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Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (8)
Tee mit Rum
Von Harry Popow
Erfurt. Eine Übung – die erste. Die achtzehn- bis neunzehnjährigen Offiziersschüler sitzen dicht gedrängt und vor Kälte zitternd auf offenen Lastkraftwagen, die man wie gesagt H3A nennt. Schnee und kalter Fahrtwind. Eine lange Marschkolonne. Sie bewegt sich mit mäßigem Tempo auf den schneeglatten Straßen und tief verschneiten Waldwegen. Kilometer um Kilometer. Es geht in Richtung...? Die Schüler wissen es nicht. Und wenn? Was würde das ausmachen? Gar nichts. Später, es ist schon Nacht, wird ein Konzentrierungsraum bezogen. Das ist ein Waldstück, in dem man sich vor dem Angriff sammelt. Wald und Berge ringsumher. Und eine unheimliche Stille. Die Fahrzeuge sollen getarnt abgestellt werden, Parolen machen die Runde, Befehle müssen weitergegeben werden, aber im Flüsterton. Alles ist noch ungewohnt für die jungen Leute. Aber endlich sich bewegen können, den Schnee von der froststarren Uniform schütteln, Schützenmulden ausheben im steinhart gefrorenen Erdboden, sich für den Angriff vorbereiten. Im Morgengrauen ist es soweit. Junge Männer in Uniform stolpern über das Übungsgelände, stürzen in große Löcher, versinken im Schnee, geraten außer Atem, fangen an zu keuchen, und mancher mag denken, mein Gott, wann hat das alles ein Ende? Später gibt es Tee mit ein wenig Rum, wenigstens etwas. In Ohrdruf, im Thüringischen gelegen, befindet sich dieser Truppenübungsplatz, erfahren nunmehr die Schüler.
Höhepunkte, große und kleine, nisten sich schnell mal ins Gedächtnis ein. So auch dieser: Taktikausbildung auf dem Drosselberg. Oberleutnant P., „Bazooka“, wie man ihn nach einer Bezeichnung für eine amerikanische Panzerabwehrwaffe scherzhaft nennt, hat mit den Schülern kein Erbarmen. Zunächst stehen sie drei Stunden im Regen und müssen sich Theoretisches zum Thema Verteidigung einprägen. Die Klamotten triefen vor Nässe. Plötzlich kommt Kälte auf, alles Klitschnasse verwandelt sich in glitzerndes Eis. Die Uniformen werden steif, die Tropfen auf den MPi‘s sind gefroren. „Bazooka“ steht vor der Front, unermüdlich erklärt er, der Taktiklehrer aus Leidenschaft. Die Konzentration geht den jungen Leuten allmählich flöten. Der Fluch auf den Lippen – er stirbt, bevor er ausgestoßen wird. Es bringt nichts. Und dann läßt der Oberleutnant seine Schützlinge üben. Die Kleidung klebt und klirrt am Körper – er fragt nicht einmal danach. Warum auch? Ekelhaft! Und dabei auch noch denken müssen, Entschlüsse fassen. Herrgott, hat der Mann kein Erbarmen? Nicht ein bißchen Mitgefühl? Keiner von den zukünftigen Offizieren wird diese Ausbildung wohl jemals vergessen. Viele Tage später wird der zukünftige Offizier im Zug sitzen nach Leipzig, um in den Kurzurlaub zu fahren. Schaut gedankenverloren aus dem Fenster, betrachtet die vorüberziehenden Felder und Berge, ertappt sich bei taktischen Überlegungen, daß er an den Vorderhängen von geeigneten Hügeln „Verteidigungsstellungen“ ausheben lassen würde. Er erschrickt. Hat‘s ihn schon so erwischt? Kann er sich nicht losreißen von der Knüppelei in der Ausbildung? Er nimmt ein Buch zur Hand, will sich ablenken, zum Teufel noch mal!
Wache schieben, das Objekt sichern, das gehört dazu. Jeder Zug muß alle paar Wochen mal ran. Die einen stehen Posten, die anderen haben Wirtschaftsdienst, helfen in der Küche Kartoffeln schälen, abwaschen usw. Henrys Postenbereich ist diesmal das Munitionslager. Die Sonne wärmt. Es ist am frühen Nachmittag. Man ist alleine. Man träumt so vor sich hin. Irgendwo im Grünen zwitschert es. Im Wachlokal ist es durch die Raucher ohnehin muffig, also genießt er jetzt die frische Frühlingsluft. Überhaupt: Wer soll hier etwas stehlen wollen. Pfeif drauf, da steht eine Kiste, auf der läßt es sich bestimmt gut sitzen. Wehe aber, das sieht jemand, der schmalgesichtige, sommersprossige und rothaarige Zugführer mit den großen Zähnen etwa - dann wäre der Teufel los. Ein unsympathischer Kerl, seine zur Schau getragene Gefühlskälte. Henry sitzt also in der Sonne, verbotenerweise. Alles ist ruhig. Plötzlich spürt er, irgendwer ist hinter ihm, beobachtet ihn mit einem stechenden Blick. Henry ahnt etwas ... Langsam dreht er sich um, er will dem anderen zeigen, daß er keine Angst hat. Und tatsächlich: Da steht er, breitbeinig, in etwa zwanzig Meter Entfernung, natürlich wieder grinsend, dann aber fauchend: „Ich lasse sie ablösen!“ Dabei wird er krebsrot im Gesicht, was ihn noch häßlicher macht. Kurz darauf im Kompaniebereich. Der Vorgesetzte läßt den Schüler ins Zugführerzimmer kommen. Und kurzer Prozeß, er verbrummt ihm einen Tadel. Unter vier Augen sozusagen, unter Ausschluß der Kompanie-Öffentlichkeit. Immerhin - wenigstens ein menschlicher Zug. Am gleichen Tag Ablenkung durch einen Brief von Henrys Mama. Sie bittet ihn um seine Lebensmittelkarten, „da HO Butter ist nicht zu haben“. (Man konnte – falls vorrätig – teure Butter in den neu gegründeten Handelsorganisationen kaufen.)
Es scheint, Henry faßt Fuß im Kasernenmileu. Da sind der Ausgang, die Kumpels und die Briefe, wenigstens von Zeit zu Zeit. So ist’s auszuhalten. Und eine Perspektive hat man ja schließlich auch. Da trifft neuerlich Post ein. Diesmal vom sowjetischen Konsulat in Leipzig. Damit hat Henry nun gar nicht gerechnet. „Was wollen die denn von dir“, fragt er sich. Er wird zu einer Aussprache eingeladen. Eine Ahnung steigt auf: Seine Mutter hatte vor Jahren den Antrag gestellt, mit den Kindern zurückzukehren in ihre Heimat. Damals, so erinnert Henry sich, waren sie als Kinder begeistert. Allein das Spielzeug von Mama endlich in Besitz zu nehmen, das Tretauto, die Puppen und Stofftiere, das war schon verlockend. Aber die Zeit ist jetzt eine andere. Man ist älter geworden, kritischer, und jeder der Kinder geht seinen Weg. Nur die Mutter, sie wird wohl immer von einer Heimkehr träumen. Im Gebäude des Konsulats, Henrys Mutter ist mit dabei, kommen zwei sehr kultiviert aussehende Herren in grauen Anzügen auf Henry zu, bitten ihn ins Arbeitszimmer, ihn allein, seine Mutter im großen Vorsaal wartet. Man rät ihm ab. In der SU sei es schwierig zu leben, anders als in der DDR. Und er würde sich wohl kaum einleben ...
Der Fall ist klar, Henry bleibt. Eine Entscheidung, die nicht erst jetzt gefallen ist. Mama hat wohl damit auch gerechnet, sie ist nicht böse. (Erst sehr viel später wird Henry mit recht vermuten, daß die Stalinzeit im Jahre 1955 noch nicht verwunden war, vielleicht hätte man seine Mutter, die ja ins faschistische Deutschland gegangen ist, gar nicht so gerne empfangen, mindestens ...)
Die Schwester der Theorie ist die Praxis, eine Binsenweisheit. Also werden die Schüler ein Praktikum absolvieren - Gruppenausbildung in Eggesin. Eggesin? Den Namen dieses Ortes hatten die jungen Männer von einigen Offizieren bereits gehört. In der nordöstlichsten Ecke der Republik, hier oben in abgelegenen Gegenden, stehen graue Kasernen die Menge. Erbaut bis 1952 für den „Dienst für Deutschland“, der aber schnell wieder aufgelöst wurde. Aber die Legenden! Henry und die anderen Offiziersschüler hörten Unglaubliches. Junge Frauen, die am Bau beteiligt waren, hielten auf der Straße die LKW an, erst mußten die Fahrer Liebesdienste erfüllen, dann durften sie weiterfahren. Und von „Kämpfen“ der Spezialtruppen gegeneinander war die Rede, von „Ohrenabschneidern“ usw.
Und nun sind die zukünftigen Offiziere selbst vor Ort. Aber von all den Geschichten ist nichts mehr zu spüren. Henry wird als Gruppenführer in einem Zug arbeiten. Noch hat er sich nicht daran gewöhnt, Befehle zu erteilen. Einmal, es ist während einer Übung in der Nähe von Ahlbeck (an der polnischen Grenze) beziehen die Praktikanten eine Sturmausgangsstellung. Vom Zugführer erhalten sie den Gefechtsbefehl. Anschließend, so wird gelehrt, soll man sich „die Aufgabe klarmachen“, einen von etwa zehn Punkten, die man abarbeiten muß. Aber in minutenschnelle, und nicht so wie Henry. Der nämlich verschwindet, versteckt sich regelrecht in einem Unterstand, um in Ruhe „nachdenken“ zu können über seine „große Verantwortung“ in den nächsten Stunden beim Angriff, bei dem er acht echte Soldaten zu führen hat. Doch da wird er im Nachdenken gestört. Irgendein Offizier steckt den Kopf herein, sieht ihn im Halbdunkel und fragt: „Was machen sie denn hier ...?“ Der Praktikant, leicht erschrocken, daß man ihn in so absonderlicher Stellung erwischt hat, kontert dennoch ziemlich schnell und offen: „Ich mache mir die Aufgabe klar.“ Der Kontrolloffizier erwidert nichts und verschwindet, sprachlos und feixend, wie Henry vermutet. Gewiß aber hat er ungläubig den Kopf geschüttelt.
Abends gehen die jungen Männer tanzen ins Volkshaus von Eggesin, das ganz in der Nähe vom Bahnhof liegt. Ein großer Saal. An der Seite eine Theke. Eine kleine Kapelle. Es dröhnt im Saal, es wird gesoffen und krakeelt. Henry tanzt ein wenig unbeholfen mit einem dünnen und zierlichen Dorfmädchen, bringt es spät abends nach Hause, wagt aber nicht, es zu küssen. Er hat das Mädchen denn auch nie wiedergesehen. Einmal nimmt ihn sein Zugführer, ein gemütlicher, immer lächelnder blonder Nordländer, mit in die Stadt Ückermünde zum Tanz. Wie es der Teufel will, dessen und Henrys Mädchen wohnen im selben Haus mit Hof und Stallungen. Also haben sie den gleichen Weg, die Viere. Nur, als das ganze im Dunkeln konkret werden sollte, müssen sie sich entscheiden, welches Paar in den Stall darf. Was heißt entscheiden? Gesiegt hat natürlich die „höhere“ Gewalt. Henry muß sich mit einem Stehplatz am Holzstapel unter dem Sternenhimmel zufrieden geben. Zur Belohnung darf er auf dem Gepäckträger des Vorgesetzten-Fahrrades Platz nehmen. Bis nach Eggesin/Karpin sind es über zehn Kilometer. „Strample schön, strample“, freut sich Henry, der genug hat von solcher Sause ...
Harry Popow: „Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten“
Druck und Verlag: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, 500 Seiten: 500, 26,99 Euro, Bestellen hier
Der Autor Harry Popow wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 glücklich verheiratet.
Siehe auch:
Auszug aus "In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 63. Jahrestags der Gründung der Nationalen Volksarmee am 1. März 1956 (1)
Ohrfeige für Henry
Von Harry Popow
NRhZ 692 vom 13.02.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25625
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (2)
Weiße Armbinden
NRhZ 700 vom 10.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25802
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (3)
Träumender Trommler
NRhZ 701 vom 17.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25821
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (4)
Bei Präsident Pieck
NRhZ 702 vom 24.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25839
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (5)
Steinkohlen-Zeit: Der Autor als Berglehrling
NRhZ 703 vom 01.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25860
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (6)
Geologen-Zeit: Der Autor als Kollektor
NRhZ 704 vom 08.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25877
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (7)
Knobelbecher-Zeit
NRhZ 705 vom 15.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25903
Online-Flyer Nr. 706 vom 22.05.2019
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (8)
Tee mit Rum
Von Harry Popow
Erfurt. Eine Übung – die erste. Die achtzehn- bis neunzehnjährigen Offiziersschüler sitzen dicht gedrängt und vor Kälte zitternd auf offenen Lastkraftwagen, die man wie gesagt H3A nennt. Schnee und kalter Fahrtwind. Eine lange Marschkolonne. Sie bewegt sich mit mäßigem Tempo auf den schneeglatten Straßen und tief verschneiten Waldwegen. Kilometer um Kilometer. Es geht in Richtung...? Die Schüler wissen es nicht. Und wenn? Was würde das ausmachen? Gar nichts. Später, es ist schon Nacht, wird ein Konzentrierungsraum bezogen. Das ist ein Waldstück, in dem man sich vor dem Angriff sammelt. Wald und Berge ringsumher. Und eine unheimliche Stille. Die Fahrzeuge sollen getarnt abgestellt werden, Parolen machen die Runde, Befehle müssen weitergegeben werden, aber im Flüsterton. Alles ist noch ungewohnt für die jungen Leute. Aber endlich sich bewegen können, den Schnee von der froststarren Uniform schütteln, Schützenmulden ausheben im steinhart gefrorenen Erdboden, sich für den Angriff vorbereiten. Im Morgengrauen ist es soweit. Junge Männer in Uniform stolpern über das Übungsgelände, stürzen in große Löcher, versinken im Schnee, geraten außer Atem, fangen an zu keuchen, und mancher mag denken, mein Gott, wann hat das alles ein Ende? Später gibt es Tee mit ein wenig Rum, wenigstens etwas. In Ohrdruf, im Thüringischen gelegen, befindet sich dieser Truppenübungsplatz, erfahren nunmehr die Schüler.
Höhepunkte, große und kleine, nisten sich schnell mal ins Gedächtnis ein. So auch dieser: Taktikausbildung auf dem Drosselberg. Oberleutnant P., „Bazooka“, wie man ihn nach einer Bezeichnung für eine amerikanische Panzerabwehrwaffe scherzhaft nennt, hat mit den Schülern kein Erbarmen. Zunächst stehen sie drei Stunden im Regen und müssen sich Theoretisches zum Thema Verteidigung einprägen. Die Klamotten triefen vor Nässe. Plötzlich kommt Kälte auf, alles Klitschnasse verwandelt sich in glitzerndes Eis. Die Uniformen werden steif, die Tropfen auf den MPi‘s sind gefroren. „Bazooka“ steht vor der Front, unermüdlich erklärt er, der Taktiklehrer aus Leidenschaft. Die Konzentration geht den jungen Leuten allmählich flöten. Der Fluch auf den Lippen – er stirbt, bevor er ausgestoßen wird. Es bringt nichts. Und dann läßt der Oberleutnant seine Schützlinge üben. Die Kleidung klebt und klirrt am Körper – er fragt nicht einmal danach. Warum auch? Ekelhaft! Und dabei auch noch denken müssen, Entschlüsse fassen. Herrgott, hat der Mann kein Erbarmen? Nicht ein bißchen Mitgefühl? Keiner von den zukünftigen Offizieren wird diese Ausbildung wohl jemals vergessen. Viele Tage später wird der zukünftige Offizier im Zug sitzen nach Leipzig, um in den Kurzurlaub zu fahren. Schaut gedankenverloren aus dem Fenster, betrachtet die vorüberziehenden Felder und Berge, ertappt sich bei taktischen Überlegungen, daß er an den Vorderhängen von geeigneten Hügeln „Verteidigungsstellungen“ ausheben lassen würde. Er erschrickt. Hat‘s ihn schon so erwischt? Kann er sich nicht losreißen von der Knüppelei in der Ausbildung? Er nimmt ein Buch zur Hand, will sich ablenken, zum Teufel noch mal!
Wache schieben, das Objekt sichern, das gehört dazu. Jeder Zug muß alle paar Wochen mal ran. Die einen stehen Posten, die anderen haben Wirtschaftsdienst, helfen in der Küche Kartoffeln schälen, abwaschen usw. Henrys Postenbereich ist diesmal das Munitionslager. Die Sonne wärmt. Es ist am frühen Nachmittag. Man ist alleine. Man träumt so vor sich hin. Irgendwo im Grünen zwitschert es. Im Wachlokal ist es durch die Raucher ohnehin muffig, also genießt er jetzt die frische Frühlingsluft. Überhaupt: Wer soll hier etwas stehlen wollen. Pfeif drauf, da steht eine Kiste, auf der läßt es sich bestimmt gut sitzen. Wehe aber, das sieht jemand, der schmalgesichtige, sommersprossige und rothaarige Zugführer mit den großen Zähnen etwa - dann wäre der Teufel los. Ein unsympathischer Kerl, seine zur Schau getragene Gefühlskälte. Henry sitzt also in der Sonne, verbotenerweise. Alles ist ruhig. Plötzlich spürt er, irgendwer ist hinter ihm, beobachtet ihn mit einem stechenden Blick. Henry ahnt etwas ... Langsam dreht er sich um, er will dem anderen zeigen, daß er keine Angst hat. Und tatsächlich: Da steht er, breitbeinig, in etwa zwanzig Meter Entfernung, natürlich wieder grinsend, dann aber fauchend: „Ich lasse sie ablösen!“ Dabei wird er krebsrot im Gesicht, was ihn noch häßlicher macht. Kurz darauf im Kompaniebereich. Der Vorgesetzte läßt den Schüler ins Zugführerzimmer kommen. Und kurzer Prozeß, er verbrummt ihm einen Tadel. Unter vier Augen sozusagen, unter Ausschluß der Kompanie-Öffentlichkeit. Immerhin - wenigstens ein menschlicher Zug. Am gleichen Tag Ablenkung durch einen Brief von Henrys Mama. Sie bittet ihn um seine Lebensmittelkarten, „da HO Butter ist nicht zu haben“. (Man konnte – falls vorrätig – teure Butter in den neu gegründeten Handelsorganisationen kaufen.)
Es scheint, Henry faßt Fuß im Kasernenmileu. Da sind der Ausgang, die Kumpels und die Briefe, wenigstens von Zeit zu Zeit. So ist’s auszuhalten. Und eine Perspektive hat man ja schließlich auch. Da trifft neuerlich Post ein. Diesmal vom sowjetischen Konsulat in Leipzig. Damit hat Henry nun gar nicht gerechnet. „Was wollen die denn von dir“, fragt er sich. Er wird zu einer Aussprache eingeladen. Eine Ahnung steigt auf: Seine Mutter hatte vor Jahren den Antrag gestellt, mit den Kindern zurückzukehren in ihre Heimat. Damals, so erinnert Henry sich, waren sie als Kinder begeistert. Allein das Spielzeug von Mama endlich in Besitz zu nehmen, das Tretauto, die Puppen und Stofftiere, das war schon verlockend. Aber die Zeit ist jetzt eine andere. Man ist älter geworden, kritischer, und jeder der Kinder geht seinen Weg. Nur die Mutter, sie wird wohl immer von einer Heimkehr träumen. Im Gebäude des Konsulats, Henrys Mutter ist mit dabei, kommen zwei sehr kultiviert aussehende Herren in grauen Anzügen auf Henry zu, bitten ihn ins Arbeitszimmer, ihn allein, seine Mutter im großen Vorsaal wartet. Man rät ihm ab. In der SU sei es schwierig zu leben, anders als in der DDR. Und er würde sich wohl kaum einleben ...
Der Fall ist klar, Henry bleibt. Eine Entscheidung, die nicht erst jetzt gefallen ist. Mama hat wohl damit auch gerechnet, sie ist nicht böse. (Erst sehr viel später wird Henry mit recht vermuten, daß die Stalinzeit im Jahre 1955 noch nicht verwunden war, vielleicht hätte man seine Mutter, die ja ins faschistische Deutschland gegangen ist, gar nicht so gerne empfangen, mindestens ...)
Die Schwester der Theorie ist die Praxis, eine Binsenweisheit. Also werden die Schüler ein Praktikum absolvieren - Gruppenausbildung in Eggesin. Eggesin? Den Namen dieses Ortes hatten die jungen Männer von einigen Offizieren bereits gehört. In der nordöstlichsten Ecke der Republik, hier oben in abgelegenen Gegenden, stehen graue Kasernen die Menge. Erbaut bis 1952 für den „Dienst für Deutschland“, der aber schnell wieder aufgelöst wurde. Aber die Legenden! Henry und die anderen Offiziersschüler hörten Unglaubliches. Junge Frauen, die am Bau beteiligt waren, hielten auf der Straße die LKW an, erst mußten die Fahrer Liebesdienste erfüllen, dann durften sie weiterfahren. Und von „Kämpfen“ der Spezialtruppen gegeneinander war die Rede, von „Ohrenabschneidern“ usw.
Und nun sind die zukünftigen Offiziere selbst vor Ort. Aber von all den Geschichten ist nichts mehr zu spüren. Henry wird als Gruppenführer in einem Zug arbeiten. Noch hat er sich nicht daran gewöhnt, Befehle zu erteilen. Einmal, es ist während einer Übung in der Nähe von Ahlbeck (an der polnischen Grenze) beziehen die Praktikanten eine Sturmausgangsstellung. Vom Zugführer erhalten sie den Gefechtsbefehl. Anschließend, so wird gelehrt, soll man sich „die Aufgabe klarmachen“, einen von etwa zehn Punkten, die man abarbeiten muß. Aber in minutenschnelle, und nicht so wie Henry. Der nämlich verschwindet, versteckt sich regelrecht in einem Unterstand, um in Ruhe „nachdenken“ zu können über seine „große Verantwortung“ in den nächsten Stunden beim Angriff, bei dem er acht echte Soldaten zu führen hat. Doch da wird er im Nachdenken gestört. Irgendein Offizier steckt den Kopf herein, sieht ihn im Halbdunkel und fragt: „Was machen sie denn hier ...?“ Der Praktikant, leicht erschrocken, daß man ihn in so absonderlicher Stellung erwischt hat, kontert dennoch ziemlich schnell und offen: „Ich mache mir die Aufgabe klar.“ Der Kontrolloffizier erwidert nichts und verschwindet, sprachlos und feixend, wie Henry vermutet. Gewiß aber hat er ungläubig den Kopf geschüttelt.
Abends gehen die jungen Männer tanzen ins Volkshaus von Eggesin, das ganz in der Nähe vom Bahnhof liegt. Ein großer Saal. An der Seite eine Theke. Eine kleine Kapelle. Es dröhnt im Saal, es wird gesoffen und krakeelt. Henry tanzt ein wenig unbeholfen mit einem dünnen und zierlichen Dorfmädchen, bringt es spät abends nach Hause, wagt aber nicht, es zu küssen. Er hat das Mädchen denn auch nie wiedergesehen. Einmal nimmt ihn sein Zugführer, ein gemütlicher, immer lächelnder blonder Nordländer, mit in die Stadt Ückermünde zum Tanz. Wie es der Teufel will, dessen und Henrys Mädchen wohnen im selben Haus mit Hof und Stallungen. Also haben sie den gleichen Weg, die Viere. Nur, als das ganze im Dunkeln konkret werden sollte, müssen sie sich entscheiden, welches Paar in den Stall darf. Was heißt entscheiden? Gesiegt hat natürlich die „höhere“ Gewalt. Henry muß sich mit einem Stehplatz am Holzstapel unter dem Sternenhimmel zufrieden geben. Zur Belohnung darf er auf dem Gepäckträger des Vorgesetzten-Fahrrades Platz nehmen. Bis nach Eggesin/Karpin sind es über zehn Kilometer. „Strample schön, strample“, freut sich Henry, der genug hat von solcher Sause ...
Harry Popow: „Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten“
Druck und Verlag: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, 500 Seiten: 500, 26,99 Euro, Bestellen hier
Der Autor Harry Popow wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 glücklich verheiratet.
Siehe auch:
Auszug aus "In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 63. Jahrestags der Gründung der Nationalen Volksarmee am 1. März 1956 (1)
Ohrfeige für Henry
Von Harry Popow
NRhZ 692 vom 13.02.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25625
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (2)
Weiße Armbinden
NRhZ 700 vom 10.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25802
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (3)
Träumender Trommler
NRhZ 701 vom 17.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25821
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (4)
Bei Präsident Pieck
NRhZ 702 vom 24.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25839
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (5)
Steinkohlen-Zeit: Der Autor als Berglehrling
NRhZ 703 vom 01.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25860
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (6)
Geologen-Zeit: Der Autor als Kollektor
NRhZ 704 vom 08.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25877
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (7)
Knobelbecher-Zeit
NRhZ 705 vom 15.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25903
Online-Flyer Nr. 706 vom 22.05.2019