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Globales
Ein Versuch, den komplexen gordischen Knoten aufzulösen
Die Türkei, die NATO und die "kurdische Frage"
Von Markus und Eva Heizmann (Bündnis gegen Krieg, Basel)

Das persische Reich – das chinesische Reich – das arabische Weltreich – das osmanische Reich, all dies ist für uns Europäer offensichtlich viel zu kompliziert, deshalb subsumieren wir es unter dem viel leichter zu merkenden Begriff «Orient». Das hat gleich mehrere Vorteile: Wir müssen uns nicht mehr um historische Fakten wie z.B. das Kalifat kümmern, China, Indien. Überhaupt alles was hinter der Türkei liegt, ist mit gemeint, und außerdem haben wir so ein neues Berufsbild, nämlich das des «Orientalisten», kreiert. Kommt dazu, dass stets alles noch viel komplizierter dargestellt wird, als es ohnehin schon ist. Und um das Chaos wirklich komplett zu machen, brauchen wir natürlich Experten. Diese erklären uns dann beispielsweise, dass die arabische Welt aus vielen, meist gegensätzlichen Ethnien bestehe, die sich keinesfalls miteinander vertragen könnten, dass namentlich die kurdische Bevölkerung unbedingt einen eigenen Staat brauche und dass die Türkei, welche aktuell in Kumpanei mit den USA und mit anderen NATO-Verbänden illegal syrisches Land besetzt hält, auch eine äußerst komplexe Angelegenheit sei. Diese Komplexität wird richtiggehend kultiviert und zelebriert. Ziel ist selbstverständlich, einfache Fakten wie zum Beispiel die illegale Besatzung, verbunden mit Angriffskriegen, so verworren und so kompliziert wie möglich darzustellen – wo kein Verständnis ist, kann auch kein Widerstand entstehen. Wir wollen im Folgenden versuchen, diesen gordischen Knoten aufzulösen, ohne dabei das Schwert zu Hilfe zu nehmen.

Das Osmanische Reich

 Die moderne Republik Türkei ist aus dem osmanischen Reich entstanden. Das Osmanische Reich ist das letzte islamische Großreich der Geschichte. Es bestand von 1300 bis 1923 und umfasst somit über 600 Jahre Geschichte des Mittelmeerraumes, Nordafrikas, Südost- Europas und des Nahen Ostens. Es ist selbstverständlich, dass ein Reich, welches sechs Jahrhunderte überdauert hat, nicht nur die eigene, sondern auch die Geschichte der näheren und weiteren Nachbarländer maßgeblich mitgeprägt hat.

Auf dem Höhepunkt seiner Macht dehnte sich das Osmanische Reich über drei Kontinente aus: Von Ungarn im Norden bis nach Aden im Süden und von Algerien im Westen bis zur iranischen Grenze im Osten. Den politischen Mittelpunkt des Reiches bildete das Gebiet der heutigen Türkei. Mit dem Vasallenstaat Krim dehnte sich das Reich gar bis zur heutigen Ukraine in Südrussland aus. Als einer der Begründer des Reiches gilt Osman Ghasi. (1)

1354 wurde Ankara im Zentrum Anatoliens erobert. Im selben Jahr besetzten die Osmanen Gallipoli (Gelibolu) an den Dardanellen. 1361 nahmen sie Adrianopel (heutiges Edirne) ein und machten dieses zur ihrer neuen Hauptstadt. 1389 besiegte Murad I. die Serben in der Schlacht auf dem Amselfeld, die Osmanen nahmen in der Folge Thrakien, Makedonien und einen grossen Teil von Bulgarien und des heutigen Serbien ein.

Die Niederlage gegen den Mongolenfürsten Timur Lenk (1402) erwies sich nur als kurzfristiger Rückschlag für die Osmanen, die ihr Reich umgehend wieder aufbauten, festigten und weiter ausdehnten. 1453 eroberte Sultan Muhammad II. Konstantinopel, das heutige Istanbul und machte es in der Folge zur Hauptstadt des Osmanischen Reiches. Die Welle der Eroberungen setzte sich während des ganzen 16. Jahrhunderts fort. Unter Sultan Selim I. dem Strengen wurden die Safawiden aus dem Iran besiegt (1514), das Reich wurde zudem um Ostanatolien erweitert. 1516 und 1517 wurden die Mamelucken in Syrien und Ägypten geschlagen und ihre Gebiete eingenommen. Selims Sohn und Nachfolger Süleyman II., der Grosse, gilt als der mächtigste aller osmanischen Herrscher. Während seiner Herrschaft wurde der Irak, erobert, (1534) und die Kontrolle über den östlichen Mittelmeerraum wurde gefestigt. Durch die Annexion von Algier drangen die Osmanen bis in den nordafrikanischen Mittelmeerraum vor. Süleyman führte osmanische Truppen weit nach Europa hinein: Belgrad wurde 1521 erobert, Ungarn wurde in der Schlacht bei Mohács 1526 geschlagen. Einzig die Belagerung Wiens, 1529, durch die Truppen Süleymans blieb erfolglos.

Höhepunkt…

Mit diesen Eroberungen durch Süleyman II. (dem Grossen) erreichte das Osmanische Reich seinen Höhepunkt.

Die Bevölkerung des Osmanischen Reiches war hinsichtlich Sprache, Kultur und Religion heterogen. Die Mehrheit der Bevölkerung in den europäischen Provinzen stellten die Christen der orthodoxen koptischen Kirche. In Thrakien, Makedonien, Bulgarien, Bosnien und Albanien verbreitete sich allerdings sehr rasch der Islam. In den asiatischen Provinzen bildeten Muslime die Mehrheit der Bevölkerung. Der Staat ließ den Religionsgemeinschaften bei der Regelung ihrer Angelegenheiten freie Hand. Die Gesellschaft war in Religionsgemeinschaften einerseits, sowie in wirtschaftlichen und sozialen Gilden und Zünften andrerseits organisiert.

Die ersten drei Jahrhunderte des Osmanischen Reiches waren eine Zeit des Wohlstands, der sich in der Entfaltung einer reichen Kultur widerspiegelte: In der Musik und der Literatur, in der Malerei, der Kalligraphie und vor allem auch in der Architektur.

…und Niedergang

Der schleichende Niedergang des Osmanischen Reiches setzte bereits gegen Ende der Regierungszeit von Süleyman II, um 1690 ein. Jedoch erst zum Ende des 1. Weltkrieges zerfiel das Reich endgültig.

Während des 19. Jahrhunderts verschärfte sich die Gefahr einer Eroberung durch ausländische Mächte durch das Entstehen des Nationalbewusstseins der unter osmanischer Herrschaft stehenden Völker. Dieses Nationalbewusstsein wurde vor allem von den europäischen Mächten geschürt und (nicht nur) in den arabischen Raum hinein getragen. Sinn und Zweck dieser Politik war und ist, die gutnachbarlichen Beziehungen der Völker untereinander zu stören, sie zu spalten und so sturmreif für die kolonialen Angriffe der Europäer zu machen.

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nahmen die osmanischen Herrscher zum ersten Mal verstärkt Kredite im Ausland, bei europäischen und US amerikanischen Bankhäusern auf, u.a. um so verschiedene Reformen finanzieren zu können. In der Folge war das Reich bereits 1875 außerstande, die Zinsen für diese Auslandsschulden zu bezahlen.

Restriktive Maßnahmen gegen Minderheiten, in Szene gesetzt von den Westmächten, waren Teil der neuen Politik, die in den Massakern an Armeniern in den Jahren 1894 bis 1918 gipfelten.

„Erster Weltkrieg“

Eine Einmischung des Osmanischen Reiches in den Weltkrieg wollte die Hohe Pforte eigentlich vermeiden. Aber das Angebot Deutschlands, das Reich bei der Rückeroberung der verlorenen Provinzen zu unterstützen und die Beschlagnahmung türkischer, in England im Bau befindlicher Kriegsschiffe durch die Briten, führten das Osmanische Reich letztendlich zum Kriegseintritt an der Seite der Mittelmächte (Deutsches Reich und Österreich-Ungarn) im Jahr 1914. Die türkischen Streitkräfte drängten in Gallipoli eine britische Streitmacht erfolgreich zurück. Der Feldzug auf die Sinai-Halbinsel mit dem Ziel der Eroberung des Suezkanals und Ägyptens verlief allerdings erfolglos und endete mit der von den Briten angezettelten arabischen Revolte auf der Arabischen Halbinsel. Eine britische Truppe überfiel Syrien von Ägypten aus und erreichte gegen Kriegsende Südanatolien. Ohne massive arabische Unterstützung wären die Briten jedoch niemals so weit gekommen. Die verheerenden Folgen dieser Niederlagen wurden durch innere Revolten, Lebensmittelknappheit, Hungersnot und Krankheiten noch verschlimmert. Rund sechs Millionen Menschen, etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung des Reiches, starben, oder sie wurden getötet, die Wirtschaft des Landes war zerstört.

Mustafa Kemal Atatürk, der «Vater aller Türken»

Nach der Kapitulation des Reiches wurde die türkische Regierung unter die Aufsicht der alliierten Besatzungsmächte unter Führung der Briten gestellt. Auf der Pariser Friedenskonferenz wurde die Abtretung der Balkanprovinzen und der arabischen Provinzen beschlossen, und die vorwiegend von Türken bewohnten Gebiete in Ost- und Südanatolien sollten unter ausländische Kontrolle oder die Kontrolle von Minderheitengruppen kommen. Eine große griechische Streitmacht nahm 1922 Izmir und Südwestanatolien ein.

In der Folge der vorgeschlagenen Friedensregelung und als Antwort auf die Invasion Griechenlands entstand in Anatolien unter Führung von Mustafa Kemal Atatürk, (geboren 1881 in Thessaloniki) eine türkisch nationalistische Bewegung. Während des türkischen Unabhängigkeitskrieges (1918-1923) widersetzte sich Atatürk erfolgreich den Bedingungen der Alliierten, verdrängte die griechischen sowie die britischen, französischen und italienischen Besatzungsmächte und setzte eine im «Frieden von Lausanne» (1923) festgelegte Regelung durch, welche der Türkei die uneingeschränkte Kontrolle über die türkischen Gebiete von Ostthrakien und von Anatolien sicherte. Nach diesem Erfolg wurde die Republik Türkei mit Ankara als Hauptstadt ausgerufen, das osmanische Reich mit Sitz in Istanbul war somit ab 1923 Geschichte.

Die «kurdische Frage»

Innerhalb des heutigen modernen Vielvölkerstaates Türkei bilden die verschiedenen kurdischen Gruppen mit ca. 20% die größte Minderheit. (Türken ca. 70%, andere Minderheiten ca. 10%) (2) Der vom Atatürk begründete türkische Nationalismus ist tief verankert. Minderheiten werden von der Türkei generell nicht anerkannt, dies gilt für alle in der Türkei. Araber, Assyrer, Thrakische Bulgaren, Lasen und Kurden, sie alle gehören nebst vielen anderen Gruppen zu nicht anerkannten Minderheiten. Bedingt durch die zahlreichen bewaffneten Auseinandersetzungen ist der Anteil der kurdischen Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge hoch, wenn auch je nach Intensität der Kämpfe schwankend. (3)

Die traditionellen kurdischen Siedlungsgebiete erstrecken sich außerdem auf insgesamt fünf verschiedene Länder: Türkei, Irak, Iran, Syrien und Aserbaidschan.

Eine eigentliche «kurdische Frage» wurde während der Auflösung und schließlich nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches von den Westmächten, namentlich von England und Frankreich konstruiert. Während der Blütezeit des Osmanischen Reiches waren die KurdInnen, ebenso wie alle anderen «Ethnien», in die gesamte Gesellschaft des Osmanischen Reiches integriert, mit allen Vor- und Nachteilen welche das mit sich brachte. Diese Politik der weitgehenden Integration und Kooperation hatte die Hohe Pforte noch vom Kalifat übernommen.

Die heutige imperialistische Unterdrückung der Minderheiten durch den türkischen Staat, auch der kurdischen Minderheit, wird von niemandem bestritten und der Widerstand dagegen ist selbstverständlich legitim. Dies hat nichts mit Abspaltung und Separation zu tun. Abspaltung und Separation, offen oder verdeckt, gehören zum imperialistischen Kerngeschäft und zur imperialistischen Agitation. (4)

Im Irak hat die kurdische Führung, nach der Besetzung durch US amerikanische Truppen im Norden des Landes die rohstoffreichen Gebiete in Kumpanei mit den USA vom Irak abgetrennt und sie reklamieren für sich eine «Autonomie», Gleiches beobachten wir in diesen Tagen im Norden Syriens: Rohstoffraub in der Region von Idlib, gemeinsam mit den USA gegen den syrischen Staat.

Das diese Zusammenhänge von weiten Teilen der kurdischen Führung entweder nicht durchschaut oder negiert werden, ist nicht nur bedauerlich. Es ist eine direkte Entsolidarisierung mit dem internationalen Befreiungskampf der Völker gegen die imperialistischen Machtansprüche.

Die langen und blutigen Kämpfe welche die kurdischen Verbände teils in Verteidigungs- teils in Angriffskriegen führten und noch immer führen, warten noch immer auf eine klare politische Analyse. So wird, vor allem in linken Kreisen, tunlichst vermieden, Kritik an der oft offensichtlich falschen Politik der kurdischen Führung zu üben, von einer Selbstkritik gar nicht zu reden. Um nur ein Beispiel dieser verfehlten Politik zu nennen: Die kurdische Führung meint immer wieder, mit den imperialistischen Mächten zusammenarbeiten zu können. Im Fall der verräterischen Zusammenarbeit kurdischer Verbände mit den USA in Nordsyrien wird oft argumentiert, die «revolutionären KämpferInnen von Rojava» würden «den Imperialismus instrumentalisieren». Das ist natürlich absurd. Der Imperialismus lässt sich nicht instrumentalisieren, der Imperialismus instrumentalisiert. Mit dem Imperialismus und seinen Helfershelfern kann nicht verhandelt werden. Oder wie es der ermordete Präsident des Iraks, Saddam Hussein gegenüber Mullah Mustafa Barzani, (dem Vater des heutigen Barzani) formulierte: «Du lässt dich mit den USA ein? Dann denk daran: Wenn du mit dem Teufel essen willst, brauchst du einen langen Löffel, sonst verbrennst du dir die Finger» (5) Abgesehen davon beteiligen sich die kurdischen KämpferInnen aktiv an der geplanten Zerstörung und am Raub am syrischen Staat. Einem Staat nota bene, welcher der kurdischen Sache, wenn es um deren Befreiung von der türkischen Unterdrückung ging, jahrzehntelang solidarisch zur Seite stand!

Diese fatalen Fehler der kurdischen Führung (nicht nur) in Nordsyrien bezahlen die betroffenen Menschen der Region mit ihren Leben, der Angriffskrieg gegen Syrien wird unnötig verlängert, die im besetzten Norden geraubten Rohstoffe verschärfen die Folgen der illegalen westlichen Blockade gegen Syrien. Bewusst oder unbewusst wird so dem türkischen NATO Regime und damit dem Imperialismus zu gedient.

Der Vertrag von Sèvres

Der Vertrag von Sèvres vom 10. August 1920, der zwischen Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, und den übrigen Siegermächten des 1.Weltkriegs und dem Osmanischen Reich abgeschlossen wurde, gehört zu den Pariser Vorortverträgen, die den 1. Weltkrieg formal beendeten. Eine Ratifikation des Vertrags erfolgte aufgrund des Untergangs des Osmanischen Reiches und des Sturzes des letzten Sultans Mehmed VI. nicht mehr. Der bereits begonnene türkische Befreiungskrieg, angeführt von Mustafa Kemal Atatürk ging indes, ebenso wie zahllose koloniale Raubzüge der Europäer, unvermindert weiter, von einem «Ende» des Weltkrieges konnte also keine Rede sein.

Der Vertrag sollte das Osmanische Reich in möglichst viele kleine und kleinste Staaten aufsplitten: Kurden, Araber, Turkmenen, Armenier und Andere sollten nach dem Willen der Siegermächte fortan nationale getrennte Wege gehen. Wie weiter oben bereits erwähnt, wurde diese Zerstückelung von Atatürk weitgehend verhindert. Selbst die kurdischen Delegierten wandten sich gegen die Idee eines Nationalstaates «Kurdistan». Gleichwohl wurde dem kurdischen Volk in Sèvres ein eigener Staat versprochen. Zum Teil berufen sich kurdische Nationalisten noch heute darauf. Nationalstaaten, wie sie von Kolonialisten und Imperialisten vorgeschlagen und zum Teil leider auch durchgesetzt werden konnten, entsprechen jedoch in keinem einzigen Fall dem Willen der Völker. Im Gegenteil sind derartige künstlich geschaffene Gebilde in aller Regel imperialistische Einflusszonen und Anlass für lang anhaltende, bis zum heutigen Tag immer wieder ausbrechende blutige Konflikte – ganz im Sinn der imperialistischen Militärmächte. Dagegen steht die Politik der Integration und der Kooperation, wie sie exemplarisch von der Regierung des Iraks unter Hasan al Bakar (Präsidentschaft 1968–1979) und unter Präsident Saddam Hussein praktiziert wurde. (6) Auch in Syrien, dem Iran und in Aserbaidschan kann - im Gegensatz zur Türkei - nicht von einem «Kurdenproblem» gesprochen werden, wenn auch die gemachten Konzessionen in den genannten Ländern jeweils unterschiedlich weit gehen. Zu dieser Politik der Kooperation und der Integration gibt es keine Alternative!

Zum Beispiel: Die Rolle der Türkei während und nach der Aggression gegen den Irak von 2003

Im Jahr 2003, kurz bevor der Irak angegriffen wurde, kamen Hilferufe an die Adresse ihrer Vasallen aus den USA. Nachdem sich der UNO Sicherheitsrat geweigert hatte, den Angriffen zuzustimmen, beschlossen die USA, die Angriffe im Alleingang, mit einer so genannten «Koalition der Willigen» loszutreten. Diese Angriffe waren und sind völkerrechtswidrig. Die Geschichte wird die USA und deren Vasallen verurteilen.

Die Türkei unter dem Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan gehörte von Anfang an zu dieser «Koalition der Willigen». Erdogan willigte erst ein, sich mit türkischen Truppen an der Invasion des Iraks zu beteiligen. Sein Plan sah vor, dass die türkische Armee von Norden her in die Kurdengebiete des Nordiraks einfallen und die Ölquellen von Kirkuk und Mossul in Beschlag nehmen sollte. Das stieß bei den US Generälen auf wenig Gegenliebe. Sie gaben Erdogan zu verstehen, dass die türkischen Einheiten in der Koalition selbstverständlich herzlich willkommen seien, aber nur und ausschließlich unter dem Oberbefehl der USA. Eine Sicherung der Ölquellen des Nordens komme schon gar nicht in Frage. Mit anderen Worten: Ihr dürft für uns kämpfen und sterben, aber die Beute, die verteilen wir!

Daraufhin hielt Erdogan vor dem türkischen Parlament eine viel beachtete Rede, in welcher er versicherte, es sei keineswegs die Absicht der Türkei, sich «an einem Angriff gegen ein islamisches Bruderland zu beteiligen», dies um so mehr nicht, als der UNO Sicherheitsrat diesen Angriff ja gar nicht gut heiße. (7)

Dieser „friedvollen“ Haltung tat es offenbar keinen Abbruch, dass die türkische Regierung den USA sowohl uneingeschränkte Überflugrechte als auch die Militärbasis von Incirlik zur Verfügung stellte. Beides löste in der türkischen Bevölkerung massive Proteste aus. (8)

Teil der NATO, Teil des imperialistischen und zionistischen Konzepts

Genau dieser Widerspruch zwischen der Politik der verschiedenen türkischen Regimes und den teilweise revolutionären Forderungen des Volkes befeuert den Narrativ der Komplexität. Hinzu kommt, dass die meisten westlichen Medien und Kommentatoren Recep Tayyip Erdogan oft als einen größenwahnsinnigen kleinen Sultan zeichnen. Nach dieser Leseart bietet Erdogan sowohl Europa, den USA als auch Russland die Stirn und verfolgt eine eigenständige türkische Großmachtspolitik. Das ist natürlich Nonsens.

Kein Land, keine Regierung innerhalb des NATO Komplexes kann für sich «Unabhängigkeit» reklamieren. Zu gross sind dafür die gegenseitigen Verpflichtungen, sei es wenn es um die Beteiligung an den Angriffskriegen der NATO geht, sei es wenn es um die Stationierung von Atom- und anderen Waffen geht. Dies ist – ebenso wie die Beteiligung an den illegalen Blockaden - erwähnt seien Syrien, Kuba, Venezuela unter vielen anderen – Teil des transatlantischen Hegemoniekonzepts. Ohne jeden Zweifel ist die Türkei ein integraler Bestandteil dieses Konzepts.

Sehen wir uns diese drei Bestandteile – NATO, Imperialismus und Zionismus an, so erkennen wir, dass die Türkei zwar formell hier oder da, manchmal sogar sehr lautstark, gegen die EU, gegen Israel oder gegen die USA polemisiert, in der Realpolitik jedoch immer und in jedem Fall auf der Seite der Aggressionsmächte steht. Sei es gegen Syrien, sei es gegen Libyen oder sei es die militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit des türkischen Staates mit Israel: Es ist klar, auf welcher Seite der Barrikade das Regime in Ankara steht.

Teil der NATO:

Zum Beispiel die Incirlik Air Base: Offizieller Eigentümer des Stützpunktes sind die türkischen Luftstreitkräfte. Seit der Inbetriebnahme von Incirlik ist jedoch die US-Luftwaffe größter Nutzer des Stützpunktes. In der Incirlik Air Base lagern die meisten Atomwaffen der US Armee außerhalb der USA. (9) Von Incirlik flogen (und fliegen) die USA ihre völkerrechtswidrigen Angriffe gegen den Irak, gegen Afghanistan und gegen Syrien. Seit 2016 wird der Stützpunkt auch von der Bundeswehr als Ausgangspunkt für Angriffe gegen Syrien genutzt. Der uninteressierten Öffentlichkeit werden diese Angriffe als «Bekämpfung des Islamischen Staates» verkauft. Soviel zum Thema «Komplexität».

Teil des Imperialismus:

Die NATO ist der bewaffnete Arm des Imperialismus. Staaten können Teil des Imperialismus und des transatlantischen Räderwerks sein, ohne dass sie dazu zwingend NATO Mitglieder sind. So genannt «neutrale» Staaten wie die Schweiz, Österreich oder Irland sind dafür Beispiele. Eine Mitgliedschaft in der NATO ohne Gefolgschaft bei den imperialistischen Machenschaften der EU und der USA ist indes unmöglich. Demzufolge kann die Türkei zu 100% dem westlich imperialistischen Lager zugerechnet werden. Selbstverständlich gibt es hierzu auch Widersprüche. Widersprüche finden wir jedoch in jedem imperialistischen Land, ja nur all zu oft sind sich die Länder selbst innerhalb ihrer jeweiligen Gesellschaften nicht einig. Wichtig ist indes die Position, welche gegenüber den Angriffskriegen des Imperialismus eingenommen wird, und da erweist sich die türkische Regierung immer und immer wieder als williger Vollstrecker der Interessen von Washington und Brüssel.

Teil des Zionismus:

Wir alle erinnern uns noch an die vielen vollmundigen Worte von Erdogan gegen Israel, zum Beispiel anlässlich der zionistischen Angriffe gegen Gaza. (10) Die Proteste indes bleiben verbal. Weder wurden die ausgezeichneten militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Türkei und Israel tangiert, noch kam es auf offizieller Ebene zu Protesten auf diplomatischem Level. Gutgläubige feierten die türkische Regierung trotzdem als «Freund Palästinas» und als «Kritiker der Zionisten» ab. Wohlfeile Worte die nichts kosten! Die Türkei beliefert den israelischen Staat nach wie vor mit Wasser. Nicht erst seit Erdogan wird das lebensnotwendige Wasser von der Regierung in Ankara hemmungslos als Waffe eingesetzt, indem den Nachbarländern Syrien und Irak durch Staudämme das Wasser entzogen wird. (11)

NATO Mitglied: Ja bitte! EU Mitglied: Nein Danke!

Mit dem durch die Westmächte initiierten Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, hat das, was wir heute als «Türkische Republik» kennen, politisch aufgehört, Teil der arabischen Region zu sein. Dies war eine politische Entscheidung vor allem von Mustafa Kemal Atatürk. Gewiss: Durch Atatürk wurde die von Frankreich und England geplante Zerstückelung des Reiches mindestens teilweise verhindert. Jedoch peitschte Mustafa Kemal die Europäisierung der Türkei voran, welche darin gipfelte, dass der «Vater aller Türken» die arabische Schrift des Osmanli durch ein fiktives lateinisches Alphabet, welches bis zum heutigen Tag in der Türkei gültig ist, ersetzen liess. Ein verheerender Schritt: Damit raubte er einem Volk von einer Generation zur anderen seine gesamte Geschichte, eine Akkulturation, wie die unseres Wissens einzigartig ist, weil sie von einer Regierung gegen das eigene Volk angewandt wurde.

Seither richtet jede türkische Regierung ihren Blick gegen Westen und wird dementsprechend von den Westmächten an der Leine geführt. Ein EU Beitritt kommt für das NATO Mitglied Türkei nach wie vor nicht in Frage und dafür führt die EU – man höre und staune – u.a. Bedenken bezüglich der Menschenrechte ins Feld. Dieselbe EU, die versucht, Syrien mittels einer Hungerblockade an den Rand des wirtschaftlichen Kollapses zu treiben. Direkt und indirekt werden dadurch syrische Menschen ermordet und internationales Recht wird in den Schmutz getreten. Ausgerechnet diese EU pocht nun bei der Türkei auf die Einhaltung der Menschenrechte!

NATO ersatzlos streichen!

Ebenso wie jedes andere Mitgliedsland macht sich auch die Türkei durch die Mitgliedschaft in dem Angriffsbündnis NATO sowohl abhängig als auch erpressbar. Abhängig, weil mit dem Militärisch Industriellen Komplex der NATO vielfältige wirtschaftliche und politische Interessen verknüpft sind. Erpressbar, weil vor allem die Außenpolitik des Landes nun weitgehend fremdbestimmt wird. Kooperation und gutnachbarliche Beziehungen werden den transatlantischen Interessen geopfert. Ein Schaden, der wahrscheinlich auf Jahrzehnte hinaus nicht wieder gut zu machen ist. Hinzu kommt die innenpolitische Bilanz der Türkei: Wer immer sich der Politik von Erdogans AKP widersetzt, hat mit Repressalien zu rechnen, die über Schikanen bis hin zu langjährigen Gefängnisstrafen reichen. Die politischen Gefangenen in den türkischen Kerkern legen Zeugnis davon ab, dass das System vor nichts zurückschreckt. Monate- oft jahrelange Isolationshaft ohne Anklage ist keine Ausnahme. Nach wie vor gehören Folter und Einschüchterung zu den täglichen Methoden in den türkischen Gefängnissen. Auch da erkennen wir einen ursächlichen Zusammenhang zur NATO Mitgliedschaft. Guantanamo, Abu Ghraib, bekannte und unbekannte Folterknäste der USA sind mit dem US / NATO Komplex untrennbar verbunden. Dass die Türkei da als Mitglied der NATO nicht aus dem Rahmen fällt, versteht sich von selbst und: Wer staunt eigentlich darüber?

Ob nun in der Türkei an den fragilen Grenzen zur arabischen Welt, ob an Russlands Grenzen zur Ukraine, ob in Mali oder in Libyen: Die NATO und mit ihr der treue Bündnispartner Türkei ist überall dort aktiv, wo es um die Erringung oder um die Erhaltung der imperialistischen Macht und letztendlich um Rohstoffraub und die Ermordung der Menschen im großen Still geht. Und dies hat nun wirklich nichts mehr mit dieser oder jener Regierung in der Türkei zu tun. Die AKP handelt in dieser Beziehung genau so, wie jede andere Regierung eines jeden anderen NATO-Mitgliedes auch handelt. Dagegen hilft in der Tat nur eines: Kündigung der NATO-Verträge und schlussendlich die ersatzlose Auflösung der NATO!


Fußnoten:

1 Osman Ghasi I. (1258-1326), türkischer Fürst, Begründer der nach ihm benannten osmanischen Dynastie, schuf die Grundlagen des Osmanischen Reiches.
2 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/216189/umfrage/ethnien-in-der-tuerkei/
Letzter Zugriff Februar 2022)
3 Istanbul, als ein gewaltiger Anziehungspunkt für die Binnenflüchtlinge wurde auch schon „Die grösste Kurdische Stadt der Türkei genannt. („Stammheim am Bosporus – eine Aufforderung zum Handeln“ Vertrieb durch TuP, Hamburg)
4 Siehe dazu: “Die gespaltene Welt – Imperialismus Heute“ Karam Khella, TuP Verlag, Hamburg
5 Dr. Amer Iskander: „Saddam Hussein – the fighter, the thinker, the man” https://advocatesforpeaceandsocialjustice.wordpress.com/iraq-the-truth/iraq-committee-info-usa/saddam-hussein-the-fighter-the-thinker-and-the-man-2/ (Letzter Zugriff Februar 2022
6 Ebenda
7 Hurriyet
8 Damit befindet sich die Türkische Regierung in bester Gesellschaft: Deutschland und andere Länder, welche sich verbal gegen die Angriffe geäußert haben, gewähren den Aggressoren Überflug- und Landerechte. Siehe dazu das Jahrbuch Risala Nr. 6, mit Schwerpunkt Irak, TuP Verlag Hamburg, 2004
9 https://de.statista.com/infografik/5293/incirlik-stuetzpunkte-atomwaffen/ (Letzter Zugriff Februar 2022)
10 Erdogans Auftritt am WEF 2009 war damals in aller Munde: https://www.news.ch/Eklat+am+WEF+Erdogan+verlaesst+Veranstaltung/351904/detail.htm
(Letzter Zugriff Februar 2022)
11 Risala Jahrbuch Nr. 5, Schwerpunkt Imperialismustheorie: «Wasser als Waffe – Ecevits Schulterschluss mit den Zionisten», Tup Verlag Hamburg, 2002

Online-Flyer Nr. 786  vom 16.02.2022



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