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Literatur
Der Roman "Unterdeutschland" von Olaf Arndt kommt gerade zur rechten Zeit
Empfehlenswerte Corona-Lektüre
Von Rudolph Bauer

Bereits nach wenigen Seiten Lektüre empfiehlt sich „Unterdeutschland“ als einschlägiger Lesestoff anlässlich des regierungsamtlichen Dekrets einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Der Roman handelt von einem tödlichen Virus, der Berlin und seine Bewohner bedroht. Die Gefahr schwebt als giftige Wolke über der Hauptstadt. Sie ist Folge eines Anschlags im Luftraum oberhalb des ehemaligen Flugfeldes Tempelhof. Die Medien geben dem schwebenden Ungeheuer den Namen "Azova". Staatsnahe Institutionen unterstreichen die Gefährlichkeit des Virus. Angeblich stammt es aus einem russischen Labor. Das klingt vertraut.

Ein Gegenwartsroman aus der Zukunft

Von heute aus gesehen, spielt die Handlung des mehr als 500 Seiten umfassenden Romans erst (oder schon?) in der Zukunft: im Jahre 2022. Die Veröffentlichung geht angeblich zurück auf ein Manuskript, das nach der tödlichen Auslöschung der Autorengruppe BBM/VD zunächst verschollen war. Erst anno 2024 wurde das Manuskript in Teilen wieder aufgefunden und von Olaf Arndt herausgegeben. So das fiktionale Rahmenkonzept des Romans.

Was zunächst wie ein zeitliches Verwirrspiel erscheint (auch die Jahre 1989, 2002, 2004 und 2005 spielen episodische Rollen), ist die geschickte Inszenierung eines Dramas auf drei Ebenen: auf der Ebene der literarischen Entfaltung fesselnder Handlungsstränge, auf der einer sachkundigen Demonstration der dunklen Seiten der Macht, und auf der Ebene des Appells zum Widerstand.

Im Roman sind diese Ebenen sowohl gesondert erkennbar als auch miteinander eng verflochten. Aufgrund der literarischen, an den Film erinnernden Schneidetechnik des Erzählstils hinterlässt die Lektüre sowohl Ratlosigkeit als auch Einsicht, teils Entsetzen und Nachdenklichkeit, teils Aufatmen und den Genuss aus Humor und Unterhaltung.

Wer oder was ist BBM/VD?

Das Akronym der Autorengruppe BBM/VD verrät einiges über den Hintergrund, den Autor und seinen Kunstbegriff, auch über seine Winkelzüge. Die Abkürzung VD steht – so die verschmitzte Offenbarung – „mit großer Wahrscheinlichkeit“ (Seite 085) für „Verräterische Drittperson“ bzw. – „dem aufgeklärten Leser heute jedoch sonnenklar“ – für „Verschwindende Drillinge“. BBM wiederum entschlüsselt sich als die Abkürzung für das 1989 gegründete Künstler- und Kuratoren-Kollektiv namens „Beobachter der Bediener von Maschinen“.

Die BBM, eine Initiative u. a, von Olaf Arndt, verstehen sich – laut Wikipedia – als personell offene Forschungs-Plattform an der Schnittstelle zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik. Sie beschäftigen sich mit der Zurichtung des Menschen durch technische, ideologische und architektonische Maßnahmen. In stets komplexen Inszenierungen im öffentlichen Raum setzen sie Roboter ein sowie selbst entwickelte optische Kontrollsysteme und nicht-tödliche Waffen: Schaum, Strom, Schockwellen, Hitzestrahlen, Maldorants (Stinkflüssigkeiten), Flash-Bangs (Feuerwerkkracher), gepulstes Licht, weiche Projektile und andere, psychologisch effektive Wirkmittel.

Bei Nachforschungen im Internet entpuppt sich BBM jenseits des Romans auch als BBM Group Insurance Broker GmbH, eine in Deutschland 1970 als Gesellschaft mit beschränkter Haftung registrierte Firma, die zuvor unter dem Namen „vd – Versicherungsdienst Melsungen GmbH“ geführt wurde.

Kommissar Falcks Trip durch den „tiefen Staat“

Die öffentlichen Projekte und Straßentheater-Aktionen von BBM thematisieren die Konflikte zwischen systemoppositioneller und staatlicher Gewalt. Ein wichtiges Thema der Gruppe – und so auch des Romans – ist daher „Crowd control“, die Massenkontrolle. Geschildert wird sie aus der Sicht des Kriminalkommissars Hans Falck von der privaten Nachfolge-Organisation der Berliner Polizei. Dieser gerät bei seinen Recherchen anlässlich eines Dreifachmordes in die Unterwelt unter Berlin.

Auf seinem Weg durch den „tiefen Staat“ kommt Falck an viele Stationen, die an Dantes Inferno in der „Göttlichen Komödie“ erinnern. Er trifft auf ein Aktenvernichtungs-Zentrum und auf die Hacker einer ominösen Organisation. Zusammen mit anderen Protagonisten gerät er ins Getriebe mächtiger wirtschaftlicher und politischer Interessen. Zum Schluss stellt er fest, vom Geheimdienst auf eine falsche Fährte gesetzt worden zu sein.

Über dies alles nach Feierabend in seiner Kreuzberger Stammkneipe mit anderen zu reden, ist unmöglich. Falck stößt auf das Unverständnis derer, die in ihrer Alltagsbefangenheit nicht zu erkennen in der Lage sind, wie die Welt um sie herum sich verändert hat, wie sie selber und ihr Lebensstil abgekoppelt sind von den tatsächlichen Herrschaftsverhältnissen. Letztere sind autoritär, aber die gewöhnlichen Menschen und Kneipengänger wähnen sich in der „Normalität“ einer Demokratie.

Die Aktualität im Spiegel künftiger Schrecken

Dieser doppelbödige politische Zustand erscheint wie ein Gleichnis für die aktuelle Situation. Im Zeichen der Corona-Pandemie fühlen sich die Menschen bedroht und in Panik versetzt. Sie halten Abstand voneinander. Sie tragen Masken. Sie werden sich fremd. Demonstrationen sind verboten, Netzeintragungen werden gelöscht. Fernsehen und Presse sind weitgehend konform. Wer die politisch-ökonomischen Zusammenhänge aufdeckt, gilt als Corona-Leugner, Esoteriker, Anhänger von Verschwörungstheorien. Er und sie werden als rechtsaffin ausgegrenzt und zum Schweigen gebracht,

Der Roman beschreibt, wie der permanente Ausnahmezustand einem übermäßig wuchernden Kontrollapparat zur diktatorischen Herrschaft verhilft. „Unterdeutschland“ thematisiert auf beängstigende Weise den paranoiden Wahnsinn der Wirklichkeit. Der Roman demonstriert die inhuman-verbrecherischen Aspekte der gegenwärtigen ordnungs-, polizei- und militärpolitischen Realität.

Zur Sprache kommen u. a. die unzähligen Überwachungskameras in den Städten, der Einsatz unbewaffneter Kontrolldrohnen bei Demonstrationen und bewaffneter Morddrohnen zur gezielten Hinrichtung von Systemabweichlern auf Weisung von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz.

Staaten und Konzerne nehmen in beängstigender Weise Einfluss auf den Alltag. Das Arsenal der Polizei wird um extrem schmerzhafte Technologien erweitert. Der Einsatz von gezielten Elektroschocks, akustischen Täuschungen, Betäubungsgas und Klebeschau sowie die Verwendung von „direkter Energie-Munition“ schließt die Lücke zwischen Schlagstock und tödlicher Waffe.

Angst, Panik und Kontrollwahn

Statt angebliche Sicherheit zu gewährleisten, wird panische Unsicherheit auf Dauer gestellt. Sie zeigt sich in Gestalt des Kontrollwahns der Unternehmen gegenüber ihren Beschäftigten, etwa im Home Office und an den Maschinen, am Beispiel der Datengier von Anbietern gegenüber ihren Kunden, bei der Furcht der Herrschenden vor den Beherrschten. Gleichzeitig ist Unsicherheit der stete Grund für die bei der Bevölkerung immer wieder aufs Neue ausgelöste Panik.

Olaf Arndt, der Autor des Romans, hat sich die Szenarien der Inneren Unsicherheit und die höllischen Maßnahmen, mit welchen der Widerstand der Bevölkerung gebrochen wird, nicht fern von der Realität in seiner Schriftstellerklause ausgedacht. Er kennt die Geschehnisse, über die er scheibt. Seit mehr als zwei Jahrzehnten beobachtet er die Entwicklung der neuesten Technologien politischer Kontrolle der Bevölkerung. Als kritischer Begleiter und im Austausch mit jenen Zeitgenossen, die das Geschehen der Militarisierung des Zivilen mit berechtigter Vorsicht und Sorge verfolgen, unterfüttert er seinen Roman mit Tatsachen.

Arndt hat seinen Roman der Erinnerung an einen dieser Pioniere kritischer Zeitanalyse gewidmet: Steve Wright von der Omega Foundation in Manchester – nicht zu verwechseln mit dem US-Comedian Steven Wright. Bis zu seinem Tod im November 2019 war Wright Inhaber des Lehrstuhls für Globale Ethik an der Beckett University in Leeds. Zuvor war er bis zum Amtsantritt von Margaret Thatcher Mitglied der Behörden-internen Überwachung der englischen Polizei. Als EU-Gutachter war Wright Co-Autor des dreiteiligen Gutachtens über „crowd control“, „mass surveillance“ und „prison technologies“ (1998 ff). Olaf Arndt ist Herausgeber eines auf dieser Basis erstellten und 2005 veröffentlichten Materialbandes mit dem Titel „Technologien Politischer Kontrolle“.

Im Auftrag der EU-Kommission führte Wright’s die Omega-Stiftung eine Reihe von Studien für die Abteilung Menschenrechte und Demokratisierung durch, die sich mit der Aufgabenstellung befassten, durch Recherchearbeit die „Waffenschmieden von Folterern“ aufzuspüren. In den letzten Jahren seines Lebens arbeitet Wright als Experte im EU-Ausschuss für die gesellschaftlichen Auswirkungen der Sicherheitsforschung, als Mitglied des EU-Ausschusses für den Export von Foltertechnologie sowie als Aktivist der Kampagnen gegen Killer-Roboter.

Ein literarisches Werk in bedeutender Tradition

Die Verbindung mit Steve Wright lässt erkennen, dass „Unterdeutschland“ in einem kritischen Kontext entstanden ist, welcher sich engagiert der Überwachung und Steuerung von Personen sowie der technologischen, digitalen und biopolitischen Aushöhlung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, Demokratie, Menschenrechten und Friedensbereitschaft widersetzt.

So gesehen steht Arndts Roman nicht nur in der technologie- und militarisierungskritischen Tradition eines Steve Wright, sondern auch in einer literarischen Tradition, für welche bekannte Titel und Autoren charakteristisch sind – beispielsweise „Schöne neue Welt“ (erstmals veröffentlicht 1932) von Aldous Huxley, „Das ist bei uns nicht möglich“ (1935) von Sinclair Lewis und „1984“ (1949) von George Orwell. Aber auch den Vergleich mit Franz Kafkas „Schloss“ (1922/26), Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ (1929) und Musils „Mann ohne Eigenschaften“(ab 1930) braucht „Unterdeutschland“ nicht zu scheuen.

Die sehr empfehlenswerte Corona-Lektüre „Unterdeutschland“ zeigt die Folgen der erschreckenden Dynamik eines, in irreführender Absicht als „Reset“ angepriesenen Untergangs. Mit ihm ist gegenwärtig nicht nur die Bevölkerung der Bundesrepublik oder in der EU konfrontiert, sondern die gesamte Menschheit. Dem Bremer Verlag Mox & Maritz gebührt Anerkennung, weil er dem Buch in seiner grafischen Gestaltung, drucktechnisch und in der Herstellung eine besondere, der Bedeutung des Bandes angemessene Sorgfalt hat angedeihen lassen.


Olaf Arndt: Unterdeutschland



Roman. 520 Seiten [Innentitel: Aufzeichnungen des AutorInnenkollektivs BBM/VD, gefunden nach deren Auslöschung im Jahr 2024. Herausgegeben von Olaf Arndt.] Bremen: Mox & Maritz 2020. 19,80 Euro. – Glossar, Quellen, Anmerkungen unter: unterdeutschland.bbm.de

Online-Flyer Nr. 764  vom 24.03.2021



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