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Kurzgeschichte in Corona-Zeiten
Homo homini virus - oder Moderner Maskenball
Von Artur Rümmler
Wie die mich nur anstiert, so schräg, mit panischer Angst in den Augen, als würde ich sie vergiften, drückt sich ans Regal, würde wohl gerne dort reinkriechen, um sich vor mir zu retten, dabei ist mir nur der Schal ein Stückchen runtergerutscht, weil ich was in den Korb gelegt habe, und die Nasenspitze ist frei, okay, du arme Seele, dir zuliebe ziehe ich das Tuch wieder hoch, deine Maske taugt übrigens nichts, so ein billiges Ding von irgendeinem Discounter, garantiert nicht besser als mein dünner, durchsichtiger Schal, mit dem bin ich ein argwöhnisch beobachteter Abweichler in Bahn und Bus, wo sie stolz ihre weißen, schwarzen, blauen oder roten Schnuddel tragen, manche sogar auf der Straße oder dem Fahrrad, wenn kein Mensch in der Nähe ist, hallo, Leute, was geht eigentlich in euch vor, hat euch die Angst den Verstand verjagt,
da warte ich vor der Bäckerei in der Schlange und fast alle haben schon ihren Schnuddel auf, gucken stur Richtung Eingang, stehen brav wie die Schafe vor dem Stall, ohne sich umzudrehen, und was mir besonders auf die Nerven geht, sie reden nicht miteinander, Schafe sagen wenigstens noch Määh, aber die hier bleiben stumm, halten mehr Abstand, als sie müssen, und wenn ich versuche, mit jemand zu sprechen, rede ich gegen eine Wand, jeder für sich und das Virus gegen alle,
am schlimmsten der Bürger Nummer Eins, der sich Duckende und zu allem Fähige, schluckt gehorsam die Befehle der neuen Könige, das Geschwätz des Mainstreams und bläst sich damit auf, Sie müssen das Gerät desinfizieren, droht er mir mit dem Zeigefinger im Fitnesscenter, ich lasse mir das mal zeigen, und zwar gründlich, da hat er eine Zeitlang zu tun mit den Griffen, Stangen, Stiften, Hebeln und Flächen, schnaufend unter seinem Virensammler, das macht ihm sogar Spaß, er ist ja der Schlaue und ich der Dumme, stolz auf sein Werk schaut er mich an, das Desinfektionsmittel tötet keine Viren ab, sage ich kühl in sein Visier und lasse ihn stehen, vielleicht sollte er mal den Ober fragen, der stundenlang sein eigenes CO2 inhalieren muss, ich laufe rum wie besoffen, sagt der,
mein Korb füllt sich, jetzt nur noch zur H-Milch, und die steht beim Durchgang zur Kasse, aha, undogmatischer Abstand, manche hier nehmen’s anscheinend locker, bei einem sitzt der Schnuddel äußerst nachlässig, mir geht der Zirkus auf die Nerven, sagt ein anderer und zupft ungeduldig an dem Lendenschurz, der die anstößigen Stellen seines Gesichts bedecken soll, ein dritter lässt spontan den Rüssel raushängen, he, Jungs, ihr gefallt mir, ich platziere meine Bedeckung eine Etage tiefer, ja, Ungehorsam ist ansteckend,
manchmal steige ich in die Straßenbahn, spüre die lauernden Blicke, weil ich erst in der Bahn zu meinem Passepartout greife, ich verzögere bewusst die Textilmontage, lege mir umständlich eine Schlinge um den Hals, als wolle ich mich erwürgen, schiebe das Mittelteil über die Nase, ziehe an den Enden, und natürlich darf das nicht klappen, es rutscht herunter, ach, was bin ich so ungeschickt im Kampf mit meinem von der Obrigkeit erlaubten Schal, so geht das ein, zwei Stationen, bis ich, der Gutwillige, der Bemühte, verzweifelt aufgebe und, während das Tuch unter mein Kinn sinkt, schweren Herzens auf die Verhüllung verzichten muss, und plötzlich, welch ein Wunder, verwandelt sich meine Umgebung, eine Dunkelhaarige entfernt ihr weißes Mund-Nasen-Pflaster und zeigt ihr hübsches Gesicht, ein brav wirkender Jüngling probt ebenfalls den Aufstand, ein Blondchen, noch etwas unsicher, folgt ihm, und manchmal gehe ich ganz offensiv vor, wollen wir doch mal testen, wo sich Antikörper gegen das Virus des Untertanengeists gebildet haben, ich steige in Bahn oder Bus, mein Tuch residiert unten am Hals, und kurz danach fallen in meiner Nähe die Masken wie die Blätter im Herbst,
so, jetzt bin ich endlich an der Kasse vorbei, räume die Waren in meinen Rucksack, überlasse den ungeliebten Vorhang schon mal der Gravitation, was die Kundin direkt neben mir nicht im geringsten stört, schrecklich, diese Masken, sagt sie draußen und reißt sich den Schnuddel runter, ich habe die Nase voll.
Online-Flyer Nr. 748 vom 01.07.2020
Kurzgeschichte in Corona-Zeiten
Homo homini virus - oder Moderner Maskenball
Von Artur Rümmler
Wie die mich nur anstiert, so schräg, mit panischer Angst in den Augen, als würde ich sie vergiften, drückt sich ans Regal, würde wohl gerne dort reinkriechen, um sich vor mir zu retten, dabei ist mir nur der Schal ein Stückchen runtergerutscht, weil ich was in den Korb gelegt habe, und die Nasenspitze ist frei, okay, du arme Seele, dir zuliebe ziehe ich das Tuch wieder hoch, deine Maske taugt übrigens nichts, so ein billiges Ding von irgendeinem Discounter, garantiert nicht besser als mein dünner, durchsichtiger Schal, mit dem bin ich ein argwöhnisch beobachteter Abweichler in Bahn und Bus, wo sie stolz ihre weißen, schwarzen, blauen oder roten Schnuddel tragen, manche sogar auf der Straße oder dem Fahrrad, wenn kein Mensch in der Nähe ist, hallo, Leute, was geht eigentlich in euch vor, hat euch die Angst den Verstand verjagt,
da warte ich vor der Bäckerei in der Schlange und fast alle haben schon ihren Schnuddel auf, gucken stur Richtung Eingang, stehen brav wie die Schafe vor dem Stall, ohne sich umzudrehen, und was mir besonders auf die Nerven geht, sie reden nicht miteinander, Schafe sagen wenigstens noch Määh, aber die hier bleiben stumm, halten mehr Abstand, als sie müssen, und wenn ich versuche, mit jemand zu sprechen, rede ich gegen eine Wand, jeder für sich und das Virus gegen alle,
am schlimmsten der Bürger Nummer Eins, der sich Duckende und zu allem Fähige, schluckt gehorsam die Befehle der neuen Könige, das Geschwätz des Mainstreams und bläst sich damit auf, Sie müssen das Gerät desinfizieren, droht er mir mit dem Zeigefinger im Fitnesscenter, ich lasse mir das mal zeigen, und zwar gründlich, da hat er eine Zeitlang zu tun mit den Griffen, Stangen, Stiften, Hebeln und Flächen, schnaufend unter seinem Virensammler, das macht ihm sogar Spaß, er ist ja der Schlaue und ich der Dumme, stolz auf sein Werk schaut er mich an, das Desinfektionsmittel tötet keine Viren ab, sage ich kühl in sein Visier und lasse ihn stehen, vielleicht sollte er mal den Ober fragen, der stundenlang sein eigenes CO2 inhalieren muss, ich laufe rum wie besoffen, sagt der,
mein Korb füllt sich, jetzt nur noch zur H-Milch, und die steht beim Durchgang zur Kasse, aha, undogmatischer Abstand, manche hier nehmen’s anscheinend locker, bei einem sitzt der Schnuddel äußerst nachlässig, mir geht der Zirkus auf die Nerven, sagt ein anderer und zupft ungeduldig an dem Lendenschurz, der die anstößigen Stellen seines Gesichts bedecken soll, ein dritter lässt spontan den Rüssel raushängen, he, Jungs, ihr gefallt mir, ich platziere meine Bedeckung eine Etage tiefer, ja, Ungehorsam ist ansteckend,
manchmal steige ich in die Straßenbahn, spüre die lauernden Blicke, weil ich erst in der Bahn zu meinem Passepartout greife, ich verzögere bewusst die Textilmontage, lege mir umständlich eine Schlinge um den Hals, als wolle ich mich erwürgen, schiebe das Mittelteil über die Nase, ziehe an den Enden, und natürlich darf das nicht klappen, es rutscht herunter, ach, was bin ich so ungeschickt im Kampf mit meinem von der Obrigkeit erlaubten Schal, so geht das ein, zwei Stationen, bis ich, der Gutwillige, der Bemühte, verzweifelt aufgebe und, während das Tuch unter mein Kinn sinkt, schweren Herzens auf die Verhüllung verzichten muss, und plötzlich, welch ein Wunder, verwandelt sich meine Umgebung, eine Dunkelhaarige entfernt ihr weißes Mund-Nasen-Pflaster und zeigt ihr hübsches Gesicht, ein brav wirkender Jüngling probt ebenfalls den Aufstand, ein Blondchen, noch etwas unsicher, folgt ihm, und manchmal gehe ich ganz offensiv vor, wollen wir doch mal testen, wo sich Antikörper gegen das Virus des Untertanengeists gebildet haben, ich steige in Bahn oder Bus, mein Tuch residiert unten am Hals, und kurz danach fallen in meiner Nähe die Masken wie die Blätter im Herbst,
so, jetzt bin ich endlich an der Kasse vorbei, räume die Waren in meinen Rucksack, überlasse den ungeliebten Vorhang schon mal der Gravitation, was die Kundin direkt neben mir nicht im geringsten stört, schrecklich, diese Masken, sagt sie draußen und reißt sich den Schnuddel runter, ich habe die Nase voll.
Online-Flyer Nr. 748 vom 01.07.2020