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Literatur
Daniela Dahn und Rainer Mausfeld: "Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung"
Der Teufelspakt in der Sackgasse
Buchtipp von Harry Popow
Der Leser möge es dem Rezensenten nachsehen: Nach dem gründlichen Lesen dieser außerordentlich tiefgründigen Analyse in dieser gesellschaftskritischen Lektüre kann er nicht anders, als mit hoher Anerkennung den Hut zu ziehen. Aus dieser – soviel sei vorneweg gesagt – spricht soviel unendliche mühevolle Liebe: zu den Menschen, zur Natur, zum Planeten Erde. Und, das muss gesagt werden: Kämpferischer Geist und Tatkraft, um Goethes Faust die beiden Autoren schier beneidet hätte. Während sich Dr. Faust vom Teufel dazu verführen lässt, seine hohen Ideale zugunsten einer billigen, aber menschlich zu verstehenden Ablenkung sausen zu lassen und schließlich zugrunde zu gehen, versucht heute – im Jahre 2020 – ein ganzer Pakt von Teufeln die Menschheit zu ruinieren. Und: Es hat unendlich mehr technische Möglichkeiten, als nur die Verführung durch „Wein, Weib und Gesang“, um jegliche Lust an Erkenntnis über Mensch und Welt im Keime zu ersticken. Was tun?
Die beiden Autoren legen den Finger auf die wichtigste Wunde: Wie befreie ich mich vom Druck der Abwesenheit von Geist? Wie gewinne ich Einsicht und Macht, dem Pakt mit dem Teufel den Garaus zu machen? Zur Freude der wissbegierigen Leser bleiben die renommierte Essayistin und Mitbegründerin des „Demokratischen Aufbruchs“ in der DDR, Daniela Dahn, und der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld nicht bei der Interpretation des Kapitalismus stehen, wie Friedrich Engels in seiner 11. Feuerbachthese mit Blick auf bisherige Bemühungen von Philosophen angemahnt hatte. Nein, sie weiten ihren Blick bei der Aneignung des Volksvermögens der DDR und des Anschlusses der DDR an die BRD 1989 weit aus und ergründen tiefsinnig die Ursachen. Sie widerlegen polemisch und faktenreich die Ansicht von Geschichtsverdrehern, es sei keine Rede mehr vom Kapitalismus, er sei längst überwunden, (Schäuble: „Wir haben doch die soziale Marktwirtschaft“). Und überhaupt, den Klassenkampf gebe es nicht mehr. Sie fahren den heutigen ideologischen Verdrehungen der Kapitaleliten faktenreich und zielsicher in die Parade. Sie helfen möglicherweise den noch neugierigen Lesern, im Nebel der Verdrängungen und Manipulationen und forcierten Ängste in der Corona-Pandemie wieder Boden unter den Füssen zu bekommen.
Das Buch besteht aus fünf Abschnitten. Zunächst lesen wir eine hochinteressante und sehr mühevoll recherchierte „Presseschau“ von Daniela Dahn zur Zeit der Rückwärtswende in der DDR. Sodann beleuchtet sie in „Die Währungsunion war die organisierte Verantwortungslosigkeit“ die brutale geistige Knechtung der Ostler und deren überfallartige Vereinnahmung. Professor Dr. Rainer Mausfeld untersucht in „Wende wohin?“ die Realität hinter der Rhetorik. „Was bedeutet die Forderung nach einem Systemwechsel?“, so Daniela Dahn im nachfolgenden Beitrag. Schließlich diskutieren beide Autoren in sechs Gesprächen über ihre Erfahrungen und Erkenntnisse.
Festzuhalten ist: Bei allen Texten spürt man das akribische Vorgehen der Autoren, das Geschehen ins Auge zu fassen als auch das Eindringen in die Tiefe, in die jeweiligen Ursachen, jene Vorgehensweise, wie sie leider weder in den „Qualitätsmedien“ noch bei Reden von Politikern zu verzeichnen ist. Sie halten sich nicht nur am Feststellen von Widersprüchen auf, sondern bieten auch Nachdenkenswertes für mögliche Alternativen, für mögliche Lösungen.
Bereits in der Einstimmung verweisen die Autoren auf die verspielten Chancen des Jahres 1990, „sowohl für eine internationale Friedensordnung wie auch für eine erneuerte Demokratie“, Chancen, die „aus geopolitischen Interessen und denen der Kapitaleigner gezielt blockiert und somit verspielt wurden“. Alternativen seien aus dem „öffentlichen Denkraum“ verdammt worden. Die Bewältigung der damit verbundenen Probleme – bedingt auch durch die Corona-Krise - werden „durch das Arsenal hochentwickelter Techniken des Meinungs- und Affektmanagements“ massiv erschwert. Der Beitrag von Rainer Mausfeld richte „aus abstrakterer Perspektive einen kritischen Blick auf die illusionserzeugende Kraft der westlichen Ideologie und damit auf das versprochene Paradies einer kapitalistischen Demokratie“. Dazu gehöre die Spaltung und Zersetzung der Gesellschaft. Er fragt, „wie sich die Idee einer radikalen Demokratisierung wieder gesellschaftlich wirksam machen lässt“.
Blind sind für die zerstörerischen Folgen der kapitalistischen Weltordnung
Vorwegnehmen möchte der Rezensent folgendes Zitat von Professor Dr. Rainer Mausfeld auf Seite 191 dieses Buches: „Nur um einem verbreiteten Missverständnis vorzubeugen: Lohnarbeit, Geld und Märkte gab es, von archaischen Gesellschaften abgesehen, wohl zu allen Zeiten, doch sie allein machen noch keinen Kapitalismus. Kapitalismus bedeutet die Herrschaft des Kapitals. Und diese hat einen identifizierbaren Anfang vor etwa 500 Jahren. Und sie hat in unterschiedlichen historischen Perioden und an unterschiedlichen Orten ganz unterschiedliche Formen angenommen. Eine solche Herrschaft des Kapitals ist dadurch gekennzeichnet, dass sie über den Bereich des Wirtschaftslebens hinaus die gesamte Gesellschaft zu durchdringen und den gesamten gesellschaftlichen Reichtum als Waren zu behandeln sucht.“
Daraus ergebe sich die Frage, so lesen wir auf den Seiten 117/118, warum „wir so blind sind für die zerstörerischen Folgen der kapitalistischen Weltordnung? Das Erfolgsrezept des Kapitalismus ist seit jeher, dass er uns zu einem Teufelspakt verführen will, er verspricht uns immerwährenden Fortschritt und eine kontinuierliche Verbesserung unserer Lebensstandards und sorgt zugleich dafür, dass wir unfähig sind, den dafür zu entrichtenden Preis überhaupt erkennen zu können.“
Rainer Mausfeld zieht daraus den Schluss, die „Plünderung von Ressourcen und die Zerstörung unserer sozialen und ökologischen Lebensgrundlagen ist also kein vermeidbares Nebenprodukt des Kapitalismus, sondern gerade Kern seiner Funktionslogik“. Ins Verderben müsse es zwangsläufig führen, wenn die Menschen zwar nur ein paar störende Dinge ändern „und ansonsten im Großen und Ganzen so weitermachen wie bisher“. Die Probleme im Dialog mit den Zentren der Macht zu bewältigen muss als Illusion angesehen werden.
In die gleiche Kerbe haut Daniela Dahn, wenn sie auf Seite 122 jegliche Rufe und Debatten nach einem Systemwechsel, siehe Arabischer Frühling, Weltsozialforum, Gelbwesten oder auch den über vierzig Jahre agierenden „Club of Rome“, für erstaunlich hält und begrüßt, aber gleichzeitig ohne Vorwurf feststellt, „über Debatten und symbolische Akte“ kaum hinausgekommen zu sein. „Wussten sie genau genug, was sie wollten?“ Warum also keine Veränderungen? Ihre Erkenntnis: „Weil im Kapitalismus Profit mehr geschützt wird als das Leben. Der Corona-Lockdown hat diese Gewissheit erstmalig durcheinandergebracht, aber wie er ausgeht, wird sich erst noch zeigen.“ Daniela Dahn gibt die Ansicht eines einstigen Bundesverfassungsrichters wieder: Das einzige Ziel sei „unbegrenztes Wachstum und Bereicherung. Das Gebrechen des Kapitalismus sei nicht in seinen Auswüchsen zu sehen, sondern in seiner Leitidee und deren symbolischer Kraft“. Die Krankheit könne nicht mit „Heilmitteln am Rand“ beseitigt werden.
Daniela Dahn: Volkslektüre, eine Presseschau
Es ist eine sehr breit angelegte Presseschau in Zeiten der Konterrevolution, die Daniela Dahn mühevoll zusammengestellt hat. Ob Zeitungen, Verlage, Politiker, Bürgerrechtler: unzählige Wortmeldungen gibt es zu einem Für oder Wider einer zu schnellen Wiedervereinigung zwischen der BRD und der DDR. Haben die Leser bislang oft nur von Befürwortern gehört oder gelesen, so kommen nun auch Vernünftige mit ihren Stimmen ans Tageslicht, die oft genug einfach überhört wurden und die Leser und Hörer nie erreichten.
So fordern 36 DDR-Bürgerrechtler in ihrem Aufruf „Für unser Land“ den Erhalt der DDR als „sozialistische Alternative zur Bundesrepublik. Zu den Initiatoren gehören Christa Wolf und Stefan Heym, unterstützt aus dem Westen von Günter Grass und Max Frisch. Egon Bahr spricht sich in „Neue Zeit“ für ein ganz neues europäisches Sicherheitssystem aus, „welches die Militärbündnisse überflüssig mache“. Gregor Gysi ist für die Dominanz des Volkseigentums, das müsse erhalten bleiben. Christa Luft spricht am Runden Tisch über die Nachteile der Währungsunion. Walter Momper ist für die Demokratisierung der DDR, für deren Eigenstaatlichkeit. Die Berliner Zeitung berichtet, 43 Prozent der Ostdeutschen seien gegen die schnelle Wiedervereinigung, 38 Prozent aber dafür.
Daniela Dahn stellt sich die Frage, wie es möglich war, vierzig Jahre gewachsenes Selbstbewusstsein einer Bevölkerung in einem Vierteljahr auf den Kopf zu stellen? Im November 1989 sprachen sich 86 Prozent der DDR-Bürger für den „Weg eines besseren, reformierten Sozialismus aus, nur fünf Prozent für einen „kapitalistischen Weg“ (erhoben vom Leipziger Institut für Jugend- und Marktforschung). (S. 14) „Bei der Volkskammerwahl im März 1990 wählten ebenso viele den Weg einer Einheit im Kapitalismus.“ (Nähere Angaben über Wahlkampfergebnisse im Buch.)
Die zahlreichen von Fakten unterstützten Manipulierungen seitens des westdeutschen Großkapitals seien hier als Stichworte angeführt: Denunziationen, Lügen, BILD-Werbungen für Arbeitsplätze in der BRD, aggressive Aneignungsstrategie des Volkseigentums der DDR, BILD: DDR am Tropf, die Lüge von einer neuen deutschen Verfassung. Kohl: Blühendes Gemeinwesen, Angstkampagnen, Slogan der CDU, DSU und DA: „Nie wieder Sozialismus“, Spiegel-Spott: „Auferstanden aus Ruinen und dem Wohlstand zugewandt, wollen wir jetzt was verdienen, halten auf die ausgestreckte Hand“. „Das war reinster psychischer Terror nach Goebbels-Manier“, schimpfte Egon Bahr über Kohls Wahlkampf.
Diese Presseschau bringt das offizielle Bild über die Wende ins Wanken. Die tieferen Ursachen für die aggressive Inbesitznahme eines ganzen Landes, was in dieser Form und in diesem Ausmaß einmalig sei in der Geschichte, findet der wissbegierige Leser in den folgenden Beiträgen.
Daniela Dahn: Währungsunion – organisierte Verantwortungslosigkeit
Ab Seite 90 geht es um die Privatisierung, so um das Treuhandgesetz, „das die angeschlagene DDR-Wirtschaft zum Privatisieren und Verschrotten freigab“, auch über den tausendseitigen Einigungsvertrag vom 31. August 1990, siehe u.a. die im Anhang versteckte Formel „Rückgabe vor Entschädigung“. Kein Wunder, denn in der Sozialisierung in der DDR „sahen die Kapitaleigner immer das eigentliche DDR-Unrecht“. „Das Volkseigentum galt als gestohlenes Privateigentum“, so Daniela Dahn auf Seite 90. Es ging um die Wiederherstellung alter Besitzverhältnisse. Auf Seite 91: „Die wichtigsten DDR-Verfassungsgrundsätze waren aufzuheben, insbesondere die sozialistische Rechtsordnung, um endlich den Erwerb von Privateigentum an Grund und Boden und Produktionsmitteln zu gewährleisten.“ Eingeführt wurde das Recht zu fristloser Kündigung. Auf Seite 97 erklärt die Autorin: Knapp die Hälfte der Ostdeutschen mache sich Sorgen um den Zusammenhalt der Gesellschaft. „Das reiche Deutschland ist heute ein Land, das neue Armut duldet, eine Unterschicht durch Hartz IV treibt, Randgruppen ausgrenzt, Asylanten kurz hält, in dem Gesundheit kostet und Bildungschancen erblich sind.“ Letztendlich, so die Autorin, wo Marktoptimierung herrschen und zunehmende Obdachlosigkeit und rechte Gedankenwut, da gedeihe Gewalt. Eine Umfrage unter Ostdeutschen am 2. Oktober 2019 ergab, dass 74 Prozent der Befragten sich „heute nicht wohler fühlten als zu DDR-Zeiten! 59 Prozent der Jugendlichen und 78 Prozent der über Sechzigjährigen stimmen der Aussage zu, dass bei politischen Entscheidungen in Deutschland unzureichend auf die Meinung der Menschen in Ostdeutschland Rücksicht genommen wird.“
Rainer Mausfeld: Wende wohin? Die Realität hinter der Rhetorik
Festzustellen sei: Gestiegen sei nach den Kriterien des westlichen Vorbilds der Lebensstandard einer Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland – aber auch das Ausmaß sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Spaltung. Der Hauptverlierer sei der real existierende Sozialismus. Er habe „in der jahrzehntelangen Systemkonkurrenz mit dem US-geführten Kapitalismus und ihren brutalen ökonomischen und militärischen Spielregeln nicht vermocht, eine Lebensrealität anzubieten, die die Bevölkerung über diesen Verrat hätte hinwegtäuschen oder sie dafür hätte entschädigen können.“ Der Autor mahnt an, bei der Suche nach den Verlierern von 1989 „noch tiefer unter die Oberfläche“ zu dringen, schließlich gehe es um den Verlust an mühsam errungener zivilisatorischer Substanz, die Leitidee von Demokratie. Das sei nicht überraschend, denn es gehöre „zum Wesensmerkmal einer kapitalistischen Demokratie, dass sie keine ist. Der Widerspruch sei so offenkundig, „dass er sich nur mit ausgefeilten Techniken der Indoktrination unsichtbar und undenkbar machen lässt.“ Der Kapitalismus sei darauf angewiesen, die Minderheit der Besitzenden strikt vor den Veränderungswünschen der Mehrheit zu schützen. Professor Mausfeld warnt vor dem Trugbild, „in einer Gesellschaft zu leben, die frei von Propaganda“ sei. Er verweist auf Sinnentleerungen von Wörtern, von angeblichen Reformen, von dem viel missbrauchten Wort „Freiheit“. (S. 107) Dieses Wort bedeute im Neoliberalismus vor allem, die Freiheit der ökonomisch Mächtigen, „für den Rest der Bevölkerung besteht die Freiheit darin, sich als Konsument und als flexibel fremdverwertbares Humankapital den Bedingungen des ´freien Marktes` zu unterwerfen“.
Die Macht charakterisierend, schreibt der Autor u.a. von Angsterzeugung, von Überwachungs- und Sicherheitssystemen bezüglich dessen, was sich weitgehend der Kontrolle des Staates entzieht, von Kriegen als Mittel der Politik, auf die der Kapitalismus „angewiesen“ ist. Rechtspopulismus sei eine Folge der vergangenen Jahrzehnte neoliberaler Politik, „der Ideologie der Alternativlosigkeit sowie der damit verbundenen Entleerung des politischen Raumes und der Zerstörung kollektiver Identitäten“. (S. 115)
Prof. Dr. Mausfeld untersucht die Mechanismen und die Technik der Manipulation vor allem aus psychologischer Sicht. „… was sich dazu sagen lässt, ist leider weniger erbaulich“. Der Westen verfüge über ein einzigartiges Arsenal höchst raffinierter psychologischer Manipulationsmethoden. Das werde seit mehr als hundert Jahren mit großen Forschungsanstrengungen verfeinert. In diesen psychologischen Techniken einer Bevölkerungskontrolle habe der Westen gegenüber dem Osten einen kaum vorstellbaren Forschungsvorsprung. Kapitalistische Demokratien seien, wie man schon früh erkannte, wegen der freien Wahlen darauf angewiesen, bei den Wählern den Eindruck völliger Freiheit aufrechtzuerhalten und zugleich sicherzustellen, dass diese so wählen, wie sie wählen sollen. Das sei machtechnologisch nur mit höchstem Aufwand zu bewältigen.
Aktuell fügt der Autor hinzu: „Die Corona-Krise ist ja tatsächlich eine Multi-Krise. In ihr kreuzen und verbinden sich sehr unterschiedliche Krisen, die bereits länger erwartet wurden. Dazu gehört auch eine Systemkrise des globalisierten Finanzkapitalismus, die sich auf diese Weise fast unsichtbar gemacht hat und damit ihre Kosten wieder kurzerhand auf die Gemeinschaft umlegen kann. Covid-19 bringt lediglich wie ein Katalysator sehr grundlegende Probleme der gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zum Vorschein.“
Daniela Dahn: Systemwechsel?
Zur machbaren gesellschaftlichen Veränderung gehört gedanklicher Vorlauf, gehören wissenschaftliche Aussagen, Untersuchungen, Schlussfolgerungen aus der Vergangenheit und Pläne. Daniela Dahn widerspricht zu Recht Unduldsamen die da sagen, „wir Älteren hätten keinen Plan“. Es gäbe zu fast allem durchdachte Pläne. Zur „Gemeinwohlwirtschaft, zum Klimaschutz, zur Umverteilung von Reichtum, zu einem anderen Geldsystem, zu neuen Formen der Demokratie und Arbeit im digitalen Zeitalter, zu einer sozialen Bildungsoffensive und vielem mehr“. Auch haben Juristen aus Ost und West im Auftrag des Runden Tisches 1989/90 einen Verfassungsentwurf unter dem Motto „Revolutionäre Erneuerung“ vorgelegt, aber kein Parlament habe diesen Entwurf auch nur behandelt. (S. 124) Was geschieht mit Kritikern, die die Strukturen in Frage stellen? Sie werden ausgegrenzt, bedroht, polizeilich verfolgt, bestochen oder durch PR-Strategien angreifbar gemacht.
Der Autorin Vision: „Eine Gesellschaft, in der Gemeineigentum dominant ist, wäre die einzige, die gemeinschaftlich erwirtschaftete Überschüsse aus freiem, demokratisch ermitteltem Willen in einen Topf werfen kann, aus dem ein Luxus anderer Art erwirtschaftet wird: heilig nicht das Geld, sondern Gesundheit von Mensch und Tier in unbeschadeter Natur. Ein solcher partizipativer Sozialismus, oder wie immer man das neue System nennen mag, käme einer Ordnung nahe, die die Leitidee des Kapitalismus tatsächlich umkehrt.“ (S. 129) Ins Visier nimmt die Autorin das bestehende Rechtssystem, die Dominanz der NATO, das Militär der USA, dem größten „Umweltverschmutzer der Welt“, die Kluft zwischen Arm und Reich in Europa, die machtlos gewordene UNO. Es gehe darum, „die Verheißungen eines Systemwechsels, aber auch die Widerstände dagegen bewusster zu machen“, um uns ein erneutes Scheitern zu ersparen. „Denn dann wird die Erde versinken und verbrennen.“
Daniela Dahn und Rainer Mausfeld: Eine einmalige Gelegenheit - Gespräch
Um Klarheit bei Begriffen wie Demokratie und Freiheit geht es in den interessanten Gesprächen zwischen den beiden Autoren. Hervorzuheben sind u.a. folgende Themen: Das Arsenal raffinierter psychologischer Manipulationsmethoden, Sicherung der Kapitalherrschaft nur dadurch, wenn man sie unsichtbar macht. Die Rolle der Werbeindustrie. Die angebliche Alternativlosigkeit des Westens, die Ursachen der vermutlich überhöhten Phantasien und Idealisierungen über kapitalistische Lebensformen, Versprechungen, Geist und Realität, Neugierde, Wahrheit, die Rolle der Wissenschaft. So u.a. der unsichtbare Mechanismus, „Wissenschaftler mit politisch unerwünschten Ansichten herauszufiltern“. Spaltungsstrategien, „mit denen die Zentren der Macht seit jeher versuchen, emanzipatorische Bewegungen zu zersetzen und dadurch politisch zu neutralisieren“. Diese Spaltungsstrategien seien so erfolgreich, „dass sich soziale Bewegungen immer aggressiver gegenseitig bekämpfen“. (S. 167) „Macht und damit politische Verantwortlichkeiten sind im Nebel von `Kulturen` verschwunden, sei es z.B. die Kultur des Narzissmus, der Selbstverwirklichung, der Emotionskultur, der Risikogesellschaften, der Gesellschaften des Zorns. „Nur eben keine Gesellschaft, die durch ökonomische Machtverhältnisse geprägt ist“. (S. 169)
Lust am Erkennen
Wer als Leser noch genügend Mut und Kraft und Neugier sein Eigen nennen darf, ohne angstvoll auf die politischen Marionetten der Macht zu schauen, dem wird dieses aufrüttelnde Buch der beiden Autoren wie ein geistiges Geschenk unter vielen anderen gesellschaftskritischen Sachbüchern entgegenkommen, zum weiteren Nachdenken anregen und Anlass geben, eigenes Handeln zu hinterfragen. Daniela Dahn und Professor Dr. Rainer Mausfeld haben sich auch mit dieser außerordentlichen Polemik in den Kampf um die Veränderung unserer Lebensverhältnisse geworfen. Ihnen Dank zu sagen kann nicht ohne eigenes ehrliches Zutun ernst genommen werden. Möge diese Arbeit mithelfen, den Teufelspakt der Eliten gegen die Völker weiter in Bedrängnis zu bringen und – wenn möglich – seinem Wirken gegen Frieden und Menschlichkeit Einhalt zu gebieten.
Daniela Dahn und Rainer Mausfeld: Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung
Westend-Verlag, Frankfurt 2020, ISBN 978-3-86489-313-1, 224 Seiten, 18 Euro
Online-Flyer Nr. 759 vom 18.12.2020
Daniela Dahn und Rainer Mausfeld: "Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung"
Der Teufelspakt in der Sackgasse
Buchtipp von Harry Popow
Der Leser möge es dem Rezensenten nachsehen: Nach dem gründlichen Lesen dieser außerordentlich tiefgründigen Analyse in dieser gesellschaftskritischen Lektüre kann er nicht anders, als mit hoher Anerkennung den Hut zu ziehen. Aus dieser – soviel sei vorneweg gesagt – spricht soviel unendliche mühevolle Liebe: zu den Menschen, zur Natur, zum Planeten Erde. Und, das muss gesagt werden: Kämpferischer Geist und Tatkraft, um Goethes Faust die beiden Autoren schier beneidet hätte. Während sich Dr. Faust vom Teufel dazu verführen lässt, seine hohen Ideale zugunsten einer billigen, aber menschlich zu verstehenden Ablenkung sausen zu lassen und schließlich zugrunde zu gehen, versucht heute – im Jahre 2020 – ein ganzer Pakt von Teufeln die Menschheit zu ruinieren. Und: Es hat unendlich mehr technische Möglichkeiten, als nur die Verführung durch „Wein, Weib und Gesang“, um jegliche Lust an Erkenntnis über Mensch und Welt im Keime zu ersticken. Was tun?
Die beiden Autoren legen den Finger auf die wichtigste Wunde: Wie befreie ich mich vom Druck der Abwesenheit von Geist? Wie gewinne ich Einsicht und Macht, dem Pakt mit dem Teufel den Garaus zu machen? Zur Freude der wissbegierigen Leser bleiben die renommierte Essayistin und Mitbegründerin des „Demokratischen Aufbruchs“ in der DDR, Daniela Dahn, und der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld nicht bei der Interpretation des Kapitalismus stehen, wie Friedrich Engels in seiner 11. Feuerbachthese mit Blick auf bisherige Bemühungen von Philosophen angemahnt hatte. Nein, sie weiten ihren Blick bei der Aneignung des Volksvermögens der DDR und des Anschlusses der DDR an die BRD 1989 weit aus und ergründen tiefsinnig die Ursachen. Sie widerlegen polemisch und faktenreich die Ansicht von Geschichtsverdrehern, es sei keine Rede mehr vom Kapitalismus, er sei längst überwunden, (Schäuble: „Wir haben doch die soziale Marktwirtschaft“). Und überhaupt, den Klassenkampf gebe es nicht mehr. Sie fahren den heutigen ideologischen Verdrehungen der Kapitaleliten faktenreich und zielsicher in die Parade. Sie helfen möglicherweise den noch neugierigen Lesern, im Nebel der Verdrängungen und Manipulationen und forcierten Ängste in der Corona-Pandemie wieder Boden unter den Füssen zu bekommen.
Das Buch besteht aus fünf Abschnitten. Zunächst lesen wir eine hochinteressante und sehr mühevoll recherchierte „Presseschau“ von Daniela Dahn zur Zeit der Rückwärtswende in der DDR. Sodann beleuchtet sie in „Die Währungsunion war die organisierte Verantwortungslosigkeit“ die brutale geistige Knechtung der Ostler und deren überfallartige Vereinnahmung. Professor Dr. Rainer Mausfeld untersucht in „Wende wohin?“ die Realität hinter der Rhetorik. „Was bedeutet die Forderung nach einem Systemwechsel?“, so Daniela Dahn im nachfolgenden Beitrag. Schließlich diskutieren beide Autoren in sechs Gesprächen über ihre Erfahrungen und Erkenntnisse.
Festzuhalten ist: Bei allen Texten spürt man das akribische Vorgehen der Autoren, das Geschehen ins Auge zu fassen als auch das Eindringen in die Tiefe, in die jeweiligen Ursachen, jene Vorgehensweise, wie sie leider weder in den „Qualitätsmedien“ noch bei Reden von Politikern zu verzeichnen ist. Sie halten sich nicht nur am Feststellen von Widersprüchen auf, sondern bieten auch Nachdenkenswertes für mögliche Alternativen, für mögliche Lösungen.
Bereits in der Einstimmung verweisen die Autoren auf die verspielten Chancen des Jahres 1990, „sowohl für eine internationale Friedensordnung wie auch für eine erneuerte Demokratie“, Chancen, die „aus geopolitischen Interessen und denen der Kapitaleigner gezielt blockiert und somit verspielt wurden“. Alternativen seien aus dem „öffentlichen Denkraum“ verdammt worden. Die Bewältigung der damit verbundenen Probleme – bedingt auch durch die Corona-Krise - werden „durch das Arsenal hochentwickelter Techniken des Meinungs- und Affektmanagements“ massiv erschwert. Der Beitrag von Rainer Mausfeld richte „aus abstrakterer Perspektive einen kritischen Blick auf die illusionserzeugende Kraft der westlichen Ideologie und damit auf das versprochene Paradies einer kapitalistischen Demokratie“. Dazu gehöre die Spaltung und Zersetzung der Gesellschaft. Er fragt, „wie sich die Idee einer radikalen Demokratisierung wieder gesellschaftlich wirksam machen lässt“.
Blind sind für die zerstörerischen Folgen der kapitalistischen Weltordnung
Vorwegnehmen möchte der Rezensent folgendes Zitat von Professor Dr. Rainer Mausfeld auf Seite 191 dieses Buches: „Nur um einem verbreiteten Missverständnis vorzubeugen: Lohnarbeit, Geld und Märkte gab es, von archaischen Gesellschaften abgesehen, wohl zu allen Zeiten, doch sie allein machen noch keinen Kapitalismus. Kapitalismus bedeutet die Herrschaft des Kapitals. Und diese hat einen identifizierbaren Anfang vor etwa 500 Jahren. Und sie hat in unterschiedlichen historischen Perioden und an unterschiedlichen Orten ganz unterschiedliche Formen angenommen. Eine solche Herrschaft des Kapitals ist dadurch gekennzeichnet, dass sie über den Bereich des Wirtschaftslebens hinaus die gesamte Gesellschaft zu durchdringen und den gesamten gesellschaftlichen Reichtum als Waren zu behandeln sucht.“
Daraus ergebe sich die Frage, so lesen wir auf den Seiten 117/118, warum „wir so blind sind für die zerstörerischen Folgen der kapitalistischen Weltordnung? Das Erfolgsrezept des Kapitalismus ist seit jeher, dass er uns zu einem Teufelspakt verführen will, er verspricht uns immerwährenden Fortschritt und eine kontinuierliche Verbesserung unserer Lebensstandards und sorgt zugleich dafür, dass wir unfähig sind, den dafür zu entrichtenden Preis überhaupt erkennen zu können.“
Rainer Mausfeld zieht daraus den Schluss, die „Plünderung von Ressourcen und die Zerstörung unserer sozialen und ökologischen Lebensgrundlagen ist also kein vermeidbares Nebenprodukt des Kapitalismus, sondern gerade Kern seiner Funktionslogik“. Ins Verderben müsse es zwangsläufig führen, wenn die Menschen zwar nur ein paar störende Dinge ändern „und ansonsten im Großen und Ganzen so weitermachen wie bisher“. Die Probleme im Dialog mit den Zentren der Macht zu bewältigen muss als Illusion angesehen werden.
In die gleiche Kerbe haut Daniela Dahn, wenn sie auf Seite 122 jegliche Rufe und Debatten nach einem Systemwechsel, siehe Arabischer Frühling, Weltsozialforum, Gelbwesten oder auch den über vierzig Jahre agierenden „Club of Rome“, für erstaunlich hält und begrüßt, aber gleichzeitig ohne Vorwurf feststellt, „über Debatten und symbolische Akte“ kaum hinausgekommen zu sein. „Wussten sie genau genug, was sie wollten?“ Warum also keine Veränderungen? Ihre Erkenntnis: „Weil im Kapitalismus Profit mehr geschützt wird als das Leben. Der Corona-Lockdown hat diese Gewissheit erstmalig durcheinandergebracht, aber wie er ausgeht, wird sich erst noch zeigen.“ Daniela Dahn gibt die Ansicht eines einstigen Bundesverfassungsrichters wieder: Das einzige Ziel sei „unbegrenztes Wachstum und Bereicherung. Das Gebrechen des Kapitalismus sei nicht in seinen Auswüchsen zu sehen, sondern in seiner Leitidee und deren symbolischer Kraft“. Die Krankheit könne nicht mit „Heilmitteln am Rand“ beseitigt werden.
Daniela Dahn: Volkslektüre, eine Presseschau
Es ist eine sehr breit angelegte Presseschau in Zeiten der Konterrevolution, die Daniela Dahn mühevoll zusammengestellt hat. Ob Zeitungen, Verlage, Politiker, Bürgerrechtler: unzählige Wortmeldungen gibt es zu einem Für oder Wider einer zu schnellen Wiedervereinigung zwischen der BRD und der DDR. Haben die Leser bislang oft nur von Befürwortern gehört oder gelesen, so kommen nun auch Vernünftige mit ihren Stimmen ans Tageslicht, die oft genug einfach überhört wurden und die Leser und Hörer nie erreichten.
So fordern 36 DDR-Bürgerrechtler in ihrem Aufruf „Für unser Land“ den Erhalt der DDR als „sozialistische Alternative zur Bundesrepublik. Zu den Initiatoren gehören Christa Wolf und Stefan Heym, unterstützt aus dem Westen von Günter Grass und Max Frisch. Egon Bahr spricht sich in „Neue Zeit“ für ein ganz neues europäisches Sicherheitssystem aus, „welches die Militärbündnisse überflüssig mache“. Gregor Gysi ist für die Dominanz des Volkseigentums, das müsse erhalten bleiben. Christa Luft spricht am Runden Tisch über die Nachteile der Währungsunion. Walter Momper ist für die Demokratisierung der DDR, für deren Eigenstaatlichkeit. Die Berliner Zeitung berichtet, 43 Prozent der Ostdeutschen seien gegen die schnelle Wiedervereinigung, 38 Prozent aber dafür.
Daniela Dahn stellt sich die Frage, wie es möglich war, vierzig Jahre gewachsenes Selbstbewusstsein einer Bevölkerung in einem Vierteljahr auf den Kopf zu stellen? Im November 1989 sprachen sich 86 Prozent der DDR-Bürger für den „Weg eines besseren, reformierten Sozialismus aus, nur fünf Prozent für einen „kapitalistischen Weg“ (erhoben vom Leipziger Institut für Jugend- und Marktforschung). (S. 14) „Bei der Volkskammerwahl im März 1990 wählten ebenso viele den Weg einer Einheit im Kapitalismus.“ (Nähere Angaben über Wahlkampfergebnisse im Buch.)
Die zahlreichen von Fakten unterstützten Manipulierungen seitens des westdeutschen Großkapitals seien hier als Stichworte angeführt: Denunziationen, Lügen, BILD-Werbungen für Arbeitsplätze in der BRD, aggressive Aneignungsstrategie des Volkseigentums der DDR, BILD: DDR am Tropf, die Lüge von einer neuen deutschen Verfassung. Kohl: Blühendes Gemeinwesen, Angstkampagnen, Slogan der CDU, DSU und DA: „Nie wieder Sozialismus“, Spiegel-Spott: „Auferstanden aus Ruinen und dem Wohlstand zugewandt, wollen wir jetzt was verdienen, halten auf die ausgestreckte Hand“. „Das war reinster psychischer Terror nach Goebbels-Manier“, schimpfte Egon Bahr über Kohls Wahlkampf.
Diese Presseschau bringt das offizielle Bild über die Wende ins Wanken. Die tieferen Ursachen für die aggressive Inbesitznahme eines ganzen Landes, was in dieser Form und in diesem Ausmaß einmalig sei in der Geschichte, findet der wissbegierige Leser in den folgenden Beiträgen.
Daniela Dahn: Währungsunion – organisierte Verantwortungslosigkeit
Ab Seite 90 geht es um die Privatisierung, so um das Treuhandgesetz, „das die angeschlagene DDR-Wirtschaft zum Privatisieren und Verschrotten freigab“, auch über den tausendseitigen Einigungsvertrag vom 31. August 1990, siehe u.a. die im Anhang versteckte Formel „Rückgabe vor Entschädigung“. Kein Wunder, denn in der Sozialisierung in der DDR „sahen die Kapitaleigner immer das eigentliche DDR-Unrecht“. „Das Volkseigentum galt als gestohlenes Privateigentum“, so Daniela Dahn auf Seite 90. Es ging um die Wiederherstellung alter Besitzverhältnisse. Auf Seite 91: „Die wichtigsten DDR-Verfassungsgrundsätze waren aufzuheben, insbesondere die sozialistische Rechtsordnung, um endlich den Erwerb von Privateigentum an Grund und Boden und Produktionsmitteln zu gewährleisten.“ Eingeführt wurde das Recht zu fristloser Kündigung. Auf Seite 97 erklärt die Autorin: Knapp die Hälfte der Ostdeutschen mache sich Sorgen um den Zusammenhalt der Gesellschaft. „Das reiche Deutschland ist heute ein Land, das neue Armut duldet, eine Unterschicht durch Hartz IV treibt, Randgruppen ausgrenzt, Asylanten kurz hält, in dem Gesundheit kostet und Bildungschancen erblich sind.“ Letztendlich, so die Autorin, wo Marktoptimierung herrschen und zunehmende Obdachlosigkeit und rechte Gedankenwut, da gedeihe Gewalt. Eine Umfrage unter Ostdeutschen am 2. Oktober 2019 ergab, dass 74 Prozent der Befragten sich „heute nicht wohler fühlten als zu DDR-Zeiten! 59 Prozent der Jugendlichen und 78 Prozent der über Sechzigjährigen stimmen der Aussage zu, dass bei politischen Entscheidungen in Deutschland unzureichend auf die Meinung der Menschen in Ostdeutschland Rücksicht genommen wird.“
Rainer Mausfeld: Wende wohin? Die Realität hinter der Rhetorik
Festzustellen sei: Gestiegen sei nach den Kriterien des westlichen Vorbilds der Lebensstandard einer Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland – aber auch das Ausmaß sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Spaltung. Der Hauptverlierer sei der real existierende Sozialismus. Er habe „in der jahrzehntelangen Systemkonkurrenz mit dem US-geführten Kapitalismus und ihren brutalen ökonomischen und militärischen Spielregeln nicht vermocht, eine Lebensrealität anzubieten, die die Bevölkerung über diesen Verrat hätte hinwegtäuschen oder sie dafür hätte entschädigen können.“ Der Autor mahnt an, bei der Suche nach den Verlierern von 1989 „noch tiefer unter die Oberfläche“ zu dringen, schließlich gehe es um den Verlust an mühsam errungener zivilisatorischer Substanz, die Leitidee von Demokratie. Das sei nicht überraschend, denn es gehöre „zum Wesensmerkmal einer kapitalistischen Demokratie, dass sie keine ist. Der Widerspruch sei so offenkundig, „dass er sich nur mit ausgefeilten Techniken der Indoktrination unsichtbar und undenkbar machen lässt.“ Der Kapitalismus sei darauf angewiesen, die Minderheit der Besitzenden strikt vor den Veränderungswünschen der Mehrheit zu schützen. Professor Mausfeld warnt vor dem Trugbild, „in einer Gesellschaft zu leben, die frei von Propaganda“ sei. Er verweist auf Sinnentleerungen von Wörtern, von angeblichen Reformen, von dem viel missbrauchten Wort „Freiheit“. (S. 107) Dieses Wort bedeute im Neoliberalismus vor allem, die Freiheit der ökonomisch Mächtigen, „für den Rest der Bevölkerung besteht die Freiheit darin, sich als Konsument und als flexibel fremdverwertbares Humankapital den Bedingungen des ´freien Marktes` zu unterwerfen“.
Die Macht charakterisierend, schreibt der Autor u.a. von Angsterzeugung, von Überwachungs- und Sicherheitssystemen bezüglich dessen, was sich weitgehend der Kontrolle des Staates entzieht, von Kriegen als Mittel der Politik, auf die der Kapitalismus „angewiesen“ ist. Rechtspopulismus sei eine Folge der vergangenen Jahrzehnte neoliberaler Politik, „der Ideologie der Alternativlosigkeit sowie der damit verbundenen Entleerung des politischen Raumes und der Zerstörung kollektiver Identitäten“. (S. 115)
Prof. Dr. Mausfeld untersucht die Mechanismen und die Technik der Manipulation vor allem aus psychologischer Sicht. „… was sich dazu sagen lässt, ist leider weniger erbaulich“. Der Westen verfüge über ein einzigartiges Arsenal höchst raffinierter psychologischer Manipulationsmethoden. Das werde seit mehr als hundert Jahren mit großen Forschungsanstrengungen verfeinert. In diesen psychologischen Techniken einer Bevölkerungskontrolle habe der Westen gegenüber dem Osten einen kaum vorstellbaren Forschungsvorsprung. Kapitalistische Demokratien seien, wie man schon früh erkannte, wegen der freien Wahlen darauf angewiesen, bei den Wählern den Eindruck völliger Freiheit aufrechtzuerhalten und zugleich sicherzustellen, dass diese so wählen, wie sie wählen sollen. Das sei machtechnologisch nur mit höchstem Aufwand zu bewältigen.
Aktuell fügt der Autor hinzu: „Die Corona-Krise ist ja tatsächlich eine Multi-Krise. In ihr kreuzen und verbinden sich sehr unterschiedliche Krisen, die bereits länger erwartet wurden. Dazu gehört auch eine Systemkrise des globalisierten Finanzkapitalismus, die sich auf diese Weise fast unsichtbar gemacht hat und damit ihre Kosten wieder kurzerhand auf die Gemeinschaft umlegen kann. Covid-19 bringt lediglich wie ein Katalysator sehr grundlegende Probleme der gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zum Vorschein.“
Daniela Dahn: Systemwechsel?
Zur machbaren gesellschaftlichen Veränderung gehört gedanklicher Vorlauf, gehören wissenschaftliche Aussagen, Untersuchungen, Schlussfolgerungen aus der Vergangenheit und Pläne. Daniela Dahn widerspricht zu Recht Unduldsamen die da sagen, „wir Älteren hätten keinen Plan“. Es gäbe zu fast allem durchdachte Pläne. Zur „Gemeinwohlwirtschaft, zum Klimaschutz, zur Umverteilung von Reichtum, zu einem anderen Geldsystem, zu neuen Formen der Demokratie und Arbeit im digitalen Zeitalter, zu einer sozialen Bildungsoffensive und vielem mehr“. Auch haben Juristen aus Ost und West im Auftrag des Runden Tisches 1989/90 einen Verfassungsentwurf unter dem Motto „Revolutionäre Erneuerung“ vorgelegt, aber kein Parlament habe diesen Entwurf auch nur behandelt. (S. 124) Was geschieht mit Kritikern, die die Strukturen in Frage stellen? Sie werden ausgegrenzt, bedroht, polizeilich verfolgt, bestochen oder durch PR-Strategien angreifbar gemacht.
Der Autorin Vision: „Eine Gesellschaft, in der Gemeineigentum dominant ist, wäre die einzige, die gemeinschaftlich erwirtschaftete Überschüsse aus freiem, demokratisch ermitteltem Willen in einen Topf werfen kann, aus dem ein Luxus anderer Art erwirtschaftet wird: heilig nicht das Geld, sondern Gesundheit von Mensch und Tier in unbeschadeter Natur. Ein solcher partizipativer Sozialismus, oder wie immer man das neue System nennen mag, käme einer Ordnung nahe, die die Leitidee des Kapitalismus tatsächlich umkehrt.“ (S. 129) Ins Visier nimmt die Autorin das bestehende Rechtssystem, die Dominanz der NATO, das Militär der USA, dem größten „Umweltverschmutzer der Welt“, die Kluft zwischen Arm und Reich in Europa, die machtlos gewordene UNO. Es gehe darum, „die Verheißungen eines Systemwechsels, aber auch die Widerstände dagegen bewusster zu machen“, um uns ein erneutes Scheitern zu ersparen. „Denn dann wird die Erde versinken und verbrennen.“
Daniela Dahn und Rainer Mausfeld: Eine einmalige Gelegenheit - Gespräch
Um Klarheit bei Begriffen wie Demokratie und Freiheit geht es in den interessanten Gesprächen zwischen den beiden Autoren. Hervorzuheben sind u.a. folgende Themen: Das Arsenal raffinierter psychologischer Manipulationsmethoden, Sicherung der Kapitalherrschaft nur dadurch, wenn man sie unsichtbar macht. Die Rolle der Werbeindustrie. Die angebliche Alternativlosigkeit des Westens, die Ursachen der vermutlich überhöhten Phantasien und Idealisierungen über kapitalistische Lebensformen, Versprechungen, Geist und Realität, Neugierde, Wahrheit, die Rolle der Wissenschaft. So u.a. der unsichtbare Mechanismus, „Wissenschaftler mit politisch unerwünschten Ansichten herauszufiltern“. Spaltungsstrategien, „mit denen die Zentren der Macht seit jeher versuchen, emanzipatorische Bewegungen zu zersetzen und dadurch politisch zu neutralisieren“. Diese Spaltungsstrategien seien so erfolgreich, „dass sich soziale Bewegungen immer aggressiver gegenseitig bekämpfen“. (S. 167) „Macht und damit politische Verantwortlichkeiten sind im Nebel von `Kulturen` verschwunden, sei es z.B. die Kultur des Narzissmus, der Selbstverwirklichung, der Emotionskultur, der Risikogesellschaften, der Gesellschaften des Zorns. „Nur eben keine Gesellschaft, die durch ökonomische Machtverhältnisse geprägt ist“. (S. 169)
Lust am Erkennen
Wer als Leser noch genügend Mut und Kraft und Neugier sein Eigen nennen darf, ohne angstvoll auf die politischen Marionetten der Macht zu schauen, dem wird dieses aufrüttelnde Buch der beiden Autoren wie ein geistiges Geschenk unter vielen anderen gesellschaftskritischen Sachbüchern entgegenkommen, zum weiteren Nachdenken anregen und Anlass geben, eigenes Handeln zu hinterfragen. Daniela Dahn und Professor Dr. Rainer Mausfeld haben sich auch mit dieser außerordentlichen Polemik in den Kampf um die Veränderung unserer Lebensverhältnisse geworfen. Ihnen Dank zu sagen kann nicht ohne eigenes ehrliches Zutun ernst genommen werden. Möge diese Arbeit mithelfen, den Teufelspakt der Eliten gegen die Völker weiter in Bedrängnis zu bringen und – wenn möglich – seinem Wirken gegen Frieden und Menschlichkeit Einhalt zu gebieten.
Daniela Dahn und Rainer Mausfeld: Tamtam und Tabu. Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung
Westend-Verlag, Frankfurt 2020, ISBN 978-3-86489-313-1, 224 Seiten, 18 Euro
Online-Flyer Nr. 759 vom 18.12.2020