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Aktueller Online-Flyer vom 23. November 2024  

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Literatur
Gedanken zum 90. Geburtstag des Kölner Schriftstellers Erasmus Schöfer im Rahmen der Feier des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS Köln)
Eingebunden in wichtige Widerstandsbewegungen
Von Werner Rügemer

Lieber Erasmus, wir freuen uns, dass wir mit Dir feiern dürfen, Dein großes sysifikalisches Werk ebenso wie auch Dein langes Leben. Weil da so unendlich vieles zu sagen wäre, will ich es kurz machen, denn auch in unserem langen, wenn auch bisher nicht so langen Leben wie Deinem ist unsere Zeit kurz, auch heute in diesem schönen Raum der Kölner Arbeiterfotografie. Deshalb habe ich aufgeschrieben, was ich zu sagen habe: Wenn der Nobelpreis etwas Gutes wäre, dann würde ich ihn Dir heute verleihen. Du hättest ihn verdient. Aber er ist nichts Gutes, sondern etwas Schlechtes, er ist ein ideologisches, auch sehr raffiniertes Element des US-geführten westlichen Kapitalismus. Ein weltberühmter Schriftsteller, als er den Nobelpreis bekam, 1957 – das war die Zeit, als Du nach dem Philosophie-Studium in Berlin als Industriearbeiter nach Köln gingst - , also dieser weltberühmte Schriftsteller erklärte damals zur Preisverleihung: „Wir Schriftsteller des 20. Jahrhunderts werden nie mehr allein sein. Wir werden Teil des Volkes sein. Und wir werden uns niemals wieder unterordnen, wir werden frei sein in neuer Form – ich meine als Freischärler“.


Geburtstagsfeier des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS Köln) in der Galerie Arbeiterfotografie


Erasmus Schöfer


Werner Rügemer und Pilar Baumeister


Erasmus Schöfer


Werner Rügemer und Erasmus Schöfer

Dieser Schriftsteller hieß Albert Camus, er bekam den Nobelpreis und war und ist weltberühmt. Er hat den Nobelpreis verdient, und zwar den schlechten. Dabei war Camus ein guter und tapferer Mensch, und er hatte sich in Frankreich am Widerstand gegen die faschistische Besetzung beteiligt. Camus hat danach auch ein sisyfisikalisches Buch geschrieben: „L' homme révolté“ (Der Mensch in der Revolte). Das wurde in viele Sprachen übersetzt, auch in die deutsche. Am Ende hatte Camus geschrieben, und das hat mich damals als suchenden jungen Menschen in der christlich lackierten, von vielfältigen Missbräuchen strotzenden Adenauer-Republik, tief bewegt: „Wir müssen uns Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Aber: Müssen wir uns Sisyphus wirklich als glücklichen Menschen vorstellen? Erasmus, Du hast es uns wirklichkeits- und kapitalismusnah bestätigt: Ja und viel Nein. Viel nein, weil Erasmus und seine Helden nicht nur Freischärler sind, einsame Kämpfer, und nicht einfach Teil des allgemeinen „Volkes“, wie Camus ankündigte, sondern vielfach organisierte Kämpfer und Kämpferinnen, Mitglieder von Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, auch mal zum Beispiel kommunistischer Parteien. Sie können scheitern, politisch, auch persönlich in ihren Beziehungen und sie sind dann todunglücklich, und das kann lange dauern. Und sie können auch getötet werden wie die junge griechische Kommunistin Sotiria, die Du, Erasmus in dem Roman „Tod in Athen“ dargestellt hast, und vorher die antifaschistischen Widerstandskämpfer in Griechenland, getötet von US-Napalm-Bomben und US-Sturzkampffliegern im angeblichen Bürgerkrieg. Und dann ist es aus mit dem Diktum des Freischärlers Camus, dass Sisyphus, der Einsame Steinebeweger, ein glücklicher Mensch sei. Aber dafür gibt es den Nobelpreis.

Erasmus, Du warst nicht nur mal für drei Jahre zum Arbeiten in die Industrie gegangen. Mit dem Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, 1969 gegründet, organisiertest Du mit anderen Gleichgesinnten die bis dahin schlummernden, verdrängten, abgetöteten, auch durch Nobel- und viele andere Literaturpreise überspielten Fähigkeiten der abhängig Beschäftigten, ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse selbst darzustellen, und zwar nicht kurz und grob so mal hingesagt in einem gnädig gewährten Fernseh-Interview, sondern in literarischer Form. Erasmus, Du verbrüdertest und verschwestertest Dich nicht, wie Camus es wollte, irgendwie mit „dem Volk“, sondern mit dem unterdrückten, ausgebeuteten und dann auch antikapitalistisch widerständigen Teil des Volkes. Und du bliebst kein einsamer Freischärler, sondern du wurdest Organisator, aktiver Teil von Organisationen und zahlreichen Initiativen, etwa für den Frieden und die Umwelt, und eben für die Literatur der Arbeitswelt.

Dass der abhängig arbeitende Mensch ein gebildeter sei, kulturell fähig auf der Höhe der Zeit, damit auch in organisierter und literarischer Form sich Freiheiten und vielleicht auch einmal die ganze Freiheit verschaffe – diese im Kaiserreich, dann vor allem im Faschismus und auch in der dumpf-bürgerlich-christlichen Adenauer-Republik verhinderte Entfaltung der Persönlichkeit hatte, oh nur scheinbares Wunder, eine große Resonanz: der Werkkreis organisierte 50 Werkstätten, 100 Sammelbände, Lesungen in Betrieben, Gewerkschaftssälen und Schulen, internationale Kontakte.

In der folgenden Tetralogie „Die Kinder Sisyfos“ setztest Du, Erasmus, dies in Romanform fort, eingebunden in wichtige Widerstandsbewegungen von Arbeitern und anderen Aktivisten in der Bundesrepublik Deutschland. Das ist Teil des wichtigsten Teils der Geschichte dieses Landes und Staates, nämlich dass demokratischer gemeinsamer Widerstand geleistet wurde. Und dies hast Du literarisch gestaltet, festgehalten auch für die anderen gegenwärtigen ZeitgenossInnen und jetzige jüngere und künftige Generationen.

Doch das literarisch-politische Erwachen des schlummernden Widerstands und der schlummernden Fähigkeiten der abhängig Beschäftigten wurde von denen bekämpft, gegen die sich dieser Widerstand richtete. Eine krächzende aber viel beachtete Stimme war die des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki: Er dekretierte in der „Zeitung für Deutschland“, der Unternehmer- und Akademiker-Postille FAZ: „Wer nicht schreiben kann, geht zum Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“.

Ein kleines Puzzlestück dieses Niedermachens, das viele, auch so genannte „gebildete“ Formen annahm, habe ich zusammen mit Dir, Erasmus, selbst erlebt. 1996 hatte der WDR unser gemeinsames Radio-Feature „Dreckwässer. Bericht aus dem Unterleib der Städte“ gesendet. Wir schilderten die giftigen Einleitungen aus den Unternehmen in die öffentliche Kanalisation und die geringe Klärleistung der Klärwerke und die Vergiftung des Rheins, und die Vergiftung der Atmosphäre durch das hochgiftige Gas Methan, das aus dem Klärschlamm des Klärwerks wie in Köln-Stammheim aufsteigt, viel giftiger als das viel mehr beachtete CO2.

Die damalige Chefredakteurin des Kölner Stadt-Anzeigers hatte die Sendung gehört. Sie fand das Thema apart und bat uns, für die Wochenendbeilage auf zwei Zeitungsseiten dazu einen hübschen Text zu verfassen. Wir schrieben den Text, lieferten ihn ab. Aber ohne Rücksprache wurde er mehrere Wochen später veröffentlicht, aber an 85 Stellen umgeschrieben, verharmlost, gekürzt, ergänzt, verfälscht – sozusagen hochprofessionell. Wir verklagten den Stadt-Anstreicher, und dessen Geschäftsführer wollte uns außergerichtlich ein paar tausend DM zahlen, wenn wir darüber Schweigen bewahrten. Wir hielten an unserer Klage fest und gewannen. Wir bekamen vom Gericht schließlich 10.000 DM Schadenersatz wegen Urkundenfälschung und Rufschädigung, aber weder der Kölner Stadt-Anstreicher noch irgendeine andere Zeitung des komplizenhaften Medien- und Literaturbetriebs und auch nicht die FAZ haben über dieses in Deutschland erstmalige Urteil berichtet. Der Redakteur, der die Textfälschungen vorgenommen hatte, stieg danach übrigens mit erhöhtem Gehalt in die oberen Regionen dieser Art Medienbetriebs auf, nämlich in die Redaktion des überregionalen Leitmediums Spiegel.

Der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt wurde sanft, aber bestimmt nach oder trotz oder eben wegen seines Erfolgs aus der Öffentlichkeit und aus dem literarischen Leben verbannt, er verschwand. Es beherrschen die Nobel- und anderen Preisträger und das FAZ- und ZEIT- undsoweiter Feuilleton das Feld, die abhängig Beschäftigten sind nicht nur literarisch, sondern auch politisch zum Verstummen gebracht und politisch teilweise nach ganz rechts abgedriftet.

Eigentlich sollten die Erkenntnisse und Impulse von 1968 in eine Revolution münden. Das wäre gut gewesen, wie wir heute wieder erfahren, angesichts der neu geschürten Aufrüstung und der zunehmenden finanziellen wie kulturellen Verarmung der abhängig Beschäftigten.

Erasmus, Du hast realistisch-literarischer Weise den Widerstand des Sisyfos gezeigt, der in den Bundesrepublik möglich war, mehr als jeder andere Schriftsteller. Dies ist ein unschätzbares und bis heute nicht annähernd so breit geschätztes Verdienst, wie es angemessen und nötig wäre.

Wir sind hier aber trotzdem in einem dieser doch möglichen sisyfisikalischen Glücksmomente versammelt. Darin überreiche ich Dir, Erasmus, den noch nicht geschaffenen Preis, der anders heißen wird als der falsche, der einsamen Freischärlern – gelegentlich – überreicht wird wie zuletzt dem US-Sänger Bob Dylan, der sich in ähnlichen Bewegungen bewegte wie Du, aber sich als einsamer Star pflegte und als solcher hochindustriell gepflegt wurde und wird und den Kapitalismus nicht zu kritisieren wagt. Und ich verbinde diese alternative Verleihung mit der Hoffnung, die in dem von Dir dargestellten Widerstand schlummernd angelegt ist, nämlich dass aus dem Widerstand die not-wendige Revolution, also die „wesentliche Veränderung“ werde. Danke Erasmus!

Online-Flyer Nr. 774  vom 21.07.2021



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