NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 21. Dezember 2024  

Fenster schließen

Literatur
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (10)
Sekt in der Badewanne: Der Autor wird Unterleutnant
Von Harry Popow

Wer liebt Prüfungen, Abschlussprüfungen gar? Danach finden drei Jahre wohlbehütete strenge Ausbildung ihr Ende. Henry, dem das Militärische nun nicht gerade ans Herz gewachsen ist, muss zufrieden sein, gerade so über die Runden zu kommen. Bisherige Prüfungen auf der Sturmbahn, in Geschichte, im 3000m-Lauf sogar gut bestanden. Den Zwischenerfolg hat er mit seinem Freund Waldi im HdO (Haus der Offiziere) am Sonntag ausgiebig gefeiert. Manchmal schaut er sinnend aus dem Fenster des riesigen Schlafsaales. Ein farbenprächtiger Herbst. Stundenlang konnte er früher durch den herbstlichen Laubwald laufen - ganz alleine. Wie viel Kraft und Ruhe er sich dabei holte. Im bevorstehenden Urlaub will Henry viel wandern. Übrigens: Was andere schon längst vor ihm taten - er entschloss sich erst jetzt, Kandidat der SED zu werden. Das hat ihm niemand eingegeben, unter dem Motto „du musst“. Es ist seine bisherige Erkenntnis: Das, was man als Partei anstrebt, eine humanistische Ordnung, deckt sich mit seinem großen gedachten Gemälde, seinen Vorstellungen von einer menschlichen Gesellschaft, von viel Wärme zwischen den Menschen und ohne Kriege, dies vor allem. Dies ist seine Messlatte. Sie wird er anlegen, mal bewusst, mal unbewusst. Freude ist vorprogrammiert und auch manches Anecken.
 
Am 7.10.1957 um 12.40 Uhr: Endlich im Ziel!! Nach drei Jahren Büffelei und mancher Entbehrung - vor drei Stunden und 40 Minuten sind die Schüler zum Offizier ernannt worden. Zum Unterleutnant. Nur jene wenigen, die mit Auszeichnung bestanden haben, wurden gleich Leutnant. Henry hat es eilig. Jetzt schnell umziehen, raus aus den Stiefeln, rein in die Ausgangsuniform - und ab in die Stadt. Am Abend in der Diesterwegstraße, Cleos zu Hause. Eine Schauspielerin, Cleo, Jutta, Henry, sein Freund Waldi und die Eltern von Cleo. Die Badewanne voll mit kaltem Wasser, darin jede Menge Sektflaschen. Cleos Mama Gerda hockt vor Henry, der auf einem Sofa sitzt, und sie sagt: „Wenn du doch unser Schwiegersohn wärst.“
 
Ab in die „Taiga“

Pinnow bei Angermünde. Dorthin ist Henry mit noch anderen jungen Offizieren unmittelbar nach den Prüfungen und der Ernennung zum Unterleutnant verfrachtet worden. Dort waren sie zum Praktikum. Die Enttäuschung sitzt tief in ihm. Wer zuviel träumt, kommt ins Stolpern. (…)

In einem der ersten Briefe an Cleo verschafft sich Henry ein wenig Luft: „Pinnow ist ein kleines, langweiliges Dorf. Eine Kirche, ein Konsum und ne Kneipe. Kein Theater, kein Niveau. Banales und langweiliges Geschwätz. Fünfzehn Minuten Bahnfahrt von Pinnow nach Angermünde. Eine Kleinstadt. Kleine, bald zusammenfallende Häuser, gepflasterte Straßen. Meine Gefühle sind wie abgestorben. Wie ich beurteilen kann, habe ich mich bisher gegenüber den Soldaten nicht überworfen und nicht ‚vergessen‘. Hier muss man viel Verständnis aufbringen. Viele Soldaten haben nur sechs bis sieben Klassen Grundschule besucht und sind tatsächlich sehr unwissend. Aber man darf den Mut nicht sinken lassen. Man muss immer das Gute und Schöne im Auge behalten.“

Es ist Mitte November. Hat sich Henry eingewöhnt? Vielleicht, keinesfalls aber angepasst. Er sucht weiter im Himmel nach einer Wolke für sich und hält fest: Es ist 18 Uhr. Wie schnell doch die Zeit vergeht. Ich sitze in einem kalten Hotelzimmer in Angermünde. Draußen ist es dunkel. Die Glocken der Kirchturmuhr schlagen. Was hat mich hier nicht schon alles angeekelt. Ich muss mich aber zusammennehmen, alles ist vergänglich. Wie eine kleine wunderbare Blume inmitten eines trostlosen Gartens kam mir heute eine nette junge Dame vor, die ich in einem Laden sah. Montag will ich zur Modenschau in den „Berliner Hof“, einem Hotel und Restaurant. Carlo Rausch aus Leipzig führt sie vor. Mittwoch bekam ich einen netten Brief von Cleo. Interessiert sie sich noch ein wenig für mich? Ein Jahr will ich es hier durchhalten - und dann Versetzungsgesuch nach Rostock oder Schwerin schreiben, (oder Leipzig?).

Der Soldatenalltag hat seine Tücken. Eine straffe Ausbildung hätte sich Henry ja noch gefallen lassen, so aber vergeht einem alles. Immer wieder fragen er und die anderen Zugführer sich, was denn das nur für eine Ausbildung ist? Manchmal hat Henry nur an die zehn Soldaten (immer noch alles Freiwillige) im Zug, und wenn die noch zum Wirtschaftsdienst in die Küche müssen, dann schreibt er neue Konspekte für eine Ausbildung, die noch in den Sternen steht. Des Abend’s wissen die jungen Offiziere mitunter noch nicht einmal, welches Thema am nächsten Tag dran ist. Henry erinnert sich: Es gibt zwar einen Plan, aber es kommt eben oft anders, auch plötzliches „Wache stehen“ mit dem Zug. Mal im eigenen Objekt, mal in Prenzlau, wo unser Stab des Schützenregiments liegt. Auch der Feierabend ist überhaupt nicht planbar. Da hocken wir Zugführer in der Baracke, im eisernen Öfchen glimmen die Briketts, und wir warten wie „auf Kohlen“ auf den Kompaniechef, der jetzt, um 21 Uhr, noch einmal zur Besprechung in den Stab musste.


Harry Popow: „Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten“



Druck und Verlag: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, 500 Seiten: 500, 26,99 Euro, Bestellen hier


Der Autor Harry Popow wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 glücklich verheiratet.


Siehe auch:

Auszug aus "In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 63. Jahrestags der Gründung der Nationalen Volksarmee am 1. März 1956 (1)
Ohrfeige für Henry
Von Harry Popow
NRhZ 692 vom 13.02.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25625

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (2)
Weiße Armbinden
NRhZ 700 vom 10.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25802

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (3)
Träumender Trommler
NRhZ 701 vom 17.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25821

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (4)
Bei Präsident Pieck
NRhZ 702 vom 24.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25839

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (5)
Steinkohlen-Zeit: Der Autor als Berglehrling
NRhZ 703 vom 01.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25860

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (6)
Geologen-Zeit: Der Autor als Kollektor
NRhZ 704 vom 08.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25877

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (7)
Knobelbecher-Zeit
NRhZ 705 vom 15.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25903

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (9)
Tee mit Rum
NRhZ 706 vom 22.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25923

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (9)
Parade in Berlin: Der Autor als Offiziersschüler
Von Harry Popow
NRhZ 707 vom 29.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25940

Online-Flyer Nr. 708  vom 05.06.2019



Startseite           nach oben