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Arbeit und Soziales
Soziologe verkündet im SPIEGEL Fake News zur Arbeitslosigkeit
Verschröderung
Von Harald Schauff
Seit Jahren sinken die offiziellen Arbeitslosenzahlen. Regierung, Wirtschaftsverbände und die meisten Medien überbieten sich gegenseitig im Bejubeln des ‚robusten Arbeitsmarktes‘. Merkwürdig allerdings: Gleichfalls bereits seit Jahren wird die ‚niedrigste Arbeitslosenquote seit der Wiedervereinigung‘, also seit Beginn der 90er, gemeldet. Man vernimmt es, staunt und fragt sich, wann endlich die 2-Millionen-Marke gerissen wird und die Quote auf den Stand von Ende der 80er sinkt. Sie verbessert sich nur noch hinter dem Komma, hauptsächlich an der zweiten Stelle. Die 2-Millionen-Marke rückt nur langsam näher. In der Mathematik würde vom ‚Grenzwert‘ die Rede sein: Die Tendenz weist eindeutig dorthin, der Wert selbst wird jedoch niemals erreicht.
Bei den offiziellen so wenig wie bei den inoffiziellen Zahlen, die um über 900.000 höher liegen. Hierzu zählen mehrheitlich Erwerbslose in Beschäftigungs- und Fortbildungsmaßnahmen der Arbeitsagenturen so wie krank gemeldete und über 58 jährige. Diese drei Gruppen gelten offiziell nicht als arbeitslos, sondern als ‚unterbeschäftigt‘. Ein statistischer Trick. Werden die ‚Unterbeschäftigten‘ zur offiziellen Arbeitslosenzahl gezählt, ergibt sich der eigentliche Wert: Zuletzt knapp 3,2 Mill. Der Grenzwert, auf den es zuläuft, ist hier die 3.
Offiziell wie inoffiziell lief es mit dem Rückgang zuletzt eher langsam. Nicht schlimm, laut Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) ist Zeit bis 2025. Dann soll endgültig Vollbeschäftigung herrschen. Jetzt ist sie auch schon dicht daran, dank Statistik-Trick. Den nimmt mancher Schönfärber als Steilvorlage, um uns den Bären aufzubinden, Erwerbspersonen wären heute allgemein wesentlich besser gestellt als in früheren Jahrzehnten.
Im SPIEGEL gibt es die lesenswerte Rubrik ‚Früher war alles schlechter‘. Sie klärt auf über Faktoren, die sich langfristig zum Besseren entwickeln und den Eindruck widerlegen, dass in früheren Zeiten alles besser war. Fortschritte in Bereichen wie Schulbildung, medizinische Versorgung oder Zugang zu Elektrizität und Trinkwasser werden aufgezeigt. Es gibt weniger Tote durch Krieg und Hunger. Europa hat nur noch einen Bruchteil der Grenzen wie zu Zeiten der Kleinstaaterei.
So weit, so aufschlussreich. Anfang diesen Jahres wagt sich ein Gastautor, der Marburger Soziologe Martin Schröder in den schwammigen Bereich der Arbeitslosenstatistik vor. Er erinnert an die schlechte Stimmung in den 90er Jahren, als die Arbeitslosenquote immer weiter zu steigen schien. Doch soll es schon damals nicht gar so schlimm gewesen sein, denn es betraf ‚vor allem Menschen ohne Ausbildung‘. Laut Schröder insgesamt jeden vierten davon.
Nach Umsetzung der Agenda 2010 ab 2005 sank die Arbeitslosigkeit immer weiter. Ein Schröder bedankt sich beim anderen für die Vorlage zu seinen Zahlenspielereien. Dann präsentiert er schöne Zahlen: Demnach betrug die Arbeitslosenquote von Akademikern nie mehr als 4,5 Prozent, von Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung sind nur noch knapp 4 Prozent arbeitslos. Per Definition herrscht in beiden Gruppen Vollbeschäftigung. Man könnte es auch anders lesen: Hochschulabschluss und Berufsausbildung garantieren nicht allen einen Job.
Schröder geht darüber hinweg, er hat noch mehr gute Nachrichten: Auch bei Unqualifizierten ist die Quote gesunken. Zudem gibt es von ihnen immer weniger: 10 Prozent sind es heute, in den 80ern war es noch ein Viertel.
Ob es daher rührt, dass immer mehr Menschen in ‚schlechten und schlecht bezahlten Jobs gefangen sind‘, fragt der Soziologe. Und gibt selbst die Antwort: „Umfragen belegen dies nicht“. Der kritische Leser staunt. Ja, das steht da tatsächlich. Im SPIEGEL, nicht in der ‚Bild‘.
Als erstes fällt dazu ein: Wo wurden die Umfragen durchgeführt? In den besseren Vierteln und Speckgürteln der Großstädte?
Als nächstes kommt das Eigenlob des Agenda-Kanzlers Schröder in den Sinn, einen der besten Niedriglohnsektoren Europas aufgebaut zu haben. Als Drittes die Anzahl der ausschließlich geringfügig Beschäftigten: Sie pendelt seit Jahren um die 5 Mill. Zum Vierten eine Meldung von welt.de April diesen Jahres: Danach haben 3,38 Mill. Arbeitnehmer trotz Vollzeitjobs einen Bruttoverdienst von weniger als 2000 Euro im Jahr, ergibt eine Quote von 16 Prozent; Stand: Ende 2017. All dies beinhaltete die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linkspartei. In Großstädten wie Frankfurt und München nächtigen einige Vollzeit-Beschäftigte mittlerweile in Obdachlosenheimen, weil sie keinen bezahlbaren Wohnraum finden.
Laut Auskunft der Bundesregierung auf eine weitere Anfrage der Linken werden in rund jedem vierten Beschäftigungsverhältnis Niedriglöhne gezahlt. Betroffen sind 9 Mill. Menschen, ergibt eine Quote von 24,5 Prozent. Leiharbeit und befristete Beschäftigung tun ein Übriges.
Offenbar kann all das einen Schönrechner wie Schröder nicht erschüttern. Er führt die ‚durchschnittliche Jobzufriedenheit‘ an. Sie soll heute in Deutschland zwischen 7 und 8 von 10 möglichen Punkten liegen im Vergleich zu den 80ern. Wer sich darüber und über die niedrige Arbeitslosigkeit nicht freut, ‚war vielleicht einfach noch nie arbeitslos‘, heißt es dreist zum Schluss. Wer schon einmal arbeitslos war und/oder den Arbeitsmarkt in seinen unterschiedlichen Facetten kennen gelernt hat, kann über derartige statistische Verballhornungen nur den Kopf schütteln. Dass er solchen springertauglichen ‚Fake News‘ Raum gibt, verpasst dem SPIEGEL einen deftigen Kratzer. Es passt jedoch zu seiner eher wirtschaftsliberalen Linie, die das Magazin auch die Märchen vom Fachkräftemangel und vom angeblich arbeitnehmerfreundlichen Arbeitsmarkt aufgreifen lässt.
Überhaupt nicht passt dafür dieses Mal der Rubrik-Titel ‚Früher war alles schlechter‘. Tatsächlich gab es in der deutschen Geschichte eine Phase, wo der Arbeitsmarkt deutlich besser da stand, ohne geschönte Zahlen: Ab der zweiten Hälfte der 50er Jahre herrschte tatsächlich Vollbeschäftigung, Mitte der 60er sogar Unterbeschäftigung. Schröders Zeitleiste reicht nur bis zu den 80ern. Merke: Zum Schönrechnen gehört auch das Verkürzen.
Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe Juni 2019, erschienen.
Online-Flyer Nr. 708 vom 05.06.2019
Soziologe verkündet im SPIEGEL Fake News zur Arbeitslosigkeit
Verschröderung
Von Harald Schauff
Seit Jahren sinken die offiziellen Arbeitslosenzahlen. Regierung, Wirtschaftsverbände und die meisten Medien überbieten sich gegenseitig im Bejubeln des ‚robusten Arbeitsmarktes‘. Merkwürdig allerdings: Gleichfalls bereits seit Jahren wird die ‚niedrigste Arbeitslosenquote seit der Wiedervereinigung‘, also seit Beginn der 90er, gemeldet. Man vernimmt es, staunt und fragt sich, wann endlich die 2-Millionen-Marke gerissen wird und die Quote auf den Stand von Ende der 80er sinkt. Sie verbessert sich nur noch hinter dem Komma, hauptsächlich an der zweiten Stelle. Die 2-Millionen-Marke rückt nur langsam näher. In der Mathematik würde vom ‚Grenzwert‘ die Rede sein: Die Tendenz weist eindeutig dorthin, der Wert selbst wird jedoch niemals erreicht.
Bei den offiziellen so wenig wie bei den inoffiziellen Zahlen, die um über 900.000 höher liegen. Hierzu zählen mehrheitlich Erwerbslose in Beschäftigungs- und Fortbildungsmaßnahmen der Arbeitsagenturen so wie krank gemeldete und über 58 jährige. Diese drei Gruppen gelten offiziell nicht als arbeitslos, sondern als ‚unterbeschäftigt‘. Ein statistischer Trick. Werden die ‚Unterbeschäftigten‘ zur offiziellen Arbeitslosenzahl gezählt, ergibt sich der eigentliche Wert: Zuletzt knapp 3,2 Mill. Der Grenzwert, auf den es zuläuft, ist hier die 3.
Offiziell wie inoffiziell lief es mit dem Rückgang zuletzt eher langsam. Nicht schlimm, laut Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) ist Zeit bis 2025. Dann soll endgültig Vollbeschäftigung herrschen. Jetzt ist sie auch schon dicht daran, dank Statistik-Trick. Den nimmt mancher Schönfärber als Steilvorlage, um uns den Bären aufzubinden, Erwerbspersonen wären heute allgemein wesentlich besser gestellt als in früheren Jahrzehnten.
Im SPIEGEL gibt es die lesenswerte Rubrik ‚Früher war alles schlechter‘. Sie klärt auf über Faktoren, die sich langfristig zum Besseren entwickeln und den Eindruck widerlegen, dass in früheren Zeiten alles besser war. Fortschritte in Bereichen wie Schulbildung, medizinische Versorgung oder Zugang zu Elektrizität und Trinkwasser werden aufgezeigt. Es gibt weniger Tote durch Krieg und Hunger. Europa hat nur noch einen Bruchteil der Grenzen wie zu Zeiten der Kleinstaaterei.
So weit, so aufschlussreich. Anfang diesen Jahres wagt sich ein Gastautor, der Marburger Soziologe Martin Schröder in den schwammigen Bereich der Arbeitslosenstatistik vor. Er erinnert an die schlechte Stimmung in den 90er Jahren, als die Arbeitslosenquote immer weiter zu steigen schien. Doch soll es schon damals nicht gar so schlimm gewesen sein, denn es betraf ‚vor allem Menschen ohne Ausbildung‘. Laut Schröder insgesamt jeden vierten davon.
Nach Umsetzung der Agenda 2010 ab 2005 sank die Arbeitslosigkeit immer weiter. Ein Schröder bedankt sich beim anderen für die Vorlage zu seinen Zahlenspielereien. Dann präsentiert er schöne Zahlen: Demnach betrug die Arbeitslosenquote von Akademikern nie mehr als 4,5 Prozent, von Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung sind nur noch knapp 4 Prozent arbeitslos. Per Definition herrscht in beiden Gruppen Vollbeschäftigung. Man könnte es auch anders lesen: Hochschulabschluss und Berufsausbildung garantieren nicht allen einen Job.
Schröder geht darüber hinweg, er hat noch mehr gute Nachrichten: Auch bei Unqualifizierten ist die Quote gesunken. Zudem gibt es von ihnen immer weniger: 10 Prozent sind es heute, in den 80ern war es noch ein Viertel.
Ob es daher rührt, dass immer mehr Menschen in ‚schlechten und schlecht bezahlten Jobs gefangen sind‘, fragt der Soziologe. Und gibt selbst die Antwort: „Umfragen belegen dies nicht“. Der kritische Leser staunt. Ja, das steht da tatsächlich. Im SPIEGEL, nicht in der ‚Bild‘.
Als erstes fällt dazu ein: Wo wurden die Umfragen durchgeführt? In den besseren Vierteln und Speckgürteln der Großstädte?
Als nächstes kommt das Eigenlob des Agenda-Kanzlers Schröder in den Sinn, einen der besten Niedriglohnsektoren Europas aufgebaut zu haben. Als Drittes die Anzahl der ausschließlich geringfügig Beschäftigten: Sie pendelt seit Jahren um die 5 Mill. Zum Vierten eine Meldung von welt.de April diesen Jahres: Danach haben 3,38 Mill. Arbeitnehmer trotz Vollzeitjobs einen Bruttoverdienst von weniger als 2000 Euro im Jahr, ergibt eine Quote von 16 Prozent; Stand: Ende 2017. All dies beinhaltete die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linkspartei. In Großstädten wie Frankfurt und München nächtigen einige Vollzeit-Beschäftigte mittlerweile in Obdachlosenheimen, weil sie keinen bezahlbaren Wohnraum finden.
Laut Auskunft der Bundesregierung auf eine weitere Anfrage der Linken werden in rund jedem vierten Beschäftigungsverhältnis Niedriglöhne gezahlt. Betroffen sind 9 Mill. Menschen, ergibt eine Quote von 24,5 Prozent. Leiharbeit und befristete Beschäftigung tun ein Übriges.
Offenbar kann all das einen Schönrechner wie Schröder nicht erschüttern. Er führt die ‚durchschnittliche Jobzufriedenheit‘ an. Sie soll heute in Deutschland zwischen 7 und 8 von 10 möglichen Punkten liegen im Vergleich zu den 80ern. Wer sich darüber und über die niedrige Arbeitslosigkeit nicht freut, ‚war vielleicht einfach noch nie arbeitslos‘, heißt es dreist zum Schluss. Wer schon einmal arbeitslos war und/oder den Arbeitsmarkt in seinen unterschiedlichen Facetten kennen gelernt hat, kann über derartige statistische Verballhornungen nur den Kopf schütteln. Dass er solchen springertauglichen ‚Fake News‘ Raum gibt, verpasst dem SPIEGEL einen deftigen Kratzer. Es passt jedoch zu seiner eher wirtschaftsliberalen Linie, die das Magazin auch die Märchen vom Fachkräftemangel und vom angeblich arbeitnehmerfreundlichen Arbeitsmarkt aufgreifen lässt.
Überhaupt nicht passt dafür dieses Mal der Rubrik-Titel ‚Früher war alles schlechter‘. Tatsächlich gab es in der deutschen Geschichte eine Phase, wo der Arbeitsmarkt deutlich besser da stand, ohne geschönte Zahlen: Ab der zweiten Hälfte der 50er Jahre herrschte tatsächlich Vollbeschäftigung, Mitte der 60er sogar Unterbeschäftigung. Schröders Zeitleiste reicht nur bis zu den 80ern. Merke: Zum Schönrechnen gehört auch das Verkürzen.
Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe Juni 2019, erschienen.
Online-Flyer Nr. 708 vom 05.06.2019