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Kultur und Wissen
Einer der oberschlauesten aller rechten Intelellis - Hans Enzensberger - wird 90. Zur wiederholten Würdigung eines preisgekrönten deutschen Wendelebens
Von der moralischen Überdüngung des Mobs
Von Werner Rügemer
Hans Enzensberger wird 90 Jahre alt und wird in den sich als „bürgerlich“ verstehenden Gazetten wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seitenlang – wieder mal - hoch und breit gewürdigt. Die Zahl seiner Literaturpreise übersteigt die Zahl der Literaturpreise aller anderen lebenden und toten deutschen Dichter. Denn die lange Reise des Enzensbergers von ganz links nach ganz rechts musste und muss zahlreich und endlos gewürdigt werden – jetzt wieder zum 90. Im Feuilleton gönnt sich sowas, ohne es selbst zu lesen, die geistlose Kapital-Elite, die – im Wirtschaftsteil derselben Kapital-Gazetten - ihre Gewinne loben lässt, auf denen sie verfettet, leistungslos und asozial der nächsten Finanzkrise lukrativ entgegendämmert.
Denn ein Lob dieser entfesselten Asozialität ist umso glaubwürdiger, je weiter von Links und von Gebildet der Lobredner kommt. Und da hat, was das Linke (oder Halblinke, oder jedenfalls „Kritische“) angeht, der Enzensberger durchaus seine Verdienste in dunkler Zeit, in seinen Anfängen. Der Gedichtband „verteidigung der wölfe“ 1957 riss in die christlich lackierte Nazi-Protektion mit dem Politikdarsteller Adenauer ebenso ein kräftiges literarisches Loch wie in das dümmliche Diktum des kritische Theorie-Fürsten Adorno, der Gedichte „nach Auschwitz“ für unmöglich und unpassend hielt. Im „Kursbuch“ versammelte Herausgeber Enzensberger dann 1965 bis 1975 eine Mischung kritischer Stimmen aus aller Welt, was neu war in bundesdeutscher Provinz und übereinstimmte mit der antiautoritären Richtung des damaligen 1968er Aufbruchs. Gegen den Vietnam-Krieg der USA, für Castro – alles gut, jedenfalls gut gemeint, nicht falsch, unterstützt und geteilt von vielen, aber alles auch schnell wieder verlassen.
Wie Enzensberger schneller und früher da war als die linken 1968er, so war er auch schneller und früher auf dem Weg nach rechts. Zwischenstation war das Lob des Anarchismus in Gestalt des spanischen Anarchisten Durruti, der im Bürgerkrieg gefallen war. Anarchismus, kurzzeitig, sprachmächtig, real erfolglos und in der Vergangenheit – das duldet auch das Bürgertum als zulässige Arabeske. Mit der „Anderen Bibliothek“ ab 1985 gelang Enzensberger etwas sehr Verdienstvolles, Auflagen vergessener Schriften der Aufklärung, so auch des erst jetzt wieder entdeckten Alexander von Humboldt, sogar auch die von US-Ermittlern für das Nürnberger Militärtribunal (zunächst) erstellte Anklageschrift gegen die Deutsche Bank - die dann aber doch nicht angeklagt, sondern gefördert wurde, und die umfang- und detailreiche Anklageschrift wurde bundesdeutsch-amerikanisch schnell vergessen. Freilich war diese „andere“ Bibliothek bibliophil und bildungsbürgerlich eingekleidet, teuer, war nur zugänglich für gebildete Genießer.
Und beim Herausgeber, dessen einzigartiger „Universalanspruch“ auch heute zum 90. wieder gelobt wird (er wäre tatsächlich dringend nötig, jenseits der flachen „Globalisierungs“kritik), da fehlte allerdings jeder Anflug von politischer Ökonomie – davon braucht und soll ein guter preisverdächtiger deutscher Dichter natürlich keine Ahnung zu haben: äh, pfui, das krude Kapital, die ausgebeutete Arbeit, beides ungebildet, sprachlos, unsichtbare Ober- und Unterklasse. Das alles – einschließlich der „Suhrkamp-Kultur“, zu der Enzensberger wie Habermas prominent beitrug -, zeigt deshalb die durchaus anspruchsvoll und gebildet begründete Ambivalenz zahlreicher Linker, Halblinker, Kritischer, Liberallos und Liberallas im vereinigten Deutschland. Aus Gutem konnte vieles werden.
Der Enzensberger treidelte nach rechts – halb zog es ihn mit Preisen und Honoraren, halb fiel er freudig und wortreich hin und hinauf. Er wurde zum freiwilligen, Spiegel-, Welt-, FAZ-, ZEIT-hochpreisig abgedruckten essayistischen Unterstützer der vormals heftigst kritisierten US-Krieger, etwa mit seinem Joschka Fischer-ähnlichen Verdikt des Saddam Hussein als „Wiedergänger Hitlers“. In den Redaktionen traf er die mit ihm gewendeten, etwas jüngeren „Alt-68er“. Zeitgeistig früh spürsinnig kam auch die Kritik an „den Medien“ und an der Europäischen Union dazu. Die Brüsseler Kommission entmündige Europa, ließ der Essayist hochkritisch verlauten, „Brüssel“ sei ein „Monster“ - aber auch ein „sanftes Monster“, ach so. Also heftige Kritik, und alles ist dann doch nicht so schlimm. Auch so kann man die neue Rechte vorbereiten. Ein exemplarisches deutsches Wendeleben.
Im folgenden deshalb zu Erinnerung und Ergötzung nochmals meine vor zwei Jahrzehnten veröffentlichte Würdigung des 1998 mal wieder einen hochkarätigen Preis empfangenden Dichters, der spätestens in den 1990er Wendejahren konjunkturläufig endgültig ebenfalls nach rechts geoutet und gewendet war, elegant, unterhaltsam (jedenfalls für manche in den regierenden „Volks“parteien und akademischen Wissenschaften), extrem rechts. Meine Würdigung konnte damals noch im inzwischen längst verschwundenen WDR-Sendeplatz „Kritisches Tagebuch“ erscheinen und ist nun enthalten in dem Sammelband „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur“, Köln (Papyrossa) 3. Auflage 2019.
Von der moralischen Überdüngung des Mobs
Enzensberger: Unwürdiger Träger des Heinrich Heine-Literaturpreises
Am 13. Dezember 1998 erhielt der Schriftsteller Hans Enzensberger den Heinrich Heine-Preis der Stadt Düsseldorf. In seiner Dankesrede, abgedruckt im „Spiegel“, beschimpfte der Preisträger die Verweser des Schuldbewußtseins, also die Medien, Sozialpolitiker, Bischöfe, Wohlfahrtsverbände und sozialpolitische Parteisoldaten. Sie überschütten nach Meinung des Preisträgers die gutmütigen Deutschen mit Dauerkritik an der ungerechten Zwei-Drittel-Gesellschaft, an der hemmungslosen Globalisierung oder sogar am brutalen Kapitalismus. Sie wollen soziale Gerechtigkeit. Dagegen fordert Enzensberger, der die unendliche Gutmütigkeit der Deutschen lobt und erhalten wissen möchte: Lasst ab von euren ewigen Vorwürfen! Senkt eure Stimme!
Preisgekrönte Arbeit am herrschenden Vorurteil
Wie der schärfste Hundt der Arbeitgeberverbände1 stöbert der Preisträger böse soziale Begriffe auf, etwa im Programm einer politischen Partei in Deutschland: Nicht umsonst tauchen die Worte ‚sozial‘, ‚gerecht“ und ‚Gerechtigkeit‘ im Programm der führenden Regierungspartei2 genau 123 mal auf, ein einziges Mantra der Umverteilung. Gegen eine solche oder herbeifantasierte Umverteilung hat der Preisträger nun schon über ein Jahrzehnt lang angeschrieben.
Er will nachweisen, dass der behauptete Abstand zwischen Arm und Reich nicht besteht. Er zitiert aus einer Expertenstudie, dass von einer Schere zwischen Arm und Reich, die sich immer weiter öffne, keine Rede sein könne. Zwischen 1985 und 1995 sei das Einkommen in allen Schichten gewachsen. In dieser Studie, so ergibt allerdings eine genauere Lektüre, werden unter der Überschrift „Einkommensentwicklung – alle haben gewonnen“ nur die unteren Einkommen dargestellt, in denen das monatliche Nettoeinkommen zwischen 692 DM („Unterschicht“) und 3.477 DM („Oberschicht“) beträgt. Deshalb kann der Preisträger leicht die Tatsache verdrängen, dass die Zahl der Haushalte mit einem monatlichen Einkommen über 10.000 DM zwischen 1983 und 1993 von 300.000 auf das fast Sechsfache angestiegen ist, nämlich auf 1,7 Millionen. Und der sehr schlaue Preisträger erwähnt nicht, dass die von ihm zitierte Studie von der Industrielobby erstellt wurde, nämlich vom Institut der Deutschen Wirtschaft.
So fühlt sich der vielgepriesene und vielbepreiste Nochmals-Preisträger ausreichend munitioniert, die Kritik an der existierenden Ungleichheit zu widerlegen. Er polemisiert gegen die Schlaraffenländer des Westens, in denen sich eine wundersame Vermehrung der Bedürftigen ereigne, denen es aber auf immer höherem Niveau immer besser gehe. Da Armut statistisch gegeben sei, wenn man über weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verfüge, herrsche ja auch dann noch Armut, wenn alle zu Millionären geworden sind: Selbst wenn das Pro-Kopf-Einkommen auf über zwei Millionen Mark stiege, würde es an Armen nicht mangeln; sie würden sich aus den einfachen Millionären rekrutieren. Bei dieser mäßig witzigen Rechnung brach das Preisverleihungs-Publikum im Düsseldorfer Schauspielhaus übrigens in heiter-belustigten Beifall aus.
Beifall für den Fälscher
Die Arbeitnehmer sind nach Enzensberger zwar nicht ärmer geworden, dafür aber immer unverschämter – und der Staat helfe ihnen dabei. Dazu zitiert der am häufigsten geehrte Essayist der deutschen Gegenwart ein Gerichtsurteil: Ein städtischer Arbeitnehmer, der sich krankschreiben lässt, darf beispielsweise jederzeit öffentlich als Musiker auftreten (Aktenzeichen 2 Sa 157/97, Landesarbeitsgericht Bremen), sodass seiner guten Laune nichts mehr im Wege steht.
Enzensberger simuliert mit dem Verweis auf das Aktenzeichen Kenntnis und Exaktheit. Doch im Urteil steht etwas ganz anderes: Der Arbeitnehmer hatte gegen die Abmahnung durch seine Behörde geklagt, die hatte ihn unter Androhung einer Strafe verpflichtet, bei einem Konzert als Mundharmonikaspieler aufzutreten, obwohl er krank war – die Behörde war selbst Veranstalter des Konzerts! Der Arbeitnehmer hatte einen zusätzlichen Vertrag für diesen Auftritt. Das Arbeitsgericht erklärte die Abmahnung für unwirksam, wies aber auch darauf hin, dass nach Beamtengesetz künstlerische Nebentätigkeiten zulässig sind, wenn sie von der Behörde sowieso genehmigt sind. Daraus fälscht unser Preisträger einen Arbeitnehmer, der, repräsentativ für Arbeitnehmer heute, sich gern krank meldet, um sich einen schönen Lenz einschließlich eines schönen Nebenverdienstes zu machen.
Mutig essayiert unser Fälscher dann weiter, dass die Deutschen bei einer Staatsquote von 48,8 Prozent angelangt seien. Hier verwechselt er zunächst die Staatsquote mit der individuellen Steuer- und Abgabenlast. Nun ist es aber auch so, dass die 48,8 Prozent nur für die Lohnbezieher zutreffen. Zum Beispiel zahlen Beamte weder für Arbeitslosen- und Rentenversicherung Beiträge. Manager der höheren Kategorie zahlen ebenfalls keine solchen Beiträge, sondern sie erhalten neben ihrem Gehalt und neben anderen Zusatzleistungen (Dienstwagen, Unkostenpauschale, Aktienoptionen, Boni) Einzahlungen für die Pension. Und die tatsächlich gezahlten Steuern der Selbständigen betragen im Durchschnitt gegenwärtig 11 Prozent. Bekanntlich haben es einige dieser Sozialkünstler sogar dazu gebracht, dass ihnen der Staat mehr Steuern erstattet als sie gezahlt haben.
Das Volk: Vom Mob zur Bestie
Der Preisträger hatte seine „Information“ über den Bremer Stadtmusikanten aus der Zeitung „Die Welt“ entnommen. Die Falschmeldung war von der Nachrichtenagentur dpa am 24.2.1998 verbreitet und vielfach wiederholt worden. Das Landesarbeitsgericht Bremen gab deshalb am 27.2.1998 eine Pressemitteilung heraus, um den tatsächlichen Inhalt des Urteils bekannt zu machen – keines unserer „renommierten“ Leitmedien war zu einer Korrektur bereit, so beklagt sich der Sprecher des Gerichts bitter noch heute, fast ein Jahr später. So konnte der hochintellektuelle Preisträger, mitschwimmend in kollektiver Selbsterblindung, die Falschmeldung ungestört weiter für die Wahrheit nehmen, als er seine Arbeit am herrschenden Vorurteil genüsslich für seine Dankesrede vollendete. Und nun ist das Produkt im „Spiegel“ abgedruckt, sodass ihr ewiges mediales Leben gesichert ist.
Enzensbergers Hausblatt setzte dem Abdruck noch eins drauf. Redakteur Alexander Smolzcyk erschloss als Motiv des Preisträgers, er habe seine Rede verfasst aus Unmut über moralische Überdüngung. Die Überdüngung der Menschen spüre Deutschlands bestbezahlter Dichter, wenn er aus seiner Wohnung an Münchens Englischem Garten auf die Straße gehe. Er habe tatsächlich einiges zu verteidigen: Ein Buchstabe Enzensberger wird auf dem Essay-Markt zur Zeit mit etwa anderthalb Mark notiert. Das erreicht in Deutschland kein anderer Dichter. Deshalb, wenn er also auf die Straße gehe, habe er Angst, wie es in einem seiner letzten Gedichte heiße, ob einer um die Ecke kommt, ihn totzuschlagen. Und wenn er aus dem Fenster seiner Wohnung sehe, dann sehe er etwas, was schon König Ludwig von Bayern zum Zittern gebracht habe: Vor dem Fenster der Mob. Moralische Überdüngung des Mobs! Smolzcyk/Spiegel wissen: Da ist leise Furcht zu spüren vor brennenden Häusern, vor Aufmärschen, vor allem, was passiert, wenn das Volk, der große Lümmel, zur Bestie wird.
Enzensberger hatte einmal, früher, in kritischen Jahren, die zynische Sprache des „Spiegel“ heftig kritisiert. Er hatte getönt: Es fiele nicht einmal den unverschämtesten Lobrednern ein zu behaupten, die Verhältnisse, in denen wir leben, seien gerecht oder auch nur moralisch akzeptabel.
Der Preisredner im Düsseldorfer Schauspielhaus, ein Professor Wolf Lepenies, Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs, steigerte sich nun zu folgendem Lob für den erfolgreichen Wendehals: Enzensberger ist der deutsche Nationaldichter, ein Libero der intellektuellen Welt, vergleichbar mit Franz Beckenbauer.
In der Begründung für den 25.000 Euro werten Wende-Preis heißt es: Enzensberger steht in der Tradition Heinrich Heines… Repräsentant aufklärerischen Denkens… Seine Kritik an vorgeblichen Wahrheiten stellt nicht nur das Gewohnte infrage, sondern eröffnet neue Sichtweisen.
Mit seinem stümperhaften Verschnitt des neoliberalen Glaubensbekenntnisses steht dieser Preisträger in der Tradition des BDA-Präsidenten Dieter Hundt und des BDI-Präsidenten Hans-Olaf Henkel, aber gewiss nicht Heinrich Heines. Abschreiben aus der herrschenden Tendenzpresse, Manipulieren von Statistiken, Fälschen eines Gerichtsurteils – das ist nicht Aufklärung, sondern deren Perversion. Eröffnung neuer Sichtweisen? Nein – vielmehr literarisch überhöhte Arbeit am alten, asozialen Vorurteil, Bedienung des gehobenen Stammtisches.
Steht hier nicht die Tradition der 1968er und 1989er Wendehälse zur Debatte? Und der Medien- und der literarische Preisbetrieb, in dem die vorherrschenden Klischees endlos gegenseitig bestärkt werden – ohne Möglichkeit der Korrektur - durch Aufklärung?!
Zur Erinnerung: Heine im Original
Zur Erinnerung sei der missbrauchte Namensgeber des Preises zitiert, auch zur gefälligen Lektüre der Mitglieder der unwürdigen Jury, zu denen unter anderen Professor Dr. Rita Süßmuth, Präsidentin des Deutschen Bundestags, der Düsseldorfer Universitätsrektor Professor Dr. Gert Kaiser, der Düsseldorfer Oberstadtdirektor Dr. Peter Hölz und die SPD-Landesministerin Ilse Brusis gehörten. Heine schrieb als Zeitungskorrespondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung aus Paris Mitte des 19. Jahrhunderts:
„Hier in Frankreich herrscht gegenwärtig die größte Ruhe. Ein abgematteter, schläfriger, gähnender Friede. Es ist alles still, wie in einer verschneiten Winternacht. Nur ein leiser, monotoner Tropfenfall. Das sind die Zinsen, die fortlaufend hinabtröpfeln auf die Kapitalien, welche beständig anschwellen, man hört sie ordentlich wachsen, die Reichtümer der Reichen. Dazwischen das leise Schluchzen der Armut, manchmal klirrt etwas, wie ein Messer, das gewetzt wird.
Online-Flyer Nr. 725 vom 13.11.2019
Einer der oberschlauesten aller rechten Intelellis - Hans Enzensberger - wird 90. Zur wiederholten Würdigung eines preisgekrönten deutschen Wendelebens
Von der moralischen Überdüngung des Mobs
Von Werner Rügemer
Hans Enzensberger wird 90 Jahre alt und wird in den sich als „bürgerlich“ verstehenden Gazetten wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seitenlang – wieder mal - hoch und breit gewürdigt. Die Zahl seiner Literaturpreise übersteigt die Zahl der Literaturpreise aller anderen lebenden und toten deutschen Dichter. Denn die lange Reise des Enzensbergers von ganz links nach ganz rechts musste und muss zahlreich und endlos gewürdigt werden – jetzt wieder zum 90. Im Feuilleton gönnt sich sowas, ohne es selbst zu lesen, die geistlose Kapital-Elite, die – im Wirtschaftsteil derselben Kapital-Gazetten - ihre Gewinne loben lässt, auf denen sie verfettet, leistungslos und asozial der nächsten Finanzkrise lukrativ entgegendämmert.
Denn ein Lob dieser entfesselten Asozialität ist umso glaubwürdiger, je weiter von Links und von Gebildet der Lobredner kommt. Und da hat, was das Linke (oder Halblinke, oder jedenfalls „Kritische“) angeht, der Enzensberger durchaus seine Verdienste in dunkler Zeit, in seinen Anfängen. Der Gedichtband „verteidigung der wölfe“ 1957 riss in die christlich lackierte Nazi-Protektion mit dem Politikdarsteller Adenauer ebenso ein kräftiges literarisches Loch wie in das dümmliche Diktum des kritische Theorie-Fürsten Adorno, der Gedichte „nach Auschwitz“ für unmöglich und unpassend hielt. Im „Kursbuch“ versammelte Herausgeber Enzensberger dann 1965 bis 1975 eine Mischung kritischer Stimmen aus aller Welt, was neu war in bundesdeutscher Provinz und übereinstimmte mit der antiautoritären Richtung des damaligen 1968er Aufbruchs. Gegen den Vietnam-Krieg der USA, für Castro – alles gut, jedenfalls gut gemeint, nicht falsch, unterstützt und geteilt von vielen, aber alles auch schnell wieder verlassen.
Wie Enzensberger schneller und früher da war als die linken 1968er, so war er auch schneller und früher auf dem Weg nach rechts. Zwischenstation war das Lob des Anarchismus in Gestalt des spanischen Anarchisten Durruti, der im Bürgerkrieg gefallen war. Anarchismus, kurzzeitig, sprachmächtig, real erfolglos und in der Vergangenheit – das duldet auch das Bürgertum als zulässige Arabeske. Mit der „Anderen Bibliothek“ ab 1985 gelang Enzensberger etwas sehr Verdienstvolles, Auflagen vergessener Schriften der Aufklärung, so auch des erst jetzt wieder entdeckten Alexander von Humboldt, sogar auch die von US-Ermittlern für das Nürnberger Militärtribunal (zunächst) erstellte Anklageschrift gegen die Deutsche Bank - die dann aber doch nicht angeklagt, sondern gefördert wurde, und die umfang- und detailreiche Anklageschrift wurde bundesdeutsch-amerikanisch schnell vergessen. Freilich war diese „andere“ Bibliothek bibliophil und bildungsbürgerlich eingekleidet, teuer, war nur zugänglich für gebildete Genießer.
Und beim Herausgeber, dessen einzigartiger „Universalanspruch“ auch heute zum 90. wieder gelobt wird (er wäre tatsächlich dringend nötig, jenseits der flachen „Globalisierungs“kritik), da fehlte allerdings jeder Anflug von politischer Ökonomie – davon braucht und soll ein guter preisverdächtiger deutscher Dichter natürlich keine Ahnung zu haben: äh, pfui, das krude Kapital, die ausgebeutete Arbeit, beides ungebildet, sprachlos, unsichtbare Ober- und Unterklasse. Das alles – einschließlich der „Suhrkamp-Kultur“, zu der Enzensberger wie Habermas prominent beitrug -, zeigt deshalb die durchaus anspruchsvoll und gebildet begründete Ambivalenz zahlreicher Linker, Halblinker, Kritischer, Liberallos und Liberallas im vereinigten Deutschland. Aus Gutem konnte vieles werden.
Der Enzensberger treidelte nach rechts – halb zog es ihn mit Preisen und Honoraren, halb fiel er freudig und wortreich hin und hinauf. Er wurde zum freiwilligen, Spiegel-, Welt-, FAZ-, ZEIT-hochpreisig abgedruckten essayistischen Unterstützer der vormals heftigst kritisierten US-Krieger, etwa mit seinem Joschka Fischer-ähnlichen Verdikt des Saddam Hussein als „Wiedergänger Hitlers“. In den Redaktionen traf er die mit ihm gewendeten, etwas jüngeren „Alt-68er“. Zeitgeistig früh spürsinnig kam auch die Kritik an „den Medien“ und an der Europäischen Union dazu. Die Brüsseler Kommission entmündige Europa, ließ der Essayist hochkritisch verlauten, „Brüssel“ sei ein „Monster“ - aber auch ein „sanftes Monster“, ach so. Also heftige Kritik, und alles ist dann doch nicht so schlimm. Auch so kann man die neue Rechte vorbereiten. Ein exemplarisches deutsches Wendeleben.
Im folgenden deshalb zu Erinnerung und Ergötzung nochmals meine vor zwei Jahrzehnten veröffentlichte Würdigung des 1998 mal wieder einen hochkarätigen Preis empfangenden Dichters, der spätestens in den 1990er Wendejahren konjunkturläufig endgültig ebenfalls nach rechts geoutet und gewendet war, elegant, unterhaltsam (jedenfalls für manche in den regierenden „Volks“parteien und akademischen Wissenschaften), extrem rechts. Meine Würdigung konnte damals noch im inzwischen längst verschwundenen WDR-Sendeplatz „Kritisches Tagebuch“ erscheinen und ist nun enthalten in dem Sammelband „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur“, Köln (Papyrossa) 3. Auflage 2019.
Von der moralischen Überdüngung des Mobs
Enzensberger: Unwürdiger Träger des Heinrich Heine-Literaturpreises
Am 13. Dezember 1998 erhielt der Schriftsteller Hans Enzensberger den Heinrich Heine-Preis der Stadt Düsseldorf. In seiner Dankesrede, abgedruckt im „Spiegel“, beschimpfte der Preisträger die Verweser des Schuldbewußtseins, also die Medien, Sozialpolitiker, Bischöfe, Wohlfahrtsverbände und sozialpolitische Parteisoldaten. Sie überschütten nach Meinung des Preisträgers die gutmütigen Deutschen mit Dauerkritik an der ungerechten Zwei-Drittel-Gesellschaft, an der hemmungslosen Globalisierung oder sogar am brutalen Kapitalismus. Sie wollen soziale Gerechtigkeit. Dagegen fordert Enzensberger, der die unendliche Gutmütigkeit der Deutschen lobt und erhalten wissen möchte: Lasst ab von euren ewigen Vorwürfen! Senkt eure Stimme!
Preisgekrönte Arbeit am herrschenden Vorurteil
Wie der schärfste Hundt der Arbeitgeberverbände1 stöbert der Preisträger böse soziale Begriffe auf, etwa im Programm einer politischen Partei in Deutschland: Nicht umsonst tauchen die Worte ‚sozial‘, ‚gerecht“ und ‚Gerechtigkeit‘ im Programm der führenden Regierungspartei2 genau 123 mal auf, ein einziges Mantra der Umverteilung. Gegen eine solche oder herbeifantasierte Umverteilung hat der Preisträger nun schon über ein Jahrzehnt lang angeschrieben.
Er will nachweisen, dass der behauptete Abstand zwischen Arm und Reich nicht besteht. Er zitiert aus einer Expertenstudie, dass von einer Schere zwischen Arm und Reich, die sich immer weiter öffne, keine Rede sein könne. Zwischen 1985 und 1995 sei das Einkommen in allen Schichten gewachsen. In dieser Studie, so ergibt allerdings eine genauere Lektüre, werden unter der Überschrift „Einkommensentwicklung – alle haben gewonnen“ nur die unteren Einkommen dargestellt, in denen das monatliche Nettoeinkommen zwischen 692 DM („Unterschicht“) und 3.477 DM („Oberschicht“) beträgt. Deshalb kann der Preisträger leicht die Tatsache verdrängen, dass die Zahl der Haushalte mit einem monatlichen Einkommen über 10.000 DM zwischen 1983 und 1993 von 300.000 auf das fast Sechsfache angestiegen ist, nämlich auf 1,7 Millionen. Und der sehr schlaue Preisträger erwähnt nicht, dass die von ihm zitierte Studie von der Industrielobby erstellt wurde, nämlich vom Institut der Deutschen Wirtschaft.
So fühlt sich der vielgepriesene und vielbepreiste Nochmals-Preisträger ausreichend munitioniert, die Kritik an der existierenden Ungleichheit zu widerlegen. Er polemisiert gegen die Schlaraffenländer des Westens, in denen sich eine wundersame Vermehrung der Bedürftigen ereigne, denen es aber auf immer höherem Niveau immer besser gehe. Da Armut statistisch gegeben sei, wenn man über weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verfüge, herrsche ja auch dann noch Armut, wenn alle zu Millionären geworden sind: Selbst wenn das Pro-Kopf-Einkommen auf über zwei Millionen Mark stiege, würde es an Armen nicht mangeln; sie würden sich aus den einfachen Millionären rekrutieren. Bei dieser mäßig witzigen Rechnung brach das Preisverleihungs-Publikum im Düsseldorfer Schauspielhaus übrigens in heiter-belustigten Beifall aus.
Beifall für den Fälscher
Die Arbeitnehmer sind nach Enzensberger zwar nicht ärmer geworden, dafür aber immer unverschämter – und der Staat helfe ihnen dabei. Dazu zitiert der am häufigsten geehrte Essayist der deutschen Gegenwart ein Gerichtsurteil: Ein städtischer Arbeitnehmer, der sich krankschreiben lässt, darf beispielsweise jederzeit öffentlich als Musiker auftreten (Aktenzeichen 2 Sa 157/97, Landesarbeitsgericht Bremen), sodass seiner guten Laune nichts mehr im Wege steht.
Enzensberger simuliert mit dem Verweis auf das Aktenzeichen Kenntnis und Exaktheit. Doch im Urteil steht etwas ganz anderes: Der Arbeitnehmer hatte gegen die Abmahnung durch seine Behörde geklagt, die hatte ihn unter Androhung einer Strafe verpflichtet, bei einem Konzert als Mundharmonikaspieler aufzutreten, obwohl er krank war – die Behörde war selbst Veranstalter des Konzerts! Der Arbeitnehmer hatte einen zusätzlichen Vertrag für diesen Auftritt. Das Arbeitsgericht erklärte die Abmahnung für unwirksam, wies aber auch darauf hin, dass nach Beamtengesetz künstlerische Nebentätigkeiten zulässig sind, wenn sie von der Behörde sowieso genehmigt sind. Daraus fälscht unser Preisträger einen Arbeitnehmer, der, repräsentativ für Arbeitnehmer heute, sich gern krank meldet, um sich einen schönen Lenz einschließlich eines schönen Nebenverdienstes zu machen.
Mutig essayiert unser Fälscher dann weiter, dass die Deutschen bei einer Staatsquote von 48,8 Prozent angelangt seien. Hier verwechselt er zunächst die Staatsquote mit der individuellen Steuer- und Abgabenlast. Nun ist es aber auch so, dass die 48,8 Prozent nur für die Lohnbezieher zutreffen. Zum Beispiel zahlen Beamte weder für Arbeitslosen- und Rentenversicherung Beiträge. Manager der höheren Kategorie zahlen ebenfalls keine solchen Beiträge, sondern sie erhalten neben ihrem Gehalt und neben anderen Zusatzleistungen (Dienstwagen, Unkostenpauschale, Aktienoptionen, Boni) Einzahlungen für die Pension. Und die tatsächlich gezahlten Steuern der Selbständigen betragen im Durchschnitt gegenwärtig 11 Prozent. Bekanntlich haben es einige dieser Sozialkünstler sogar dazu gebracht, dass ihnen der Staat mehr Steuern erstattet als sie gezahlt haben.
Das Volk: Vom Mob zur Bestie
Der Preisträger hatte seine „Information“ über den Bremer Stadtmusikanten aus der Zeitung „Die Welt“ entnommen. Die Falschmeldung war von der Nachrichtenagentur dpa am 24.2.1998 verbreitet und vielfach wiederholt worden. Das Landesarbeitsgericht Bremen gab deshalb am 27.2.1998 eine Pressemitteilung heraus, um den tatsächlichen Inhalt des Urteils bekannt zu machen – keines unserer „renommierten“ Leitmedien war zu einer Korrektur bereit, so beklagt sich der Sprecher des Gerichts bitter noch heute, fast ein Jahr später. So konnte der hochintellektuelle Preisträger, mitschwimmend in kollektiver Selbsterblindung, die Falschmeldung ungestört weiter für die Wahrheit nehmen, als er seine Arbeit am herrschenden Vorurteil genüsslich für seine Dankesrede vollendete. Und nun ist das Produkt im „Spiegel“ abgedruckt, sodass ihr ewiges mediales Leben gesichert ist.
Enzensbergers Hausblatt setzte dem Abdruck noch eins drauf. Redakteur Alexander Smolzcyk erschloss als Motiv des Preisträgers, er habe seine Rede verfasst aus Unmut über moralische Überdüngung. Die Überdüngung der Menschen spüre Deutschlands bestbezahlter Dichter, wenn er aus seiner Wohnung an Münchens Englischem Garten auf die Straße gehe. Er habe tatsächlich einiges zu verteidigen: Ein Buchstabe Enzensberger wird auf dem Essay-Markt zur Zeit mit etwa anderthalb Mark notiert. Das erreicht in Deutschland kein anderer Dichter. Deshalb, wenn er also auf die Straße gehe, habe er Angst, wie es in einem seiner letzten Gedichte heiße, ob einer um die Ecke kommt, ihn totzuschlagen. Und wenn er aus dem Fenster seiner Wohnung sehe, dann sehe er etwas, was schon König Ludwig von Bayern zum Zittern gebracht habe: Vor dem Fenster der Mob. Moralische Überdüngung des Mobs! Smolzcyk/Spiegel wissen: Da ist leise Furcht zu spüren vor brennenden Häusern, vor Aufmärschen, vor allem, was passiert, wenn das Volk, der große Lümmel, zur Bestie wird.
Enzensberger hatte einmal, früher, in kritischen Jahren, die zynische Sprache des „Spiegel“ heftig kritisiert. Er hatte getönt: Es fiele nicht einmal den unverschämtesten Lobrednern ein zu behaupten, die Verhältnisse, in denen wir leben, seien gerecht oder auch nur moralisch akzeptabel.
Der Preisredner im Düsseldorfer Schauspielhaus, ein Professor Wolf Lepenies, Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs, steigerte sich nun zu folgendem Lob für den erfolgreichen Wendehals: Enzensberger ist der deutsche Nationaldichter, ein Libero der intellektuellen Welt, vergleichbar mit Franz Beckenbauer.
In der Begründung für den 25.000 Euro werten Wende-Preis heißt es: Enzensberger steht in der Tradition Heinrich Heines… Repräsentant aufklärerischen Denkens… Seine Kritik an vorgeblichen Wahrheiten stellt nicht nur das Gewohnte infrage, sondern eröffnet neue Sichtweisen.
Mit seinem stümperhaften Verschnitt des neoliberalen Glaubensbekenntnisses steht dieser Preisträger in der Tradition des BDA-Präsidenten Dieter Hundt und des BDI-Präsidenten Hans-Olaf Henkel, aber gewiss nicht Heinrich Heines. Abschreiben aus der herrschenden Tendenzpresse, Manipulieren von Statistiken, Fälschen eines Gerichtsurteils – das ist nicht Aufklärung, sondern deren Perversion. Eröffnung neuer Sichtweisen? Nein – vielmehr literarisch überhöhte Arbeit am alten, asozialen Vorurteil, Bedienung des gehobenen Stammtisches.
Steht hier nicht die Tradition der 1968er und 1989er Wendehälse zur Debatte? Und der Medien- und der literarische Preisbetrieb, in dem die vorherrschenden Klischees endlos gegenseitig bestärkt werden – ohne Möglichkeit der Korrektur - durch Aufklärung?!
Zur Erinnerung: Heine im Original
Zur Erinnerung sei der missbrauchte Namensgeber des Preises zitiert, auch zur gefälligen Lektüre der Mitglieder der unwürdigen Jury, zu denen unter anderen Professor Dr. Rita Süßmuth, Präsidentin des Deutschen Bundestags, der Düsseldorfer Universitätsrektor Professor Dr. Gert Kaiser, der Düsseldorfer Oberstadtdirektor Dr. Peter Hölz und die SPD-Landesministerin Ilse Brusis gehörten. Heine schrieb als Zeitungskorrespondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung aus Paris Mitte des 19. Jahrhunderts:
„Hier in Frankreich herrscht gegenwärtig die größte Ruhe. Ein abgematteter, schläfriger, gähnender Friede. Es ist alles still, wie in einer verschneiten Winternacht. Nur ein leiser, monotoner Tropfenfall. Das sind die Zinsen, die fortlaufend hinabtröpfeln auf die Kapitalien, welche beständig anschwellen, man hört sie ordentlich wachsen, die Reichtümer der Reichen. Dazwischen das leise Schluchzen der Armut, manchmal klirrt etwas, wie ein Messer, das gewetzt wird.
Online-Flyer Nr. 725 vom 13.11.2019