. Dann bekommen einige Lehrlinge einen ersten FDGB-Ferienscheck: Für die Ostsee, für ein Heim der Steinkohle in Heringsdorf. Henry ist dabei.
Auf der Rücktour besucht Henry seinen Papa in Berlin-Eichwalde. Der freut sich, kauft seinem ältesten Sohn einen Anzug für 300 DM, damals sehr viel Geld. Henry bedankt sich. In dessen Position beim Minister für Maschinenbau bezieht er ein gutes Gehalt. Als Erich Ziebell hört, daß sein Sohn später gerne Geologie studieren würde, empfiehlt er ihm, seine Lehrstelle in Zwickau aufzugeben. Durch seine guten Beziehungen vermittelt er ihn im Handumdrehen an die „Staatliche Geologische Kommission“, Außenstelle Schwerin. „Ja, das ist es,“ denkt Henry und freut sich riesig. Also löst er in Zwickau seinen Ausbildungsvertrag - sogar ohne Schwierigkeiten. Ist es ein Kapitulieren vor der harten Arbeit im Schacht? Nein! Ihn erwartet eine für ihn bessere Variante für die Zukunft.
Harry Popow: „Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten“
Druck und Verlag: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, 500 Seiten: 500, 26,99 Euro, Bestellen hier
Der Autor Harry Popow wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 glücklich verheiratet.
Siehe auch:
Auszug aus "In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 63. Jahrestags der Gründung der Nationalen Volksarmee am 1. März 1956 (1)
Ohrfeige für Henry
Von Harry Popow
NRhZ 692 vom 13.02.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25625
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (2)
Weiße Armbinden
NRhZ 700 vom 10.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25802
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (3)
Träumender Trommler
NRhZ 701 vom 17.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25821
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (4)
Bei Präsident Pieck
NRhZ 702 vom 24.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25839
Online-Flyer Nr. 703 vom 01.05.2019
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (5)
Steinkohlen-Zeit: Der Autor als Berglehrling
Von Harry Popow
Zwickau, Seminarstraße 1. Ein großes graues Gebäude - die Bergbauberufsschule. Glück für Henry. Die Lehrzeit beginnt erst Mitte September, also noch über zehn Tage Zeit. Er meldet sich jedenfalls an und wohnt ab 15.9.1954 im Lehrlingswohnheim. Das Bergwerk der Steinkohle heißt „Karl Marx“. Es gibt noch ein zweites Bergwerk - „Martin Hoop“. In den Schaufenstern der Stadt sieht er die ersten Fernsehapparate mit den kleinen Bildschirmen. Aber so etwas Technisches macht ihn nicht an. Zuerst paukt er nur Theoretisches. Über die Geschichte des Bergbaus, über die Untertagearbeiten, wie die Technik heißt, die die jungen Leute da unten erwartet, und daß die Steinkohlenflöze noch Vorräte für weitere siebzig Jahre im Berg festhalten. Also ganz schöne Aussichten. Im Sommer beginnt die praktische Arbeit unter Tage. Zuvor Kleider wechseln in einer großen Halle. Von der Decke herab baumeln an langen eisernen Ketten wie geräucherte Ware die dunklen Arbeitsklamotten. Der Lehrling öffnet das Sicherheitsschloß, läßt die Kette herunter. Sein sauberes Zeug kommt an den Haken, alles hochziehen, fertig. Grubenlampe empfangen. Rein in die Fahrt, so nennt sich der „Fahrstuhl“, und ab in die Tiefe. Kribbeln im Bauch, denn die Mannschaftsfahrt hat eine Sinkgeschwindigkeit von sechs Metern pro Sekunde. (Die Produktenfahrt ist doppelt so schnell.) 900 Meter Tiefe (Teufe).
Eine unheimliche Stille empfängt die jungen Bergleute. Irgendwo kreischt ein „Hunt“ in den Weichen, so heißen die kleinen Wägelchen für den Kohletransport. Langsam tasten die Lehrlinge sich vorwärts, die elektrisch betriebenen Grubenlampen in ihren Händen werfen nur ein spärliches Licht auf den dunklen Stollenboden. Manchmal blitzt eine kleine Wasserpfütze auf. Dann und wann müssen die Männer eine „Schleuse“ passieren, ein Wetter, durch die der Grubenwind geregelt wird. Endlich am Ziel, man sagt „vor Ort“. Aus einer Kiste holt Henry sein Gezähe (Werkzeug), lockert mit dem Picker das Schwarz aus der Grubenwand, haut Stempel (Stützbalken) zurecht, hilft mit, den neu entstehenden Stollen abzusichern, übt sich im Handversatz, verletzt sich an der Schüttelrutsche, trinkt schwarzen Kaffee aus der großen Blechkanne, wartet sehnsüchtig auf das Ende der Schicht, auf den hellen Himmel über der Stadt ... Nach der Ausfahrt unter die Dusche. Er lernt, sich richtig zu waschen. Beim zweitenmal glaubt er, jetzt geht‘s.
Ein Blick in den Spiegel überzeugt ihn vom Gegenteil: Die Augenbrauen, der Haaransatz am Kopf, die Ohrmuscheln – alles ist noch pechrabenschwarz. Zum Teufel noch mal! Das ganze noch einmal. Bald bekommen die Lehrlinge ihr erstes eigenes Lehrlingsgeld: 20 M Abschlag. Das ist ein Gefühl! Überhaupt, Henry fühlt sich wohl, er versteht sich mit den anderen Lehrlingen gut, seine erste Erkenntnis: Manche, die ihm fürs erste nicht so nahe sind, erweisen sich dann doch als prima Kumpel. Und dann noch das: Für gutes Lernen überreicht man ihm drei Bände Goethe und sechs Bände Heine. Er meldet sich in einer neu gegründeten Volkstanzgruppe an, und da er nicht ungeschickt ist, nimmt man bei ihm Maß für eine entsprechende Tracht. Eigentlich wollte er gar nicht so sehr tanzen, ihm liegt vielmehr daran, bei dieser „Gelegenheit“ ein Mädchen kennenzulernen. Aber manchmal muß er daran denken, wie schön es sein müßte, über Tage arbeiten zu können, unter dem blauen Himmel, an frischer Luft.
Dann passiert etwas. Henry ist gerade in Leipzig in Urlaub, da stürzen im Erzgebirge Wassermassen vom Frühlingshimmel. Die Zwickauer Mulde kriecht schnell über die Ufer, läßt ihre schmutzigbraunen Wasser in die Stadt laufen. Ahnungslos steigt Henry nach dem Urlaub am Bahnhof aus - Totenstille. Ein einziger Straßenbahnwagen steht bereit für die Fahrt ins Zentrum. Das ist nicht nur merkwürdig, das ist gespenstig. Ihm schwant etwas, doch er steigt ein. Nach zwei oder drei Haltestellen ein Halt. Alles Aussteigen! Und dann steht man an einem Ufer, einem „Straßenufer“. Mitten in der Stadt. Kähne verkehren. Der Lehrling Henry muß ans andere Ende der Stadt, ins Lehrlingswohnheim. Doch das wird erst morgen klappen. Zunächst muß er in ein Massenquartier. Schöne Bescherung! Tage später. Eine gute Nachricht von der Bergbauberufsschule. Man eröffnet ihm, daß er wegen seines Alters ein Jahr der Ausbildung überspringen könne, muß aber Wurzelziehen und andere Lehraufgaben im Selbststudium in den Ferien nachholen. Er paukt. Und weil er Grippe hat - auch im Bett. Dann bekommen einige Lehrlinge einen ersten FDGB-Ferienscheck: Für die Ostsee, für ein Heim der Steinkohle in Heringsdorf. Henry ist dabei.
Auf der Rücktour besucht Henry seinen Papa in Berlin-Eichwalde. Der freut sich, kauft seinem ältesten Sohn einen Anzug für 300 DM, damals sehr viel Geld. Henry bedankt sich. In dessen Position beim Minister für Maschinenbau bezieht er ein gutes Gehalt. Als Erich Ziebell hört, daß sein Sohn später gerne Geologie studieren würde, empfiehlt er ihm, seine Lehrstelle in Zwickau aufzugeben. Durch seine guten Beziehungen vermittelt er ihn im Handumdrehen an die „Staatliche Geologische Kommission“, Außenstelle Schwerin. „Ja, das ist es,“ denkt Henry und freut sich riesig. Also löst er in Zwickau seinen Ausbildungsvertrag - sogar ohne Schwierigkeiten. Ist es ein Kapitulieren vor der harten Arbeit im Schacht? Nein! Ihn erwartet eine für ihn bessere Variante für die Zukunft.
Harry Popow: „Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten“
Druck und Verlag: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, 500 Seiten: 500, 26,99 Euro, Bestellen hier
Der Autor Harry Popow wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 glücklich verheiratet.
Siehe auch:
Auszug aus "In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 63. Jahrestags der Gründung der Nationalen Volksarmee am 1. März 1956 (1)
Ohrfeige für Henry
Von Harry Popow
NRhZ 692 vom 13.02.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25625
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (2)
Weiße Armbinden
NRhZ 700 vom 10.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25802
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (3)
Träumender Trommler
NRhZ 701 vom 17.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25821
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (4)
Bei Präsident Pieck
NRhZ 702 vom 24.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25839
Online-Flyer Nr. 703 vom 01.05.2019