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Aktueller Online-Flyer vom 21. November 2024  

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Kommentar
Eine Bestandsaufnahme über die fehlende politische Schulung – eine Klage
Es war einmal eine linke Bewegung...
Von Markus Heizmann (Bündnis gegen Krieg, Basel)

Die älteren Semester unter uns mögen sich bestimmt noch erinnern: Egal ob in der Schule, am Arbeitsplatz, an den Universitäten oder in den Jugendzentren, die Linke war immer und überall in irgendeiner Form präsent. Es gab Parteien, diverse K-Gruppen, Jugendgruppen, Solidaritätsbewegungen, und sie alle gaben sich Mühe, Mitglieder und Interessierte zu schulen. Wer immer Interesse an einer nicht bürgerlichen Politik hatte, erhielt so die Gelegenheit sich zu informieren, vom klassischen Marxismus, über den Maoismus, Trotzkismus, hin zu einer weit gefächerten sozialen Friedenspolitik. Das weite Feld der linken politischen Ideologien stand nicht nur allen offen, es war auch angesagt, sich in diesen Gruppen zu bewegen - und nicht zu vergessen: es machte auch Spaß. Man mag nun einwenden, all zu viel können diese Schulungskurse nicht gefruchtet haben, sonst würde unsere politische Landschaft nicht so aussehen, wie sie sich eben zurzeit präsentiert: Weitgehend uniform und dem transatlantischen Narrativ verpflichtet. Gewiss, das ist ein Argument, allerdings kein Argument gegen eine adäquate politische Schulung. Wir werden weiter unten darauf zurückkommen.

Die politischen Schulungen in der Vergangenheit hatten zweifellos ihre Mängel. Diese Mängel warten übrigens noch immer darauf analysiert zu werden. Ohne jeden Zweifel kann jedoch konstatiert werden: Das allgemeine politische Bewusstsein hat, namentlich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in sämtlichen europäischen Ländern nicht nur gelitten, sondern es ist weitgehend ruiniert. Wie kommen wir zu diesem verheerenden Schluss?

Es ist ja nicht so, dass sich früher alle, die sich links nannten, einig gewesen wären. Wiederum ausgehend von den älteren Semestern, erinnern wir uns alle an die teils heftigen Diskussionen und Debatten, die nur allzu oft in Spaltungen und in der Gründung von neuen Parteien oder Gruppen endeten. Nichts desto trotz kann davon ausgegangen werden, dass es so etwas wie einen gemeinsamen Nenner gab: Der Sozialismus, die sozialistische Utopie war ebenso ein Konsens, wie es der Anti-Imperialismus, also die Verurteilung der US-imperialistischen Hegemonie und des US-Militarismus war. Tatsache ist und bleibt, dass mit dem Fall der Mauer und mit dem Zerfall des real existierenden Sozialismus auch ein Grossteil der europäischen linken Bewegungen, Parteien und Gruppen marginalisiert wurden, sich anpassten oder gar ganz von der Bildfläche verschwanden.

Interessant in diesem Zusammenhang ist übrigens die Tatsache, dass dies offensichtlich nur auf die europäischen linken Parteien zutrifft: Sie passten sich an, sie degenerierten oder sie lösten sich auf. Anderenorts, zum Beispiel in der Türkei, in Südamerika oder in Teilen des afrikanischen Kontinents war dies nicht der Fall. Dort entstanden zukunftsweisende Initiativen, welche zwar zum Teil mit Gewalt zerstört wurden, zum Teil jedoch noch immer bestehen. Erwähnt sei dazu die bolivarische Revolution in Venezuela, die höchst solidarische Politik Libyens mit afrikanischen Ländern oder die Beispiele Kuba und Bolivien, die es allen geheimdienstlichen Operationen der USA zum Trotz schaffen, die Utopie am Leben zu erhalten.

Zu DDR-Zeiten und zu Zeiten der Sowjetunion lebte die westeuropäische Linke gewiss nicht im Paradies. Indes konnte tatsächlich von einem gesellschaftlichen und politischen Gegenentwurf zum Haifischbecken des Kapitalismus ausgegangen werden. Wie sich dieser Gegenentwurf in den jeweiligen Gesellschaften konkret manifestieren sollte, war auch Gegenstand der Debatten. Heute gibt es weder eine Debatte, geschweige denn einen fassbaren Gegenentwurf. Hinzu kam früher die – wenn auch meist pragmatische – Hilfe der damaligen Sowjetmacht für die Befreiungsbewegungen weltweit. Nüchtern betrachtet müssen wir nun also die Tatsache beklagen, dass alles, was sich in der westliche Hemisphäre noch als «links» im weitesten Sinn bezeichnet, sich mittlerweile orientierungslos und ohne Visionen versucht, in einem ideologischen Vakuum zu politisieren. Wer wundert sich darüber, dass diese Art zu politisieren nicht von Erfolg gekrönt ist, nicht von Erfolg gekrönt sein kann?

Der Status Quo


Die alten Probleme, mit denen wir nach dem 2. großen Verteilungskrieg, in den Büchern meist 2. Weltkrieg genannt, konfrontiert wurden, waren nicht geringer als die Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind. Auch damals drohte mehrmals ein verheerender Atomkrieg. Erinnert sei zum Beispiel an die so genannte Kuba-Krise. Auch damals gab es die Finanz-Oligarchen, nur wurden sie damals Monopolkapitalisten genannt. Auch damals gab es innerhalb der Linken Spitzel und Agenten des Systems, nur hatten sie nicht die technisch ausgeklügelten Möglichkeiten, mit denen sie uns heute aushorchen können, wann immer ihnen danach ist.

Im Unterschied zu heute gab es damals lebhafte, zum Teil kontroverse Diskussionen, wie mit all dem umzugehen sei. Es gab Intellektuelle, die sich darum bemühten, ihr Wissen an alle weiter zu reichen und so zur Bildung des Volkes beizutragen. Nicht zu verwechseln mit der schulischen oder mit der universitären Bildung, die naturgemäß immer die Domäne des herrschenden Systems ist! Klar ist also, in früheren Zeiten gab es, für diejenigen, die sich dafür interessierten, verlässliche ideologische Leuchttürme. Diese politischen Schulungskurse gaben uns bestimmt nicht die absolute Wahrheit, aber sie stellten uns einen Kompass zur Verfügung, der uns befähigte, durch die politischen Wirren der Zeit zu segeln. Noch bevor jedoch Land in Sicht kam, brach das Bessere der beiden Systeme zusammen.

Einige von uns passten sich an und wurden zu willigen Helfern der neuen / alten Mächte, die sich der Globalisierung und der neuen Weltordnung verschrieben hatten. Andere weigern sich aufzugeben und sie beharren auf dem Primat der Politik vor dem Primat der Ökonomie und der Gewalt. Sie sind es, die u.a. eine klare politische Analyse fordern. Wieder andere haben, mehr oder weniger offen resigniert.

Es folgte eine Generation, die wohl erkannte, dass es nicht so weitergehen kann, und die auch willens ist, sich politisch zu engagieren. Mangels einer Partei oder auch nur einer Bewegung, die sich ernsthaft darum bemüht, in Diskussionen die brennenden Fragen zu stellen und wenigstens den Versuch macht, sie auch zu beantworten, entsteht auch keine nennenswerte Gegenkraft zum herrschenden imperialistisch-militaristischen System. Wer sich heute politisch schulen will, bezieht das - was später fälschlicherweise «Wissen» genannt wird - nicht aus Diskussionsgruppen oder auch autodidaktisch aus Büchern, sondern aus den sozialen Medien und aus diversen Internet-Foren. Die aus dieser Quelle stammenden Antworten sind jedoch so beliebig wie das Internet selbst: Mit dem Internet als Quelle können wir im wahrsten Sinn des Wortes sowohl alles beweisen, wie wir auch alles widerlegen können. Falls überhaupt «Schulungen» stattfinden sollten, finden diese im Rahmen eines fest definierten Programms statt. Kritik und das Hinterfragen des Programms, besser: Der Propaganda, die de facto vermittelt wird, ist nicht vorgesehen, Alternativen gibt es keine.

Die Folgen des Status Quo

Soweit also zum Status Quo. Die Folgen dieser Entwicklung sind verheerend. Aktive, meist junge Menschen verzetteln sich in Teilfragmenten des Imperialismus, ohne das Ganz zu sehen. Wie auch? Es fehlt ja an den entsprechenden Institutionen, die diese Wissen vermitteln, ebenso, wie es an den Multiplikatoren fehlt, die in der Lage sind, dieses Wissen zu vermitteln. Pseudo-progressive Organisationen wie ATTAC, Amnesty International, Greenpeace und weitere gaukeln uns nebst den pseudo-marxistischen Parteien eine Opposition vor, die es so nicht gibt. Sie saugen so den Aktivismus dieser Menschen auf, und sie geben ihnen das Gefühl, politisch das Richtige zu tun. Am System selbst wird indes nicht gekratzt. So kommt es dann zu der absurden Situation, dass wir – als alte Linke – oft auf Distanz zu den linke Parteien und Bewegungen gehen müssen. Die Vorwürfe, die uns deswegen gemacht werden, sind denn auch in den allerwenigsten Fällen argumentativer Art. Meist erschöpfen sich die Diffamierungen, die an unsere Adresse gerichtet sind, in Totschlagargumenten: Wir seien Antisemiten, wir würden mit der Rechten gemeinsame Sache machen, wir seien Dogmatiker und was dergleichen Textbausteine mehr sein mögen. Ein paar wenige Beispiele zur Verdeutlichung:

Zionismus: Das erste und offenkundigste Beispiel ist wohl die vor allem im deutschsprachigen Raum übliche Gleichsetzung von Anti-Zionismus mit Antisemitismus. Dies ist das Totschlag-Argument schlechthin. Diejenigen, welche damit operieren, behaupten zwar, «Kritik an der israelischen Politik sei damit nicht gemeint». In Tat und Wahrheit sollen damit jedoch alle mundtot gemacht werden, die es wagen, ihre Stimme gegen die zionistischen Verbrechen zu erheben. Das Scheinargument eines «linken Antisemitismus» verfängt. Kaum eine Partei oder linke Gruppe, die es noch wagt, die israelischen Gräueltaten klar offen und offensiv anzusprechen. Dies ist ein wesentlicher Teil des intellektuellen Ruins, in dem wir uns befinden: Wenn es ihnen gelingt, den Widerstand gegen den Zionismus in die antisemitische Ecke zu drängen, dann verliert dieser Widerstand jede analytische Klarheit. Jede Aussage, die gegen den israelischen Terror geäußert wird, beginnt mit dem stereotypen Satz: «Ich bin zwar kein Antisemit aber...» Dieser vorauseilende Gehorsam erweist sich jedoch als Bumerang: Anti-Zionismus ist Anti-Rassismus und als solcher mit einem wie auch immer gearteten Antisemitismus nicht zu vereinbaren.

Rojava: Mit einem klaren politischen Bewusstsein ist es ausgeschlossen, dass eine Separatistenbewegung in einem vom Imperialismus angegriffenen Land (Syrien) als «revolutionär» hochgejubelt wird. Von der liberalen Mitte der europäischen Gesellschaft bis hin zum äußersten linken Rand genießt jedoch dieses reaktionäre Projekt der Spaltung nicht nur Sympathie sondern aktive Unterstützung. Während man sich in den linksliberalen Zirkeln noch darüber klar ist, dass diese Unterstützung dazu dienen soll, die Regierung von Damaskus zu stürzen, frönt man innerhalb der angeblich so revolutionären Linken der Illusion, hier werde ein «revolutionäres Projekt» unterstützt. Dies sind jedoch im besten Fall Sandkastenspiele, bei denen davon ausgegangen wird, dass der Imperialismus bei der Entwicklung einer echten revolutionären Perspektive stillschweigend zusehen wird. Oh ja, im Fall von Rojava ist das nicht nur der Fall, dieses Projekt wird gar von den USA und von Israel pro-aktiv unterstützt. Das es ihnen dabei ausschließlich um die Schwächung und um die letztendliche Zerschlagung der Syrisch Arabischen Republik geht, scheint den (mehrheitlich europäischen) UnterstützerInnen des Projektes «Rojava» nicht aufzufallen.

Corona: Linke Parteien und Bewegungen bis ins so genannt revolutionäre Lager hinein sind eifrig und kritiklos, wenn es darum geht, die Maßnahmen bis hin zum Impfzwang nachzuvollziehen. (Das Unwort «Zero Covid Strategie» wurde in der linken Küche hoch gekocht). Wissenschaftliche Evidenz ist dabei ebenso wenig gefragt, wie die politischen Quellen und Konsequenzen dieses von der WHO als Pandemie deklarierten Hypes.

Imperialistische Kriege werden nicht als solche analysiert, erkannt und bekämpft. Ob Irak, Jugoslawien, Afghanistan, Libyen, Syrien, Jemen oder aktuell die Ukraine: Anstatt von den tatsächlich gegebenen imperialistischen Hegemonialbestrebungen auszugehen und sich dementsprechend handlungsfähig zu machen, wird weitgehend, auch von der europäischen Linken, das NATO-Narrativ nachvollzogen. Was im Mainstream als Diktator benannt wird, ist auch links vom Mainstream unhinterfragt ein Diktator.

Selbstverständlich könnten sowohl weitere Beispiele hinzu gezogen, als auch die erwähnten Fälle exakter beschrieben werden. Eines jedoch dürfte auch so klar geworden sein: Entweder hat der überwiegend große Teil der westlichen Linken keine Ahnung davon, was Imperialismus ist, oder sie verhalten sich ganz bewusst so, als würde das Phänomen Imperialismus nicht existieren. Wir hoffen, dass bei den Meisten Ersteres der Fall ist. Letzteres wäre ein veritabler Verrat, nicht nur an der angeblich eigenen Ideologie, sondern an sämtlichen humanitären Werten an sich. ...Und genau darauf beruht die wahre linke Politik: Auf echten humanitären Werten. Solidarität kann nicht geteilt werden. Solidarität ist internationale Solidarität mit allen Opfern des Imperialismus, oder es ist keine Solidarität. Che Guevara definierte Solidarität einst als «die Zärtlichkeit der Völker». Aber erst mit der Erkenntnis, was Imperialismus wirklich ist, was der Imperialismus den Völkern der Welt antut, wird Solidarität zur Zärtlichkeit der Völker.

Wie es sein könnte

Wir erklären also: Wenn wir verlangen, die zionistische Expansion im historischen Kontext eines imperialen Siedlerkolonialismus zu sehen und daraus Rückschlüsse für die aktuelle Situation im besetzten Palästina zu ziehen, wirft man uns «Antisemitismus» vor.

Wenn wir verlangen, die Ereignisse im Norden Syriens kritisch und im Gesamtkontext des imperialistischen Angriffes gegen das syrische Volk zu analysieren, wirft man uns vor, wir würden «eine Revolution verraten».

Wenn wir verlangen, die so genannte «Pandemie» wissenschaftlich, unaufgeregt und kontrovers zu diskutieren, wirft man uns vor, wir würden mit «Rechten» und «Esoterikern» gemeinsame Sache machen.

Wenn wir verlangen, die Kriege des Imperialismus nüchtern und faktenbasiert zu sehen und sich diesen Aggressionen wo immer möglich in den Weg zu stellen, wirft man uns vor, wir würden «mit Diktatoren und Tyrannen» gemeinsame Sache machen, ganz so als seien die Diktatur des Kapitals und die Herrschaft des Imperialismus keine Tyrannei.

All dem wohnt derselbe Kern inne: Die Weigerung, andere Argumente als die angelesenen und vom System vermittelten auch nur anzuhören. Am transatlantischen Narrativ darf, auch von links, keinesfalls gerüttelt werden! Der geschlossene hermeneutische Zirkel darf nicht geöffnet werden, neue Erkenntnisse sind verboten. (1) Der intellektuelle Ruin droht nicht, er ist bereits vollzogen.

All das muss jedoch nicht sein.

Dieser Beitrag ist überschrieben mit «eine Klage», und beklagenswert ist der Zustand, in dem sich die westliche Linke befindet tatsächlich. Die Menschen leiden unter den Lügen, die sie täglich von den Mainstream-Medien präsentiert bekommen. Sie leiden unter den Zwangsmassnahmen, welche ihnen durch eine angebliche Pandemie aufgezwungen werden. Sie leiden unter der Angst vor den Kriegen, die immer näher zu uns getragen werden. All dies wird von einer Kakophonie der Lügen begleitet, wie sie die Menschheit wohl noch nie gesehen hat.

All dies wäre eigentlich die perfekte Ausgangslage für eine linke Politik, getragen von sozialistischen, humanitären und solidarischen Visionen. Die Literatur nennt dies eine vorrevolutionäre Phase. Grund zur Hoffnung also? Nein, leider nicht. Weite Teile der Systemlinken gebärden sich nämlich kriegsgeiler und konformer als die bürgerlichen und die rechten Parteien. Beklagenswert, gewiss. Ebenso beklagenswert wie die Tatsache, dass nun in vielen europäischen Ländern eben diese Themen von rechts usurpiert werden. Die Corona-Massnahmen stehen ebenso auf der Agenda der Parteien von ganz außen rechts wie der (von ihnen allerdings bloss vorgetäuschte) Widerstand gegen den Krieg.

Es liegt jedoch an uns allen, die wir unsere linken Werte nicht aufgegeben haben und die wir nicht resigniert haben: Es gilt, sich den linken Kollaborateuren ebenso entgegen zu stellen, wie den Rechten. Tatsächlich wird der Unterschied zwischen diesen beiden, offenbar gar nicht so verschiedenen Lagern täglich mehr verschleiert.

Kurzer Exkurs zum 1. Mai: Kein Kampf außer Klassenkampf?

Anlässlich der 1. Mai-Demonstrationen des Jahres 2022 wurde selbstverständlich auch der Krieg in der Ukraine thematisiert. Es sei hier – in der gebotenen Kürze – die Situation geschildert, wie sie sich in Basel, Schweiz, präsentierte: Während Einzelpersonen oder kleine und kleinste Organisationen noch in der Lage sind, klar zu denken, liessen die Gewerkschaften, ebenso wie der so genannte «anti-kapitalistische Block», ein Bündnis, welches in Basel traditionellerweise einen großen Teil der 1. Mai-Demonstration stellt, diese Klarheit ebenso vermissen, wie die Bereitschaft die Argumente der Linken, welche dem Mainstream nicht folgen, auch nur anzuhören. In den Reden war vom «antiimperialistischen Kampf» die Rede, um damit jedoch sogleich Verwirrung zu stiften: «Nicht nur dem US-Imperialismus müsse man sich entgegenstellen, sondern auch dem russischen Imperialismus, welcher völkerrechtswidrig die Ukraine angreife». Lassen wir die Passage vom US-Imperialismus weg, dann befinden wir uns in völliger Harmonie nicht nur mit dem Schweizer Regime, sondern auch mit allen Regimen des militärisch-industriellen Komplexes! Kein Wort vom NATO-Aufmarsch gegen Russland, kein Wort zu den Angriffen gegen den Donbas seit 2014, kein Wort auch zu den ukrainischen Nazis! Diese Übereinstimmung mit den Werten der NATO-Aggressoren verblüfft nur auf den ersten Blick. Der Imperialismus schafft sich seine Opposition selbst, er instrumentalisiert diese Opposition, und jeglicher Widerstand gegen die herrschende Kriegsmaschinerie verpufft so im Nichts.

Eine viel gehörte Parole, nicht nur bei den 1. Mai-Demos lautet: «Kein Kampf ausser Klassenkampf». Damit wird einmal mehr verdeutlicht, dass es an einer klaren politischen Analyse mangelt. Die kolonialen Befreiungskriege, der Kampf des vietnamesischen Volkes gegen die US-Invasoren, die Kämpfe in den Ländern Südamerikas gegen die US-gestützten Diktatoren, der Kampf des irakischen Volkes gegen die US-Barbarei, Palästina, Jugoslawien, Libyen, Syrien, Jemen, Mali: Diese Aufzählung ist bei weiten nicht vollständig, aber sie belegt: All die Verbrechen, welche der Imperialismus den Völkern der Welt antut, haben mit Klassenkampf nichts zu tun. Hier geht es allein um die gewaltsame Beherrschung und Unterjochung unter das US/NATO-Diktat. Wenn die NATO ein Land angreift, dann sind von diesen Angriffen nicht die Mitglieder einer Klasse betroffen, sondern das gesamte Volk!

Ein Plädoyer dafür, den Hauptwiderspruch zu erkennen

Negieren oder verneinen wir damit die Notwendigkeit des Klassenkampfes? Nein, das tun wir nicht. Wir beharren indes auf einer hierarchischen Gliederung der Prioritäten, die wir uns setzen müssen. Die herrschende Klasse in den kapitalistischen, imperialistischen Kernländern ist gleichzeitig die Klasse, welche den Krieg befeuert, Waffen produziert, liefert und gebraucht. Direkt oder indirekt wird uns versprochen, dass wir alle vom Krieg profitieren, wenn wir ihn führen oder doch mindestens stillschweigend dulden. Gleichzeitig malen sie uns den Teufel an die Wand, sollten wir es wagen, uns dem Krieg entgegenstellen und Frieden zu schliessen. Über das russische Gas wird berichtet, als handle es sich dabei einerseits um das Privateigentum von Präsident Putin und als hätten wir andererseits ein legitimes Recht auf dieses Gas. All das ist weder neu noch originell. Diese Kriegspropaganda kennen wir von allen kolonialistischen und imperialistischen Angriffskriegen, bis hin zu den NATO-Massakern unserer Tage. Erstaunlich und beängstigend ist, dass solches noch immer von einem nicht zu vernachlässigenden Teil – auch und gerade innerhalb des linken Spektrums – geglaubt und mitvollzogen wird.

Der Hauptwiderspruch innerhalb der kapitalistisch imperialistischen Welt ist der Krieg. Damit meinen wir nicht einen beliebigen Krieg, sondern den imperialistischen Angriffskrieg. Dieser Krieg ist für das imperialistische System überlebensnotwendig. Marxistisch mag argumentiert werden, dass sich der Kapitalismus ständig neue Absatzmärkte für seine Überproduktion erschliessen muss. Diese Absatzmärkte wurden indes niemals friedlich erschlossen. Ebenso wie der Raub der für die Produktion notwendigen Rohstoffe kennen die USA, die EU, mit einem Wort, die NATO-Staaten für ihre Art Ökonomie nur ein Mittel: Nackte Gewalt.

Sollte es uns gelingen, diesen Hauptwiderspruch Anti-Imperialismus versus Imperialismus breit verständlich zu machen und den Imperialismus zu beseitigen, dann werden sich alle anderen Widersprüche nicht in Wohlgefallen auflösen. Deren Beseitigung jedoch wird weitaus einfacher zu bewerkstelligen sein, als die Beseitigung des militärisch-Industriellen Komplexes der USA, der EU und der NATO.

Das Ende der Klage

Die Geschichte verläuft nicht linear. Unvorhergesehenes geschieht, und die gemachten Pläne werden zur Makulatur. Ob es sich nun um einen Verrat gegenüber dem syrischen Volk wie in Rojava handelt, um Anmaßungen wie den great reset, oder um die diversen Angriffsszenarios der NATO: All dies ist u.a. immer auch davon abhängig, ob es die davon betroffenen Menschen zulassen. In unseren Breitengraden lassen sie es zu. Sie lassen es u.a. zu, weil sie sich von der imperialistischen Propaganda wider alle Vernunft täuschen lassen. Diese Lügen, diese Täuschungen treiben die Völker in Angriffskriege, sie machen die Täter zu Opfern, und sie verschleiern den Blick auf das Offensichtliche: Offensichtlich ist die Tatsache, dass die USA, die NATO und die mit ihnen verbandelten Mächte Krieg um jeden Preis, überall und mit allen Mitteln führen. Offensichtlich ist jedoch auch, dass der Friedenswille der angegriffenen Völker an seine Grenzen stößt. Der Krieg, der jahrzehntelang in weit entfernte Länder exportiert werden konnte, rückt gefährlich nahe. Es ist ein zum Himmel schreiendes Unrecht, ein Land wie zum Beispiel Syrien offen oder verdeckt anzugreifen. Ebenso ist es Unrecht, Russland anzugreifen, und Russland wird von den Westmächten seit dem Fall der Berliner Mauer, dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes immer wieder provoziert und angegriffen. Wie würden wohl die USA reagieren, wenn Russland oder China an ihren Grenzen, in Mexiko oder Kanada Militärmanöver ohne Ende veranstalten würden?

Ein Land wie Russland anzugreifen - und sei es über eine Marionette wie Selensky - ist Selbstmord. Den Kriegstreibern in den Arm zu fallen, ist also vor allem ein Akt der Selbstverteidigung und der Vernunft. Schaffen werden wir dies nur mit vereinten Kräften. Ein Grund mehr, die Menschen zu den imperialistischen Mechanismen zu schulen und die Klage in den Widerstand gegen den imperialistischen Krieg zu führen!


Fußnoten:

1 Eine hermeneutische Grundregel besagt, dass das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen verstanden werden muss. Dieses Prinzip wird traditionell als hermeneutischer Zirkel bezeichnet. Bei dem offenen hermeneutischen Zirkel wird die Fähigkeit zu mehr und zu neuer Erkenntnis ermöglicht. Der geschlossene hermeneutische Zirkel verunmöglicht neue Erkenntnisse. (Nach Karam Khella: «Universalistische Geschichts- und Erkenntnistheorie» TuP Verlag, Hamburg 2007)

Online-Flyer Nr. 791  vom 25.05.2022



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