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Das Foto eines Demonstranten an der Grenze des Gazastreifens ging um die Welt und fand höchste Anerkennung
Ein Symbol für den Freiheitskampf der Palästinenser
Von Arn Strohmeyer
Es ist ein fast mythisches Bild, das der türkische Fotograf Mustafa Hassouna am 22. Oktober 2018 an der Grenze des Gazastreifens zu Israel gemacht hat: Der 20jährige Palästinenser Abu Amru stürmt die palästinensische Flagge in der rechten Hand hochhaltend und in der linken eine Steinschleuder schwingend mit nacktem Oberkörper entschlossen und furchtlos auf die Grenzmauer zu, wo die israelischen Scharfschützen postiert sind und ihre menschlichen Ziele anpeilen. Im Hintergrund sind dichte Rauschwaden zu sehen – vermutlich von Autoreifen stammend, die die Palästinenser angesteckt haben, um den Scharfschützen die Sicht zu nehmen, oder auch von israelischen Tränengasgranaten herrührend. Drei Personen – klein und an den Rand gedrängt – ducken sich im Hintergrund, es sind Journalisten mit Schutzjacken, deren Profession durch Schilder gekennzeichnet ist. Sie sind nur Staffage im Kampfgeschehen, denn der vorstürmende Abu Amro beherrscht das Bild vollständig.
Im Willy-Brandt-Haus in Berlin gab es jetzt eine Ausstellung der besten Fotos des Jahres 2018, von den besten Fotografen der Welt. Das Motto lautete: „Das Beste, was die zeitgenössische Fotografie zu bieten hat.“ Sie lief unter der Schirmherrschaft des Sony-Konzerns. Auch das Foto von Mustafa Hassouna, das den mit der palästinensischen Flagge und der Steinschleuder vorstürmenden Abu Amro zeigt, war dort zu sehen.
Foto von Mustafa Hassouna, aufgenommen am 22. Oktober 2018 an der Grenze des Gazastreifens zu Israel (Repro: Arn Strohmeyer)
Der Vorwurf, der im Netz erhoben wurde, das Bild sei gestellt oder inszeniert, ist unsinnig. Ein solches Bild braucht man nicht zu stellen, die brutalen Szenen an der Gaza-Grenze sind dort grausamer Alltag. Die Realität des Geschehens ist zu eindeutig, um an diesem Ort „schöne“ Bilder zu machen. Es war wohl der totale Zufall, dass der Fotograf Mustafa Hassouna genau in dieser Sekunde auf den Auslöser seiner Kamera gedrückt und das Bild seines Lebens „geschossen“ hat.
Gemälde "Die Freiheit führt das Volk" von Eugène Delacroix, 1830 (Abbildung: gemeinfrei)
Eine andere Assoziation als der Verdacht der Inszenierung ist viel überzeugender: ein Vergleich dieses Fotos mit dem berühmten Gemälde von Eugene Delacroix (1798 – 1863), auf dem eine über Gefallene hinweg vorstürmende barbusige junge Frau – das Symbol der Freiheit darstellend – in der rechten erhobenen Hand die Trikolore und in der linken ein Gewehr hält. Sie reißt mit ihrem kämpferischen Enthusiasmus die ihr folgenden bewaffneten Bürger mit in die revolutionären Gefechte auf den Barrikaden von Paris. Die Ikonographie beider Bilder, des Gemäldes und des Fotos, ist fast dieselbe.
Delacroix feierte auf seinem Gemälde die bürgerliche Revolution von 1830, in der die Franzosen den König Karl X. vertrieben und den „Bürgerkönig“ Louis Philippe auf den Thron brachten. Das Bild war aber auch als Warnung an diesen gedacht: dass es dem neuen Herrscher genauso ergehen könne wie seinem Vorgänger, wenn er die Macht missbrauche. Das Bild galt als Feier der Revolution, weshalb es auch für lange Zeit der bürgerlichen Zensur zum Opfer fiel und in der Versenkung verschwand.
Das Foto von Mustafa Hassouna nahm einen anderen Lauf. Es verbreitete sich sofort im weltweiten Netz und wurde als eindrucksvolles Symbol für den Kampf der Palästinenser für ihre Freiheit und Menschenrechte gegen den Besatzerstaat Israel gedeutet. Auch der Mythos von David und Goliath musste zur Interpretation herhalten, auch wenn die politischen Bezüge bei diesem Vergleich nicht stimmen. Denn David war ein Jude und Goliath ein Philister, beide Rivalen um die Macht im damaligen Palästina. Richtig ist aber der Bezug auf die Ungleichheit der Waffen.
Einstimmig war das weltweite Lob für die Kunst des Fotografen Mustafa Hassouna. Der britische Künstler Dong Killen bezeichnete das Bild von der Gaza-Grenze als ein Kunstwerk, es sei eine Erinnerung daran, dass wir zur Zeit angesichts der Wiederkehr von autoritärem Denken und Bigotterie in den westlichen Staaten dafür kämpfen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen und dass wir, indem wir das tun, nicht allein sind. Ein anderer Interpret des Fotos schrieb, dass es die Grenze zwischen klassischer Reportage und künstlerischer Annäherung überschreite.
Das Bild drückt vor allem auch aus: Militärisch haben die Palästinenser gegen die israelischen Belagerer und Besatzer keine Chance, sie wissen sehr genau, wie asymmetrisch der Kampf ist. Aber die Auseinandersetzung zwischen den völlig ungleichen Gegnern ist auch ein Kampf der Bilder. Während Israel mit Zensur die Abbildungen der Unterdrückung eines ganzen Volkes zu verhindern sucht, können die Palästinenser Fotos für ihre Sache sprechen lassen. Das emotionsgeladene Bild, das Abu Amro zeigt, ist ein Sieg für eben diese Sache. Es zeigt mit seiner äußerst realistischen Darstellung, wie gnadenlos der Kampf um die Freiheit und Menschenwürde der Palästinenser für ihr Land ist, das ihnen geraubt wurde. Und wie groß der Mut und der selbstlose Einsatz dieser Menschen sind.
Der „Held“ des Fotos gibt sich bescheiden. In einem Interview mit dem arabischen Sender Al Jazeera sagte er, er sei sehr überrascht gewesen, als Freunde ihm am nächsten Tag auf ihren Handys das Foto, das inzwischen um die Welt gegangen war, gezeigt hätten. Er habe den Fotografen bei seinem Vorstoß auf die Grenze gar nicht bemerkt. Aber das Bild ermutige ihn, weiter gegen die israelischen Besatzer, für das Ende der Belagerung des Gazastreifens und für die Rückkehr der Palästinenser in ihre Heimat zu demonstrieren.
Aber das ist nicht so einfach. Vier Mal ist Abu Amro, der in Gaza einen kleinen Kiosk mit Zigaretten betreibt und von seinen Einkünften seine Großfamilie unterhalten muss, inzwischen verwundet worden – das letzte Mal sehr schwer am Bein, als er von einer „Schmetterlingskugel“ getroffen wurde, ein Geschoss, dass sich beim Aufprall öffnet und dann seine maximale verletzende Wirkung erzielt. Die Kugel traf sein Knie und andere Knochen am Bein, sodass er seine Zehen nicht mehr bewegen konnte und ständig Schmerzmittel brauchte. Aber die sind im Gazastreifen wegen der Abriegelung von der Außenwelt schwer zu haben. Auch eine Operation ist unbedingt nötig, aber auch das ist schwierig bei weit über 10.000 von den israelischen Scharfschützen Verletzten und deshalb völlig überfüllten Krankenhäusern. Abu Amro will dennoch nicht aufgeben. Die Vergleiche mit dem berühmten Bild von Delacroix mache ihn stolz, der versehentliche Aufstieg zu einer Ikone motiviere ihn zugleich, sagt er.
Online-Flyer Nr. 735 vom 12.02.2020
Das Foto eines Demonstranten an der Grenze des Gazastreifens ging um die Welt und fand höchste Anerkennung
Ein Symbol für den Freiheitskampf der Palästinenser
Von Arn Strohmeyer
Es ist ein fast mythisches Bild, das der türkische Fotograf Mustafa Hassouna am 22. Oktober 2018 an der Grenze des Gazastreifens zu Israel gemacht hat: Der 20jährige Palästinenser Abu Amru stürmt die palästinensische Flagge in der rechten Hand hochhaltend und in der linken eine Steinschleuder schwingend mit nacktem Oberkörper entschlossen und furchtlos auf die Grenzmauer zu, wo die israelischen Scharfschützen postiert sind und ihre menschlichen Ziele anpeilen. Im Hintergrund sind dichte Rauschwaden zu sehen – vermutlich von Autoreifen stammend, die die Palästinenser angesteckt haben, um den Scharfschützen die Sicht zu nehmen, oder auch von israelischen Tränengasgranaten herrührend. Drei Personen – klein und an den Rand gedrängt – ducken sich im Hintergrund, es sind Journalisten mit Schutzjacken, deren Profession durch Schilder gekennzeichnet ist. Sie sind nur Staffage im Kampfgeschehen, denn der vorstürmende Abu Amro beherrscht das Bild vollständig.
Im Willy-Brandt-Haus in Berlin gab es jetzt eine Ausstellung der besten Fotos des Jahres 2018, von den besten Fotografen der Welt. Das Motto lautete: „Das Beste, was die zeitgenössische Fotografie zu bieten hat.“ Sie lief unter der Schirmherrschaft des Sony-Konzerns. Auch das Foto von Mustafa Hassouna, das den mit der palästinensischen Flagge und der Steinschleuder vorstürmenden Abu Amro zeigt, war dort zu sehen.
Foto von Mustafa Hassouna, aufgenommen am 22. Oktober 2018 an der Grenze des Gazastreifens zu Israel (Repro: Arn Strohmeyer)
Der Vorwurf, der im Netz erhoben wurde, das Bild sei gestellt oder inszeniert, ist unsinnig. Ein solches Bild braucht man nicht zu stellen, die brutalen Szenen an der Gaza-Grenze sind dort grausamer Alltag. Die Realität des Geschehens ist zu eindeutig, um an diesem Ort „schöne“ Bilder zu machen. Es war wohl der totale Zufall, dass der Fotograf Mustafa Hassouna genau in dieser Sekunde auf den Auslöser seiner Kamera gedrückt und das Bild seines Lebens „geschossen“ hat.
Gemälde "Die Freiheit führt das Volk" von Eugène Delacroix, 1830 (Abbildung: gemeinfrei)
Eine andere Assoziation als der Verdacht der Inszenierung ist viel überzeugender: ein Vergleich dieses Fotos mit dem berühmten Gemälde von Eugene Delacroix (1798 – 1863), auf dem eine über Gefallene hinweg vorstürmende barbusige junge Frau – das Symbol der Freiheit darstellend – in der rechten erhobenen Hand die Trikolore und in der linken ein Gewehr hält. Sie reißt mit ihrem kämpferischen Enthusiasmus die ihr folgenden bewaffneten Bürger mit in die revolutionären Gefechte auf den Barrikaden von Paris. Die Ikonographie beider Bilder, des Gemäldes und des Fotos, ist fast dieselbe.
Delacroix feierte auf seinem Gemälde die bürgerliche Revolution von 1830, in der die Franzosen den König Karl X. vertrieben und den „Bürgerkönig“ Louis Philippe auf den Thron brachten. Das Bild war aber auch als Warnung an diesen gedacht: dass es dem neuen Herrscher genauso ergehen könne wie seinem Vorgänger, wenn er die Macht missbrauche. Das Bild galt als Feier der Revolution, weshalb es auch für lange Zeit der bürgerlichen Zensur zum Opfer fiel und in der Versenkung verschwand.
Das Foto von Mustafa Hassouna nahm einen anderen Lauf. Es verbreitete sich sofort im weltweiten Netz und wurde als eindrucksvolles Symbol für den Kampf der Palästinenser für ihre Freiheit und Menschenrechte gegen den Besatzerstaat Israel gedeutet. Auch der Mythos von David und Goliath musste zur Interpretation herhalten, auch wenn die politischen Bezüge bei diesem Vergleich nicht stimmen. Denn David war ein Jude und Goliath ein Philister, beide Rivalen um die Macht im damaligen Palästina. Richtig ist aber der Bezug auf die Ungleichheit der Waffen.
Einstimmig war das weltweite Lob für die Kunst des Fotografen Mustafa Hassouna. Der britische Künstler Dong Killen bezeichnete das Bild von der Gaza-Grenze als ein Kunstwerk, es sei eine Erinnerung daran, dass wir zur Zeit angesichts der Wiederkehr von autoritärem Denken und Bigotterie in den westlichen Staaten dafür kämpfen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen und dass wir, indem wir das tun, nicht allein sind. Ein anderer Interpret des Fotos schrieb, dass es die Grenze zwischen klassischer Reportage und künstlerischer Annäherung überschreite.
Das Bild drückt vor allem auch aus: Militärisch haben die Palästinenser gegen die israelischen Belagerer und Besatzer keine Chance, sie wissen sehr genau, wie asymmetrisch der Kampf ist. Aber die Auseinandersetzung zwischen den völlig ungleichen Gegnern ist auch ein Kampf der Bilder. Während Israel mit Zensur die Abbildungen der Unterdrückung eines ganzen Volkes zu verhindern sucht, können die Palästinenser Fotos für ihre Sache sprechen lassen. Das emotionsgeladene Bild, das Abu Amro zeigt, ist ein Sieg für eben diese Sache. Es zeigt mit seiner äußerst realistischen Darstellung, wie gnadenlos der Kampf um die Freiheit und Menschenwürde der Palästinenser für ihr Land ist, das ihnen geraubt wurde. Und wie groß der Mut und der selbstlose Einsatz dieser Menschen sind.
Der „Held“ des Fotos gibt sich bescheiden. In einem Interview mit dem arabischen Sender Al Jazeera sagte er, er sei sehr überrascht gewesen, als Freunde ihm am nächsten Tag auf ihren Handys das Foto, das inzwischen um die Welt gegangen war, gezeigt hätten. Er habe den Fotografen bei seinem Vorstoß auf die Grenze gar nicht bemerkt. Aber das Bild ermutige ihn, weiter gegen die israelischen Besatzer, für das Ende der Belagerung des Gazastreifens und für die Rückkehr der Palästinenser in ihre Heimat zu demonstrieren.
Aber das ist nicht so einfach. Vier Mal ist Abu Amro, der in Gaza einen kleinen Kiosk mit Zigaretten betreibt und von seinen Einkünften seine Großfamilie unterhalten muss, inzwischen verwundet worden – das letzte Mal sehr schwer am Bein, als er von einer „Schmetterlingskugel“ getroffen wurde, ein Geschoss, dass sich beim Aufprall öffnet und dann seine maximale verletzende Wirkung erzielt. Die Kugel traf sein Knie und andere Knochen am Bein, sodass er seine Zehen nicht mehr bewegen konnte und ständig Schmerzmittel brauchte. Aber die sind im Gazastreifen wegen der Abriegelung von der Außenwelt schwer zu haben. Auch eine Operation ist unbedingt nötig, aber auch das ist schwierig bei weit über 10.000 von den israelischen Scharfschützen Verletzten und deshalb völlig überfüllten Krankenhäusern. Abu Amro will dennoch nicht aufgeben. Die Vergleiche mit dem berühmten Bild von Delacroix mache ihn stolz, der versehentliche Aufstieg zu einer Ikone motiviere ihn zugleich, sagt er.
Online-Flyer Nr. 735 vom 12.02.2020