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Aktueller Online-Flyer vom 27. Dezember 2024  

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Kultur und Wissen
Ein politischer Abend mit der deutsch-israelischen Sängerin und Schauspielerin Nirit Sommerfeld
Die Stimme des anderen Israels
Von Arn Strohmeyer

Was für ein großartiger Auftritt! Nirit Sommerfeld erscheint auf der Bühne des Veranstaltungshauses "Refugio" in Berlin mit einem schwarzen Trachtenkleid, das um den Hals von einer weiten hellen Borte umgeben ist, auf der wieder (wie auch an der Seite des Kleides) kleine Blumen gestickt sind. Mein erster Gedanke ist: Das ist ein Kleid, wie es vielleicht von orientalischen Juden getragen wird und das auf Nirits Herkunft hinweist, denn die Familie ihrer Mutter stammt aus Marokko. Doch diese Vermutung ist ganz und gar falsch. Nirit wird sie im Lauf des Abends aufklären und ihrem Publikum erläutern, wie wichtig dieses Kleid für sie ist und wie es ihrem Leben eine ganz andere Richtung gab.


Nirit Sommerfeld (Foto: arbeiterfotografie.com)

Aber zunächst erzählt Nirit von ihrer überaus glücklichen Kindheit in Eilat (Israel), wo sie 1961 geboren wurde. Sie erzählt von der unendlichen Weite der Wüste und des Meeres dort, die sich tief in ihre Seele einprägte und auch heute noch Heimweh in ihr aufsteigen lässt. Sie berichtet von der Geschichte ihrer Familie, von dem Großvater, der ein wohlhabender Kaufmann in Chemnitz war, als Offizier im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz erhielt und von den Nazis im KZ Sachsenhausen umgebracht wurde.

Als sie neun Jahre alt war, zog die Familie ins Land der Täter, nach Deutschland, wo sie zur Schule ging und dann in Salzburg ihre Schauspiel-Ausbildung absolvierte. Aber das Heimweh nach Israel war groß, 2007 kehrte sie mit ihrer eigenen Familie – sie hatte inzwischen zwei Töchter bekommen – nach Israel zurück. Nach zwei Jahren erfolgte nicht zuletzt aus politischen Gründen die Rückkehr nach Deutschland, wo sie seitdem lebt. Sie war nach dieser Rückkehr aber nicht mehr dieselbe, die sie als junges Mädchen und junge Frau war: eine gläubige Zionistin. Und das hat mit dem wunderbaren schwarzen Kleid zu tun.

In Tel Aviv kam eines Tages eine Nachbarin zu ihr und bat sie um Hilfe, genau gesagt um erste Hilfe. Ein Bauarbeiter hatte sich an der Hand verletzt. Nirit eilte mit Verbandszeug ins Nachbarhaus und verband die Wunde des Verunglückten. Nun stellte sich heraus, dass es sich bei dem Mann um einen Palästinenser handelte, der illegal in Israel arbeitete. Nirit zog sich nicht nur verächtliche Bemerkungen ihrer israelischen Mitbürger zu, weil sie einem Palästinenser geholfen hatte, es kam gegen den Mann wegen seiner illegalen Tätigkeit auch zu einer Gerichtsverhandlung. Nirit berichtete als Zeugin von der Not des Mannes, die ihn zur Arbeit in Israel gezwungen hatte. Der Richter hatte ein Einsehen, zeigte Verständnis für den Mann und bestimmte, dass er gegen eine Kaution abgeschoben wurde. Nirit sorgte dafür, dass das Geld aufgetrieben werden konnte und der Mann kehrte in sein Dorf in der Nähe von Hebron zurück.

Dort besuchte Nirit den Arbeiter und seine Familie. Sie stieß dort als Angehörige des Besatzervolkes aber nicht auf Abneigung oder sogar Hass, sondern auf eine ungeahnte und überschwängliche Gastfreundschaft. Die ganze Großfamilie versammelte sich, es wurde reichlich aufgetragen, was die Küche hergab. Und dann der Höhepunkt dieses denkwürdigen Tages: Die Frau des Hauses holte aus einem Schrank das schwarze Kleid und überreichte es Nirit als Gastgeschenk. Es ist eine wundervolle Arbeit, viele Frauen müssen lange daran gearbeitet haben, in der Familie ist es wohl wie ein Schatz gehütet worden. Und nun erhält es eine Jüdin zum Geschenk!

Permanenter Landraub, Vertreibung und Unterdrückung

Das war für Nirit nicht nur ein wichtiges Erlebnis, sondern ein Wendepunkt in ihrem Leben. Plötzlich verstand sie, was Juden (oder Zionisten) diesem Volk angetan hatten und auch immer noch antun: permanenten Landraub, Vertreibung und Unterdrückung – seit über 50 Jahren eine brutale und barbarische Besatzung, auf deren Ende es keinerlei Hoffnung gibt. Nirit wurde eine Wanderin zwischen den Welten, sie trägt fortan einen großen Konflikt in sich: ihre Liebe zu Israel, das sie als Heimat erlebt hat, und die Gewissheit, dass dieses Land eine sehr bedenkliche Entwicklung genommen hat. Vor allem: dass auch die Palästinenser einen Anspruch auf Freiheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung haben. Voller Verachtung äußert sie sich über Donald Trumps „Jahrhundert-Deal“, den (so vermutet sie) Israels Ministerpräsident Netanjahu selbst ausgearbeitet hat und der nicht anderes besagt als dies: 1948 [in der Nakba] hat man den Palästinensern das Land gestohlen und heute speist man sie mit ein paar Almosen ab und gibt ihnen keinerlei Rechte!

Sie will weiter kämpfen für einen Staat, in dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt leben können. Sie fordert dazu auf, sich für dieses Ziel zu engagieren. Angesichts der bedenklichen Antisemitismus-Hysterie in Deutschland mit Hetzjagden wie es sie im Amerika des Senators McCarthy gab – vor allem mit Rufmordkampagnen und Saalverboten für Kritiker der israelischen Politik, von denen sie auch selbst schon betroffen war, legt sie das Bekenntnis ab: „Ich werde mir den Mund nicht verbieten lassen!“ Man glaubt es dieser Frau aufs Wort, die mit ihrer so großartigen Authentizität ein universalistisches, humanistisch-weltbürgerliches Judentum vertritt, wie man es sich auch für Israel als Staatsräson wünschen würde. Das ist beste jüdische Tradition. Dann zitiert sie das Pauluswort von Glaube, Liebe und Hoffnung, ändert aber die Reihenfolge in: Glaube, Hoffnung, Liebe. Glauben, sagt sie, hat sie nicht, Hoffnung ist keine Tugend, weil sie passiv macht, die Liebe aber steht über allem, weil sie frei und aktiv macht.

Natürlich hat sie auch wundervoll gesungen an diesem Abend – begleitet von ihrer Tochter Lili am Flügel (die auch eine große Künstlerin ist und über eine fantastische Soul-Stimme verfügt) und dem Klarinettisten Andi Arnold: jüdische Lieder von tiefer Melancholie, großer Lebensfreude und dem zum Ausklang mit äußerster Leidenschaft vorgetragenen politischen Song, den sie selbst verfasst hat: „Alles Schein…“. Dieses Lied ist Auflehnung, Protest und eine bittere Anklage an das Land, das sie liebt und doch nicht lieben kann, weil es eine Politik gegen jedes Menschen- und Völkerrecht betreibt und seine Inhumanität obendrein mit Heuchelei und Arroganz zu kaschieren sucht. Aber man spürt zutiefst die Traurigkeit über den erlittenen Verlust, den Wunsch, dieses Land, dem sie sich so tief verbunden fühlt, möge einen besseren, humaneren Weg einschlagen. Es gibt wohl niemanden im Saal, dem Text und Musik dieses Songs nicht unter die Haut geht.

Ich will weg aus dem Dreck

Sie singt: „Ich will weg aus dem Dreck,/ ich will raus aus der Stadt,/ aus dem Land, das ist nicht mehr meine Welt./ Mir gefällt's hier nicht mehr,/ an jeder Ecke ein Gewehr,/ und die Blicke so leer und das Leben so schwer./ Dabei begehr' Dich so sehr,/ Deine Wüste, Dein Meer,/ Dein Flair, ja sogar Dein chaotischer Verkehr/ wird mir nie zu viel. Ich mag die Fülle, die Gerüche/ und Dein Licht, dieses Licht, das schreit: HIER sollst Du sein!/ Refrain: Alles Schein, schöner Schein,/ ist nur Lug und Betrug./ Wie ein Pflug geht der Schmerz/ durch mein Herz./ Alles Schein, ..../ ich hab genug./ Du hast mich angelogen, hast mich so betrogen,/ ich glätte nicht die Wogen Deiner Arroganz./ Du verlangst Loyalität, doch wie soll ich tolerieren,/ dass hier Menschen ihr Menschenrecht verlieren und krepieren?!/ Dazu kann ich nicht mehr schweigen,/ Deinem Druck mich nicht mehr beugen./ Nein, Du kannst es nicht vertreiben,/ das Gefühl, dass was nicht stimmt./ Drum will ich weg aus dem Dreck, such mir irgend ein Versteck,/ will diese Lügen nicht mehr tragen, werde immer wieder sagen:/     Alles Schein..../ Interlude: Du folterst gnadenlos,/ sperrst Kinder ein, du tötest/ Deine eig'nen Kids verderben, doch du merkst es nicht/ die einen sterben, andre wehren sich, verweigern/ sie spür’n die Last und gehen in' Knast/ weil sie begreifen, dass Gewalt/ immer nur widerhallt und (alle) widerhallt und widerhallt ....!/ Du bist zu weit gegangen in Deiner Gier nach Macht und Land./ Du sprichst von Angst und von Bedrohung, knebelst unseren Verstand./ Doch wir mach'n da nicht mehr mit./ Lieber geh'n wir auf Entzug,/ denn Du musst es endlich spüren: (alle) Genug ist genug! / Gleiches Menschenrecht für alle und Gespräche statt Gewalt!/ Löse endlich Deine Kralle, denn sonst werd'n wir hier nicht alt./ Mach nicht einen Schritt nach vorne und dann zwei Schritte zurück./ Denn jedes Volk will nur das eine: Frieden, Freiheit, Glück! /Refrain: Alles Schein....

Kann man es besser sagen bzw. singen?

Online-Flyer Nr. 735  vom 12.02.2020



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