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Krieg und Frieden
Zu den Gefahren einer Eskalation des Kriegs in der Ukraine
"Hoffe nicht, dass wir uns auf einen Atomkrieg zubewegen"
Daniele Ganser – interviewt von Rafael Lutz (Transition News)
"In der Ukraine überschlagen sich derzeit die Ereignisse: Weite Teile der Ostukraine gehören nach den Referenden inzwischen zu Russland. Die Ukraine hat jüngst die Krim-Brücke angegriffen; seither bombardiert Russland mehrere ukrainische Städte, darunter auch Kiew. Laut Aussagen von Präsident Wolodimir Selenski hat Russland jüngst ein Drittel der ukrainischen Kraftwerke zerstört, landesweite Stromabschaltungen folgten. Der Historiker Daniele Ganser befasst sich seit Jahren mit dem Ukraine-Konflikt. Er kritisiert, dass Russland von den Nord-Stream-Ermittlungen ausgeschlossen wird. Womöglich werde damit die Sache vertuscht..." So heißt es einleitend zu einem Interview, das Rafael Lutz für "Transition News" am 18./19. Oktober 2022 schriftlich mit Daniele Ganser, dem Leiter des "Institut Swiss Institute for Peace and Energy Research" in Basel, geführt hat. Es folgt das Interview.
Herr Ganser, wie schätzen Sie die aktuelle Lage in der Ukraine ein?
Ich schätze die Lage als gefährlich ein, weil wir in der Ukraine eine Konfrontation der atomaren Supermächte USA und Russland haben. Es tut mir leid, dass so viele Menschen leiden, sowohl Ukrainer wie auch Russen. Der Krieg in der Ukraine begann im Februar 2014 mit dem illegalen Putsch der USA in Kiew. Danach folgten acht Jahre Bürgerkrieg der Regierung in Kiew gegen den Donbass mit 10’000 Toten. Darauf folgte die illegale Invasion von Russland im Februar 2022.
Jetzt, im September 2022, hat sich die Lage erneut verändert, weil die Oblaste Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischja für den Beitritt zu Russland gestimmt haben. Die Fläche der Ukraine wurde also nochmals kleiner, nachdem schon 2014 die Krim die Ukraine nach einer Abstimmung verlassen hat und Russland beigetreten ist. Insgesamt haben wir nun 8 Jahre und 8 Monate Krieg, und ein Ende ist derzeit leider nicht in Sicht.
«Wer den Atomkrieg verhindern will, muss in der Lage sein, ihn zu führen.» Das schrieb NZZ-Chefredaktor Eric Gujer in seinem Leitartikel am 15. Oktober. Er plädiert für mehr Aufrüstung und Abschreckung – nur so könne die Sicherheit Europas aufrechterhalten werden. Was entgegnen Sie Gujer?
Ich bin nicht mit Eric Gujer einverstanden, ich finde Aufrüstung ist der falsche Weg. Wir haben seit 1945 Atomwaffen auf der Welt, aber trotzdem keinen Frieden. Die globalen Rüstungsausgaben steigen von Jahr zu Jahr und betrugen im letzten Jahr mehr als 2000 Milliarden Dollar. Nie in der Geschichte der Menschheit haben wir mehr für Rüstung ausgegeben. Trotzdem gibt es weiterhin Kriege. Daraus erkennt man: Mehr Waffen oder sogar die Vorbereitung für den Atomkrieg führen nicht zum Frieden. Wir haben es versucht, es hat nicht funktioniert. Viel wichtiger wäre es, die Hintergründe dieses Konfliktes aufzuklären. Und da spielen einflussreiche Medien wie die NZZ eine wichtige Rolle.
Wie beurteilen Sie die Arbeit der NZZ: Klärt das Leibblatt des Freisinns seine Leser über die Hintergründe des Krieges auf?
Hier in Europa werden die verdeckten Operationen der USA in den Medien oft verschwiegen, daher haben wir ein verzerrtes Bild. Ich denke, Eric Gujer weiß, dass die USA 2014 in Kiew einen Putsch gemacht haben, aber in der NZZ kann man das nicht lesen. Nie hat die NZZ Präsident Obama und Vizepräsident Biden dafür kritisiert, dass sie 2014 in der Ukraine die Regierung gestürzt haben, obschon dies die Ukraine ins Unglück stürzte. Die meisten NZZ-Leser haben vermutlich noch nie etwas über den Putsch von Victoria Nuland gehört und glauben, der Krieg in der Ukraine sei nur die Schuld von Präsident Putin, weil es so jeden Tag dargestellt wird. Das stimmt aber nicht.
Der Konflikt hat viele verschiedene Ebenen. Putin hat eine Teilschuld, aber auch Obama hat eine Teilschuld. Weil Präsident Selenski nach seiner Wahl 2019 den Bürgerkrieg weitergeführt hat, trägt auch Selenski eine Teilschuld. Wir brauchen also nicht mehr Waffen, sondern Medien, die ehrlich über die Hintergründe des Konflikts berichten und die illegalen Handlungen von beiden Hauptakteuren darlegen, also sowohl von Russland wie auch der USA. Als ich Geschichtsstudent war an der Universität Basel vor 25 Jahren glaubte ich, die NZZ sei die beste Zeitung, immer objektiv. Das glaube ich heute nicht mehr. Die NZZ vertritt die Sicht der US-Regierung auf den Krieg in der Ukraine. Die Sicht von Russland kann man in der NZZ kaum lesen. Für uns in der Schweiz wäre es aber wichtig, die Perspektive von beiden Hauptakteuren zu kennen.
Russlands Präsident Vladimir Putin sagte kürzlich: Er schließe den Einsatz von Atomwaffen nicht aus. Die NATO wiederum trainiert seit dieser Woche die Verteidigung des europäischen Bündnisgebiets mit Atomwaffen. Damit will sich das Militärbündnis eigenen Angaben zufolge auf ein Schreckensszenario wie einen Atomkrieg vorbereiten. Schlafwandeln wir gerade in einen Atomkrieg?
Nein, ich hoffe nicht, dass wir uns auf einen Atomkrieg zubewegen, das kann niemand wollen. Während der Kubakrise 1962 kam es auch schon zur Konfrontation zwischen Washington und Moskau. Damals war Kuba der Schauplatz. Heute ist es die Ukraine. Auch damals fürchtete die Welt den Ausbruch eines Atomkrieges. Dazu ist es zum Glück nicht gekommen. Weil Kennedy und Chruschtschow über ihre Vertrauensleute hinter den Kulissen zusammen verhandelt haben.
Das braucht es auch heute: Putin und Biden müssen verhandeln, um eine direkte nukleare Konfrontation der Supermächte abzuwenden. Wir brauchen Gespräche und Deeskalation. Daher halte ich es auch für falsch, dass Deutschland Waffen an Selenski liefert.
Sie sagten neulich, dass insbesondere beim NATO-Bündnisfall Alarmstufe dunkelrot vorherrsche. Der Bündnisfall liegt dann vor, wenn ein NATO-Mitglied angegriffen würde. Zwar ist die Ukraine nicht Mitglied des westlichen Bündnisses. Doch die Zusammenarbeit wird immer enger. Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow bedankte sich kürzlich auf Twitter für die Unterstützung der NATO: «Wir sind einen weiten Weg gegangen und haben uns jetzt de facto der Allianz angeschlossen.» Ist ein NATO-Beitritt inzwischen realistisch, und: Was würde der für den weiteren Krieg in der Ukraine bedeuten?
Was der ukrainische Verteidigungsminister Resnikow sagt, ist nicht wahr. Die Ukraine ist de facto kein Mitglied der NATO. Daher hat der Angriff von Russland auf die Ukraine auch nicht den NATO-Bündnisfall ausgelöst. Ich glaube auch nicht, dass die Ukraine in der Zukunft der NATO beitreten sollte. Besser wäre es meiner Ansicht nach, wenn die Ukraine neutral bleibt wie die Schweiz, Irland oder Österreich. Es wäre ein Schritt in Richtung Entspannung, wenn Präsident Selenksi öffentlich erklären würde, dass die Ukraine nie Mitglied der NATO werden will. Denn schon seit mehr als 14 Jahren ist das der zentrale Streitpunkt.
Die USA wollen, dass die Ukraine in die NATO kommt, US-Präsident Bush hat 2008 beim Gipfel der NATO in Bukarest die Ukraine öffentlich eingeladen, Mitglied der NATO zu werden. Das war falsch und eine Provokation. Putin war damals auch beim Gipfel in Bukarest dabei und hat klar gesagt, dass Russland das nicht will. Auch als Präsident Biden und Präsident Putin sich im Juni 2021 in der Schweiz trafen, war dies das Kernthema: Putin forderte Neutralität für die Ukraine, was den Einmarsch von Russland verhindert hätte. Aber Biden lehnte ab und erklärte, jedes Land dürfe frei wählen, welchem Militärbündnis es beitrete. Daher scheiterte der Gipfel in der Schweiz.
Biden war nicht ganz ehrlich, denn während der Kubakrise vertrat Kennedy auch nicht die Ansicht, dass Kuba seine militärische Bewaffnung frei wählen dürfe. Grossmächte wie die USA und Russland haben die Souveränität der Länder in ihrem direkten Umfeld immer eingeschränkt, das zeigt die Geschichte.
In Deutschland bewegt die Sabotage der Nord-Stream-Pipelines gegenwärtig die Menschen. Viele gehen davon aus, dass die USA dahinterstehen. Wie beurteilen Sie das?
Durch den Terroranschlag auf die Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 am 26. September 2022 hat sich der Krieg über die Grenzen der Ukraine hinaus bis in die Ostsee ausgeweitet. Das ist bedenklich. Die Pipelines wurden bei der dänischen Insel Bornholm in 80 Meter Tiefe gesprengt. Ich bin mit der dänischen Premierministerin Mette Frederiksen einig, dass es schwierig ist, sich vorzustellen, dass es sich um einen Unfall handelt, weil es vier Lecks gab.
Es war ganz klar kein Unfall, sondern ein Terroranschlag. Wer den Anschlag ausgeführt hat, ist derzeit unklar. Der US-Ökonom Jeffrey Sachs hat auf Bloomberg erklärt, dass der Terroranschlag vermutlich durch die USA ausgeführt wurde. Ob das stimmt, müssen nun die offiziellen Untersuchungen klären.
Aus Schweden hiess es kürzlich, dass man die Lecks der Pipeline alleine untersuchen wolle. Die Sicherheitseinstufung der Untersuchung sei zu hoch, um das Ergebnis mit anderen Ländern zu teilen. Kurz darauf dementierte Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson die Aussagen und bestätigte, gemeinsam mit Dänemark und Deutschland ermitteln zu wollen. Die deutsche Bundesregierung wiederum erklärte jüngst, dass es keine gemeinsame Ermittlungsgruppe geben werde. Rechnen Sie damit, dass die Sache jemals aufgeklärt wird?
Schweden, Dänemark und Deutschland wollten den Terroranschlag eigentlich gemeinsam untersuchen und herausfinden, wer dafür verantwortlich ist. Doch plötzlich hieß es, die Sache sei zu brisant, es werde doch keine gemeinsame Ermittlungsgruppe (Joint Investigation Team) geben. Anscheinend traut kein Land dem anderen, denn es ist Krieg in Europa. Nun ermittelt jedes Land für sich. Dass Schweden und Dänemark ermitteln ist richtig, denn die Löcher an den Pipelines befinden sich in der schwedischen und der dänischen Wirtschaftszone.
Auch der deutsche Generalbundesanwalt ermittelt, das ist auch richtig, denn die Pipeline brachte Erdgas nach Deutschland, und der Terroranschlag ist ein Angriff auf die deutsche Energieversorgung. Aber Russland, immerhin Besitzer der Pipelines und Lieferant des Erdgases, wird derzeit von den Ermittlungen ausgeschlossen. Das halte ich für falsch. Es müsste eine internationale Ermittlungsgruppe geben, bestehend aus Schweden, Dänemark, Deutschland und Russland, sonst wird die Sache womöglich nie aufgeklärt, sondern vertuscht.
Kommen wir zuletzt noch auf die Schweiz: Die Schweizer Verteidigungsministerin Viola Amherd sagte kürzlich, dass es wichtig sei, dass die Schweiz «zur Sicherheit und Stabilität in Europa einen Beitrag» leiste. Sie sprach dabei auch von einer künftig engeren Zusammenarbeit mit der NATO, «etwa der Teilnahme an Verteidigungsübungen». Gleichzeitig trägt der Bundesrat die Sanktionen gegen Russland mit; mehr noch: Aussenminister Ignazio Cassis solidarisierte sich an einer Demonstration mit Präsident Selenski. Steht die Schweiz immer mehr unter der Fuchtel der NATO und den Westmächten? Wie beurteilen Sie die Rolle der Schweiz?
Bundesrat Maurer hat am Tag der illegalen russischen Invasion am 24. Februar 2022 gesagt, dass die Schweiz als neutraler Kleinstaat zur Deeskalation beitragen werde. Das war ein Bekenntnis zur Neutralität, das war richtig und wichtig. Aber die Schweiz hat diese Position leider nur vier Tage durchgehalten. Schon am 28. Februar 2022 erklärte Bundesrat Cassis, man übernehme alle Sanktionen der EU gegen Russland. Damit hat die Schweiz die Neutralität aufgegeben.
Die Schweiz stand unter Druck aus den USA und der EU. Mir ist aber nicht ganz klar, was in diesen vier Tagen im Bundesrat in Bern passiert ist. Das Volk wurde auf jeden Fall nicht gefragt. Meiner Ansicht nach sollte die Schweiz neutral bleiben und sich nicht am Wirtschaftskrieg gegen Russland beteiligen. Als die USA und die Briten 2003 illegal den Irak angriffen, haben wir auch keinen Wirtschaftskrieg gegen die Briten und die USA ausgerufen. Die Schweiz kann nicht immer die Neutralität aufgeben, wenn ein anderes Land einen illegalen Krieg führt. Wenn Bundesrätin Amherd gemeinsame Militärübungen mit der NATO fordert, halte ich das für falsch.
Das Prinzip der Neutralität besteht darin, dass man nicht Mitglied in einem Militärbündnis ist und auch nicht mit einem Militärbündnis trainiert. Die NATO hat übrigens 1999 selber einen illegalen Krieg geführt und Serbien angegriffen. Wer glaubt, die NATO halte sich an das Völkerrecht, der irrt sich. Die NATO wird von den USA geführt. Alle 30 Mitgliedstaaten wissen, dass die USA das einflussreichste Land in der NATO sind. Präsident Nixon hat einmal ganz offen gesagt, dass die USA die NATO anführen, und damit hatte er recht.
Mit Blick auf die Ukraine könnte man angesichts der gegenwärtigen Nachrichtenlage fast verzweifeln. Trotzdem: Gibt es Hoffnung? Sehen Sie Möglichkeiten, dass ein baldiger Frieden realistisch sein könnte?
Es gibt immer Hoffnung, denn wir haben immer die Wahl als Menschen, wie wir die Zukunft gestalten. Wir haben auch die Wahl, welche Medien wir konsumieren. Und wann wir medial fasten, was derzeit sehr wichtig ist. Ich rate allen, viel in die Natur zu gehen, denn die Medien schüren täglich Angst. Offline ist das neue Bio. Wenn wir über den Krieg in der Ukraine nachdenken, müssen wir erkennen, dass eine Teilschuld in Washington liegt. Eine weitere Teilschuld liegt in Kiew, und eine Teilschuld liegt in Moskau.
Es ist keineswegs so, dass Russland für alle Probleme in der Ukraine verantwortlich ist. Wenn wir uns aber nicht trauen, über den Putsch der USA vom Februar 2014 zu sprechen, können wir die Teilschuld von Obama nicht erkennen. Wenn wir nicht über den Bürgerkrieg sprechen, können wir die Teilschuld von Selenski nicht sehen. Auch Putin hat eine Teilschuld, denn er ist verantwortlich für die illegale Invasion vom Februar 2022.
Aber alle Schuld Putin zu geben, ist sachlich falsch und verhindert eine friedliche Lösung. Wichtig ist in einem Konflikt, dass alle involvierten Parteien über ihre Gewalttätigkeit nachdenken und diese auch eingestehen. Erst dann kann es eine ehrliche Lösung geben.
Dr. Daniele Ganser ist ein Schweizer Historiker. Er ist spezialisiert auf Zeitgeschichte und Internationale Politik. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Friedensforschung, Geostrategie, verdeckte Kriegsführung, Ressourcenkämpfe und Wirtschaftspolitik. Er leitet das Institut Swiss Institute for Peace and Energy Research in Basel.
Erstveröffentlichung am 23. Oktober 2022 bei Transition News
Online-Flyer Nr. 800 vom 02.11.2022
Zu den Gefahren einer Eskalation des Kriegs in der Ukraine
"Hoffe nicht, dass wir uns auf einen Atomkrieg zubewegen"
Daniele Ganser – interviewt von Rafael Lutz (Transition News)
"In der Ukraine überschlagen sich derzeit die Ereignisse: Weite Teile der Ostukraine gehören nach den Referenden inzwischen zu Russland. Die Ukraine hat jüngst die Krim-Brücke angegriffen; seither bombardiert Russland mehrere ukrainische Städte, darunter auch Kiew. Laut Aussagen von Präsident Wolodimir Selenski hat Russland jüngst ein Drittel der ukrainischen Kraftwerke zerstört, landesweite Stromabschaltungen folgten. Der Historiker Daniele Ganser befasst sich seit Jahren mit dem Ukraine-Konflikt. Er kritisiert, dass Russland von den Nord-Stream-Ermittlungen ausgeschlossen wird. Womöglich werde damit die Sache vertuscht..." So heißt es einleitend zu einem Interview, das Rafael Lutz für "Transition News" am 18./19. Oktober 2022 schriftlich mit Daniele Ganser, dem Leiter des "Institut Swiss Institute for Peace and Energy Research" in Basel, geführt hat. Es folgt das Interview.
Herr Ganser, wie schätzen Sie die aktuelle Lage in der Ukraine ein?
Ich schätze die Lage als gefährlich ein, weil wir in der Ukraine eine Konfrontation der atomaren Supermächte USA und Russland haben. Es tut mir leid, dass so viele Menschen leiden, sowohl Ukrainer wie auch Russen. Der Krieg in der Ukraine begann im Februar 2014 mit dem illegalen Putsch der USA in Kiew. Danach folgten acht Jahre Bürgerkrieg der Regierung in Kiew gegen den Donbass mit 10’000 Toten. Darauf folgte die illegale Invasion von Russland im Februar 2022.
Jetzt, im September 2022, hat sich die Lage erneut verändert, weil die Oblaste Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischja für den Beitritt zu Russland gestimmt haben. Die Fläche der Ukraine wurde also nochmals kleiner, nachdem schon 2014 die Krim die Ukraine nach einer Abstimmung verlassen hat und Russland beigetreten ist. Insgesamt haben wir nun 8 Jahre und 8 Monate Krieg, und ein Ende ist derzeit leider nicht in Sicht.
«Wer den Atomkrieg verhindern will, muss in der Lage sein, ihn zu führen.» Das schrieb NZZ-Chefredaktor Eric Gujer in seinem Leitartikel am 15. Oktober. Er plädiert für mehr Aufrüstung und Abschreckung – nur so könne die Sicherheit Europas aufrechterhalten werden. Was entgegnen Sie Gujer?
Ich bin nicht mit Eric Gujer einverstanden, ich finde Aufrüstung ist der falsche Weg. Wir haben seit 1945 Atomwaffen auf der Welt, aber trotzdem keinen Frieden. Die globalen Rüstungsausgaben steigen von Jahr zu Jahr und betrugen im letzten Jahr mehr als 2000 Milliarden Dollar. Nie in der Geschichte der Menschheit haben wir mehr für Rüstung ausgegeben. Trotzdem gibt es weiterhin Kriege. Daraus erkennt man: Mehr Waffen oder sogar die Vorbereitung für den Atomkrieg führen nicht zum Frieden. Wir haben es versucht, es hat nicht funktioniert. Viel wichtiger wäre es, die Hintergründe dieses Konfliktes aufzuklären. Und da spielen einflussreiche Medien wie die NZZ eine wichtige Rolle.
Wie beurteilen Sie die Arbeit der NZZ: Klärt das Leibblatt des Freisinns seine Leser über die Hintergründe des Krieges auf?
Hier in Europa werden die verdeckten Operationen der USA in den Medien oft verschwiegen, daher haben wir ein verzerrtes Bild. Ich denke, Eric Gujer weiß, dass die USA 2014 in Kiew einen Putsch gemacht haben, aber in der NZZ kann man das nicht lesen. Nie hat die NZZ Präsident Obama und Vizepräsident Biden dafür kritisiert, dass sie 2014 in der Ukraine die Regierung gestürzt haben, obschon dies die Ukraine ins Unglück stürzte. Die meisten NZZ-Leser haben vermutlich noch nie etwas über den Putsch von Victoria Nuland gehört und glauben, der Krieg in der Ukraine sei nur die Schuld von Präsident Putin, weil es so jeden Tag dargestellt wird. Das stimmt aber nicht.
Der Konflikt hat viele verschiedene Ebenen. Putin hat eine Teilschuld, aber auch Obama hat eine Teilschuld. Weil Präsident Selenski nach seiner Wahl 2019 den Bürgerkrieg weitergeführt hat, trägt auch Selenski eine Teilschuld. Wir brauchen also nicht mehr Waffen, sondern Medien, die ehrlich über die Hintergründe des Konflikts berichten und die illegalen Handlungen von beiden Hauptakteuren darlegen, also sowohl von Russland wie auch der USA. Als ich Geschichtsstudent war an der Universität Basel vor 25 Jahren glaubte ich, die NZZ sei die beste Zeitung, immer objektiv. Das glaube ich heute nicht mehr. Die NZZ vertritt die Sicht der US-Regierung auf den Krieg in der Ukraine. Die Sicht von Russland kann man in der NZZ kaum lesen. Für uns in der Schweiz wäre es aber wichtig, die Perspektive von beiden Hauptakteuren zu kennen.
Russlands Präsident Vladimir Putin sagte kürzlich: Er schließe den Einsatz von Atomwaffen nicht aus. Die NATO wiederum trainiert seit dieser Woche die Verteidigung des europäischen Bündnisgebiets mit Atomwaffen. Damit will sich das Militärbündnis eigenen Angaben zufolge auf ein Schreckensszenario wie einen Atomkrieg vorbereiten. Schlafwandeln wir gerade in einen Atomkrieg?
Nein, ich hoffe nicht, dass wir uns auf einen Atomkrieg zubewegen, das kann niemand wollen. Während der Kubakrise 1962 kam es auch schon zur Konfrontation zwischen Washington und Moskau. Damals war Kuba der Schauplatz. Heute ist es die Ukraine. Auch damals fürchtete die Welt den Ausbruch eines Atomkrieges. Dazu ist es zum Glück nicht gekommen. Weil Kennedy und Chruschtschow über ihre Vertrauensleute hinter den Kulissen zusammen verhandelt haben.
Das braucht es auch heute: Putin und Biden müssen verhandeln, um eine direkte nukleare Konfrontation der Supermächte abzuwenden. Wir brauchen Gespräche und Deeskalation. Daher halte ich es auch für falsch, dass Deutschland Waffen an Selenski liefert.
Sie sagten neulich, dass insbesondere beim NATO-Bündnisfall Alarmstufe dunkelrot vorherrsche. Der Bündnisfall liegt dann vor, wenn ein NATO-Mitglied angegriffen würde. Zwar ist die Ukraine nicht Mitglied des westlichen Bündnisses. Doch die Zusammenarbeit wird immer enger. Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow bedankte sich kürzlich auf Twitter für die Unterstützung der NATO: «Wir sind einen weiten Weg gegangen und haben uns jetzt de facto der Allianz angeschlossen.» Ist ein NATO-Beitritt inzwischen realistisch, und: Was würde der für den weiteren Krieg in der Ukraine bedeuten?
Was der ukrainische Verteidigungsminister Resnikow sagt, ist nicht wahr. Die Ukraine ist de facto kein Mitglied der NATO. Daher hat der Angriff von Russland auf die Ukraine auch nicht den NATO-Bündnisfall ausgelöst. Ich glaube auch nicht, dass die Ukraine in der Zukunft der NATO beitreten sollte. Besser wäre es meiner Ansicht nach, wenn die Ukraine neutral bleibt wie die Schweiz, Irland oder Österreich. Es wäre ein Schritt in Richtung Entspannung, wenn Präsident Selenksi öffentlich erklären würde, dass die Ukraine nie Mitglied der NATO werden will. Denn schon seit mehr als 14 Jahren ist das der zentrale Streitpunkt.
Die USA wollen, dass die Ukraine in die NATO kommt, US-Präsident Bush hat 2008 beim Gipfel der NATO in Bukarest die Ukraine öffentlich eingeladen, Mitglied der NATO zu werden. Das war falsch und eine Provokation. Putin war damals auch beim Gipfel in Bukarest dabei und hat klar gesagt, dass Russland das nicht will. Auch als Präsident Biden und Präsident Putin sich im Juni 2021 in der Schweiz trafen, war dies das Kernthema: Putin forderte Neutralität für die Ukraine, was den Einmarsch von Russland verhindert hätte. Aber Biden lehnte ab und erklärte, jedes Land dürfe frei wählen, welchem Militärbündnis es beitrete. Daher scheiterte der Gipfel in der Schweiz.
Biden war nicht ganz ehrlich, denn während der Kubakrise vertrat Kennedy auch nicht die Ansicht, dass Kuba seine militärische Bewaffnung frei wählen dürfe. Grossmächte wie die USA und Russland haben die Souveränität der Länder in ihrem direkten Umfeld immer eingeschränkt, das zeigt die Geschichte.
In Deutschland bewegt die Sabotage der Nord-Stream-Pipelines gegenwärtig die Menschen. Viele gehen davon aus, dass die USA dahinterstehen. Wie beurteilen Sie das?
Durch den Terroranschlag auf die Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 am 26. September 2022 hat sich der Krieg über die Grenzen der Ukraine hinaus bis in die Ostsee ausgeweitet. Das ist bedenklich. Die Pipelines wurden bei der dänischen Insel Bornholm in 80 Meter Tiefe gesprengt. Ich bin mit der dänischen Premierministerin Mette Frederiksen einig, dass es schwierig ist, sich vorzustellen, dass es sich um einen Unfall handelt, weil es vier Lecks gab.
Es war ganz klar kein Unfall, sondern ein Terroranschlag. Wer den Anschlag ausgeführt hat, ist derzeit unklar. Der US-Ökonom Jeffrey Sachs hat auf Bloomberg erklärt, dass der Terroranschlag vermutlich durch die USA ausgeführt wurde. Ob das stimmt, müssen nun die offiziellen Untersuchungen klären.
Aus Schweden hiess es kürzlich, dass man die Lecks der Pipeline alleine untersuchen wolle. Die Sicherheitseinstufung der Untersuchung sei zu hoch, um das Ergebnis mit anderen Ländern zu teilen. Kurz darauf dementierte Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson die Aussagen und bestätigte, gemeinsam mit Dänemark und Deutschland ermitteln zu wollen. Die deutsche Bundesregierung wiederum erklärte jüngst, dass es keine gemeinsame Ermittlungsgruppe geben werde. Rechnen Sie damit, dass die Sache jemals aufgeklärt wird?
Schweden, Dänemark und Deutschland wollten den Terroranschlag eigentlich gemeinsam untersuchen und herausfinden, wer dafür verantwortlich ist. Doch plötzlich hieß es, die Sache sei zu brisant, es werde doch keine gemeinsame Ermittlungsgruppe (Joint Investigation Team) geben. Anscheinend traut kein Land dem anderen, denn es ist Krieg in Europa. Nun ermittelt jedes Land für sich. Dass Schweden und Dänemark ermitteln ist richtig, denn die Löcher an den Pipelines befinden sich in der schwedischen und der dänischen Wirtschaftszone.
Auch der deutsche Generalbundesanwalt ermittelt, das ist auch richtig, denn die Pipeline brachte Erdgas nach Deutschland, und der Terroranschlag ist ein Angriff auf die deutsche Energieversorgung. Aber Russland, immerhin Besitzer der Pipelines und Lieferant des Erdgases, wird derzeit von den Ermittlungen ausgeschlossen. Das halte ich für falsch. Es müsste eine internationale Ermittlungsgruppe geben, bestehend aus Schweden, Dänemark, Deutschland und Russland, sonst wird die Sache womöglich nie aufgeklärt, sondern vertuscht.
Kommen wir zuletzt noch auf die Schweiz: Die Schweizer Verteidigungsministerin Viola Amherd sagte kürzlich, dass es wichtig sei, dass die Schweiz «zur Sicherheit und Stabilität in Europa einen Beitrag» leiste. Sie sprach dabei auch von einer künftig engeren Zusammenarbeit mit der NATO, «etwa der Teilnahme an Verteidigungsübungen». Gleichzeitig trägt der Bundesrat die Sanktionen gegen Russland mit; mehr noch: Aussenminister Ignazio Cassis solidarisierte sich an einer Demonstration mit Präsident Selenski. Steht die Schweiz immer mehr unter der Fuchtel der NATO und den Westmächten? Wie beurteilen Sie die Rolle der Schweiz?
Bundesrat Maurer hat am Tag der illegalen russischen Invasion am 24. Februar 2022 gesagt, dass die Schweiz als neutraler Kleinstaat zur Deeskalation beitragen werde. Das war ein Bekenntnis zur Neutralität, das war richtig und wichtig. Aber die Schweiz hat diese Position leider nur vier Tage durchgehalten. Schon am 28. Februar 2022 erklärte Bundesrat Cassis, man übernehme alle Sanktionen der EU gegen Russland. Damit hat die Schweiz die Neutralität aufgegeben.
Die Schweiz stand unter Druck aus den USA und der EU. Mir ist aber nicht ganz klar, was in diesen vier Tagen im Bundesrat in Bern passiert ist. Das Volk wurde auf jeden Fall nicht gefragt. Meiner Ansicht nach sollte die Schweiz neutral bleiben und sich nicht am Wirtschaftskrieg gegen Russland beteiligen. Als die USA und die Briten 2003 illegal den Irak angriffen, haben wir auch keinen Wirtschaftskrieg gegen die Briten und die USA ausgerufen. Die Schweiz kann nicht immer die Neutralität aufgeben, wenn ein anderes Land einen illegalen Krieg führt. Wenn Bundesrätin Amherd gemeinsame Militärübungen mit der NATO fordert, halte ich das für falsch.
Das Prinzip der Neutralität besteht darin, dass man nicht Mitglied in einem Militärbündnis ist und auch nicht mit einem Militärbündnis trainiert. Die NATO hat übrigens 1999 selber einen illegalen Krieg geführt und Serbien angegriffen. Wer glaubt, die NATO halte sich an das Völkerrecht, der irrt sich. Die NATO wird von den USA geführt. Alle 30 Mitgliedstaaten wissen, dass die USA das einflussreichste Land in der NATO sind. Präsident Nixon hat einmal ganz offen gesagt, dass die USA die NATO anführen, und damit hatte er recht.
Mit Blick auf die Ukraine könnte man angesichts der gegenwärtigen Nachrichtenlage fast verzweifeln. Trotzdem: Gibt es Hoffnung? Sehen Sie Möglichkeiten, dass ein baldiger Frieden realistisch sein könnte?
Es gibt immer Hoffnung, denn wir haben immer die Wahl als Menschen, wie wir die Zukunft gestalten. Wir haben auch die Wahl, welche Medien wir konsumieren. Und wann wir medial fasten, was derzeit sehr wichtig ist. Ich rate allen, viel in die Natur zu gehen, denn die Medien schüren täglich Angst. Offline ist das neue Bio. Wenn wir über den Krieg in der Ukraine nachdenken, müssen wir erkennen, dass eine Teilschuld in Washington liegt. Eine weitere Teilschuld liegt in Kiew, und eine Teilschuld liegt in Moskau.
Es ist keineswegs so, dass Russland für alle Probleme in der Ukraine verantwortlich ist. Wenn wir uns aber nicht trauen, über den Putsch der USA vom Februar 2014 zu sprechen, können wir die Teilschuld von Obama nicht erkennen. Wenn wir nicht über den Bürgerkrieg sprechen, können wir die Teilschuld von Selenski nicht sehen. Auch Putin hat eine Teilschuld, denn er ist verantwortlich für die illegale Invasion vom Februar 2022.
Aber alle Schuld Putin zu geben, ist sachlich falsch und verhindert eine friedliche Lösung. Wichtig ist in einem Konflikt, dass alle involvierten Parteien über ihre Gewalttätigkeit nachdenken und diese auch eingestehen. Erst dann kann es eine ehrliche Lösung geben.
Dr. Daniele Ganser ist ein Schweizer Historiker. Er ist spezialisiert auf Zeitgeschichte und Internationale Politik. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Friedensforschung, Geostrategie, verdeckte Kriegsführung, Ressourcenkämpfe und Wirtschaftspolitik. Er leitet das Institut Swiss Institute for Peace and Energy Research in Basel.
Erstveröffentlichung am 23. Oktober 2022 bei Transition News
Online-Flyer Nr. 800 vom 02.11.2022