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Kultur und Wissen
Deutschland war vor genau einhundert Jahren schon einmal abgeschnitten vom eurasischen Markt — damals musste Walther Rathenau sein Eintreten für Deutschland mit dem Leben bezahlen
Der fähige Außenminister
Von Hermann Ploppa

Wir erleben gerade, wie kläglich die Bundesregierung es unterlässt, die Interessen Deutschlands gegen internationalen Druck zu behaupten. Da wird die Energie-Schlagader Deutschlands, die Pipeline Nord Stream, erkennbar von so genannten verbündeten Staaten zerstört, die aus ihrer Täterschaft noch nicht einmal ein Geheimnis machen. Da hält der US-amerikanische Kriegsminister mal eben in Ramstein Hof und erteilt Weisungen an die Vasallentruppen der NATO. Deutschland hat keine nationale Souveränität. Und nicht nur das. Die Minister Deutschlands distanzieren sich von diesem Land und ihren Wählern. Das korrespondiert mit geradezu atemberaubenden intellektuellen Defiziten. Da sagte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bei der Talkshow Markus Lanz via Skype-Bildschirm, dass die Bürger der nunmehr zu Russland gehörenden ehemaligen ukrainischen Republiken vor dem Referendum über den Anschluss zunächst erschossen, dann vergewaltigt und dann mit der Kalaschnikow zur Wahlurne geschleppt worden seien. Was dann die New York Times nicht davon abhielt, Außenministerin Baerbock zu den einhundert angesagtesten Politikern zu küren. Das ist besonders beschämend, wenn man bedenkt, wer vor Baerbock den Posten des deutschen Außenministers bekleidet hat. Der Autor denkt herbei vor allem an Walther Rathenau. Ein hochgebildeter Mann mit faszinierenden politischen und philosophischen Einsichten. Ein Spitzenpolitiker, dem es im Gegensatz zu Baerbock ein vorrangiges Anliegen war, Deutschland aus der Umklammerung westlicher Staaten zu befreien, und der neue Wege nach Eurasien aufgetan hat. Eben weil Rathenau so erfolgreich war, haben ihn gedungene Auftragsmörder im Jahr 1922 zur Strecke gebracht. Die Trauer der Deutschen über Rathenaus viel zu frühen Tod war durchaus vergleichbar mit der der Amerikaner über die Ermordung John F. Kennedys im Jahr 1963.


Walther Rathenau (Foto: gemeinfrei)

Die Bilder aus den Jahren 1922 und 2022 ähneln sich in einigen Aspekten in frappierender Weise: Damals wie heute wurde versucht, Deutschland von seinen Rohstofflieferanten abzuschneiden. Die Zukunft Deutschlands stand und steht auf der Kippe. Die Art und Weise, wie der damalige Außenminister Deutschland aus der Zwickmühle herausführte, war genial und wagemutig zugleich. Eine solche Courage ist auch heute unerlässlich, um der fortschreitenden Zerstörung des Wirtschaftsstandortes Deutschland entgegenzuwirken.

Die Geschichte von Rathenau ist oft erzählt worden. Dennoch gibt es bedeutende Zusammenhänge, die bislang nicht ausreichend gewürdigt wurden. Tauchen wir also ein in das Leben von Walther Rathenau. Wir können viel von ihm lernen.

Zur Person

Walther Rathenau wurde im Herbst 1867 in Berlin geboren. Sein Vater Emil Rathenau stand am Beginn einer rasanten Unternehmerkarriere. Die Rathenaus wohnten, wie auch die erste Generation der Krupp-Dynastie, noch selber in einer Fabrikantenvilla inmitten des eigenen Fabrik-Komplexes. So dürften angeschwärzte Hausfassaden ebenso wie die schroffe Geräuschkulisse von dampfgetriebenen Maschinen-Ungetümen zu den ersten Eindrücken von Walther gehört haben. Doch der Vater wird schnell sehr reich. Die Rathenaus ziehen in den Grunewald. Denn Emil Rathenau ist einer der ersten „Start-Up“-Unternehmer. In geradezu preußischer Loyalität sieht Emil Rathenau sich seinen Shareholdern verpflichtet, wie er zu Protokoll zu geben weiß:

„Wir müssen für die Aktionäre Geld verdienen; eine andere Aufgabe haben wir nicht, dafür sind wir angestellt; wir haben nur dann unsre Schuldigkeit getan, wenn das Unternehmen großen Gewinn bringt.“ (1)

Das machte auf seinen Sohn Walther nicht immer den allervorteilhaftesten Eindruck, wie sein Biograph Harry Graf Kessler berichtet: „Sein Vater war nicht Herr, sondern Knecht der von ihm selbst aufgerichteten riesigen Maschine: um so unfreier, je größer diese Maschine wurde. Und hierdurch bekam das Verhältnis zwischen Vater und Sohn einen neuen Stoß.“ (2) Sklave seiner Aktionäre zu sein, das wies Walther zunächst weit von sich. Lieber wollte er Maler, Dichter, Philosoph, Diplomat oder Offizier im gehobenen Dienst werden. Doch letztlich fügt er sich wie dereinst der Musiker und Philosoph Friedrich der Große in die für ihn zwingend vorgesehene Loipe. Um in dem schnell zum Global Player aufsteigenden Elektrokonzern AEG ein gewichtiges Wörtchen mitzureden, studiert er in Straßburg und in Berlin Physik, Chemie, und noch ein bisschen Philosophie, um dann seine Ausbildung durch ein Maschinenbau-Studium in München abzurunden. Oder gibt es nicht doch noch eine Möglichkeit, der Knechtschaft über den Weg einer Militärkarriere zu entkommen?

Walther Rathenau meldet sich als „Einjährig-Freiwilliger“ bei einem so genannten „Garde-Kürassier-Regiment“. Schneidig posiert er in vollem Uniform-Dekor für den Photographen. Doch die in dem Bild hergezeigte freudige Erwartung auf eine gehobene Offizierslaufbahn soll bald bitter enttäuscht werden, denn, so klagt Rathenau: „In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist, und daß keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.“ Tatsächlich kann ein Jude im immer noch feudal geprägten Preußen keine Karriere beim Militär machen. Immerhin herrscht in jenen Tagen in Deutschland noch ein rein religiös motivierter Antisemitismus. Rathenau hätte nur in die Evangelische Kirche einzutreten brauchen, und alles wäre gut gewesen. Das will Rathenau aber nicht.

Also begründet der junge Mann stattdessen mal eben den chemischen Komplex von Bitterfeld. Mit dem Geld seines Vaters lässt er eine Fabrik zur Gewinnung von Waschsoda aus dem Boden stampfen. Für die Elektrolyse wird die in der Region verfügbare Braunkohle eingesetzt. Und schon bald darauf entsteht noch ein Komplex in Rheinfelden. Walther hat seine Sache gut gemacht. Als die Anlage von selber weiterlaufen kann, verlässt Rathenau 1907 Bitterfeld und steigt in den Vorstand der väterlichen AEG und in die mit ihr verbundene Hausbank Berliner Handelsgesellschaft ein. Die ödipale Distanz zu seinem Vater ist im täglichen Zusammenwirken an der Spitze des Weltkonzerns AEG einer engen Vertrautheit gewichen.

Als Firmengründer Emil Rathenau im Jahre 1915 stirbt, tritt sein Sohn Walther an die Spitze des Aufsichtsrats. Er ist der große Visionär, während sein Partner Felix Deutsch die Tagesgeschäfte führt. Nebenbei unternimmt Walther Reisen in das noch weitgehend naturbelassene Afrika. Er begleitet dabei den obersten Verantwortlichen für die kaiserliche Kolonialverwaltung, Bernhard Dernburg. Nach dem Skandal des deutschen Umgangs mit den Herero-Aufständen befindet sich die deutsche Kolonialpolitik in einer schweren Sinnkrise. Rathenau und Dernburg kommen zu dem Schluss, dass eine großräumige wirtschaftliche Nutzung Afrikas keinen Sinn macht. Auch Deutsche dort in großem Stil anzusiedeln, könne man nicht empfehlen.

Nebenbei fand Walther Rathenau auch noch die Zeit, mit seinem Vater zusammen die Nationale Automobil Gesellschaft (NAG) zu gründen. Hier wurden neben Luxuskarossen auch Nutzfahrzeuge hergestellt. Über hundert Jahre vor Elon Musks Tesla-Flitzern brachte die NAG serienreife Elektroautos auf den Markt. Um das Bild voll zu machen, veranlasste Rathenau die Gründung der ersten Linienflug-Gesellschaft, aus der die allseits bekannte Lufthansa hervorging. Im Laufe seines relativ kurzen Lebens bekleidet Rathenau Aufsichtsratsposten in 86 inländischen und 21 ausländischen Großunternehmen. Das Wort vom „Aufsichtsrathenau“ macht die Runde.

Rathenau gehört zur europäischen Elite, woraus er kein Geheimnis macht: „Dreihundert Männer, von denen jeder jeden kennt, leiten die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents.“ So schreibt er im Jahre 1909 in einer Tageszeitung. Diese Äußerung sollte sich für ihn noch als verhängnisvoll erweisen.

Künstler, Philosoph, Mäzen und Autor

Brauchte der Mann denn nicht irgendwann auch mal Schlaf? Stefan Zweig hat Rathenau nach dessen Tod einen Aufsatz gewidmet (3). In unserer Vorstellung erscheint ein Mann, dessen Geist nie Ruhe findet. Stattdessen sich ständig im Turbo-Modus befindet. Stefan Zweig: „Beispiellose Geschwindigkeit des Begreifens … Nicht einen Senfkorn Wahn oder Gläubigkeit gab ihm Ruhe und Tröstung. Er konnte sich nicht verlieren. Sich nicht vergessen.“ Walther Rathenau war zwar „Hans Dampf in allen Gassen“, wie seine Gegner despektierlich äußerten. Dennoch: obwohl er täglich mit sehr vielen Menschen zu tun hatte, umgab ihn eine unnahbare Kühle. Er war Single. Aus der Ferne und rein platonisch in unzähligen Briefen, aus denen Harry Graf Kessler in seiner Biographie gerne zitiert, liebte er Elisabeth „Lili“ Deutsch, die Frau seines AEG-Geschäftsführers Felix Deutsch. Frauenlos und kalt-museal residierte Rathenau in seinen Gemächern der Prunkvilla in Berlin-Grunewald und in seinem Gut irgendwo ganz weit draußen auf dem Land. Eine „furchtbare Einsamkeit“ umgab ihn, so wieder Zweig: „Man kam ihm nie ganz nahe.“

In seiner Freizeit mischte Rathenau in unendlich vielen Vereinen mit. Förderte Kunst und Kultur mit großzügigen Zuwendungen. Den expressionistischen Maler Edward Munch unterstützte er und ließ sich von seinem Vetter Max Liebermann porträtieren. In einer Festschrift ist zu lesen: „Er [Rathenau] wurde regelrecht zum Kommunikationsmittelpunkt des öffentlichen Lebens in Deutschland.“ (4). Das ist sicher nicht übertrieben. Auch den Kaiser kannte er. Seine Majestät und Rathenau waren sich in herzlicher Abneigung verbunden. Kein Wunder. Denn Rathenau lieferte regelmäßig Artikel für Maximilian Hardens Zeitschrift Die Zukunft. Harden ließ kein gutes Haar an Kaiser Wilhelm II. und trat 1907 eine ekelhafte homophobe Intrige gegen Wilhelms engsten Vertrauten, Philipp Fürst zu Eulenburg, los. Und Rathenau hielt auch nicht hinter dem Berg mit seiner Prognose, dass es mit dem Wilhelm noch ein böses Ende nehmen würde.

Rathenau schrieb jede Menge Aufsätze für Zeitschriften. Er veröffentlichte bemerkenswerte Bücher, aus denen eine geradezu prophetische Gabe erkennbar wird, die wesentlichen Strömungen und Entwicklungen seiner Zeit gedanklich zu bündeln und daraus auch gangbare Handlungsvorschläge zu extrahieren. Dabei ist seine Prosa sehr eigenständig und nicht sofort verständlich. Rathenaus Zeit ist eine Zeit auch des sprachlichen Umbruchs. Des Stochern im Nebel nach geeigneten neuen Wörtern. Nach ganz neuen Wortschöpfungen. Und dann wieder lyrisch anmutende Abschnitte. Rathenau bejaht in seinen politischen Aufsätzen durchaus eine Konzentration der Wirtschaft auf große Konzerne und Kartelle.

Diesen industriell-finanzkapitalistischen Moloch-Strukturen traut er trotz aller aufgetretenen Mängel das Potenzial zu, im engen Zusammenwirken mit einem sozial aufgeklärten Nationalstaat zum Gemeinwohl beitragen zu können.

Der Staat muss lenkend eingreifen in die Konzerntätigkeiten und diese zu einem schonenden Umgang mit Ressourcen und Menschen anleiten. Erstaunlich moderne Gedankengänge lange vor der sustainable development, der nachhaltigen Entwicklung.

Viele Gedanken Rathenaus finden sich später in den neoliberalen Ordo-Prinzipien bei Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow und Ludwig Erhard wieder. Sehr bald sollten die Impulse von Walther Rathenau in das große Weltgeschehen eingehen. Der Anlass war eher unerfreulicher, weil martialischer Natur.

Rathenau und der Große Krieg

Es ist Sommer 1914. Das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronanwärter Franz Ferdinand und seine Gattin in Sarajewo wird von interessierten Kreisen zu einer Staatsaffäre aufgeblasen, bis es dann wirklich richtig zu krachen beginnt. Und natürlich machen alle Regierungen und die mit ihnen verbandelten Zeitungen „ihren Jungs“ den kriegerischen Gang zur Schlachtbank damit schmackhaft, indem man sagt: „Zu Weihnachten seid Ihr wieder zu Hause bei Mama!“ Für die deutschen Soldaten quasi ein Kinderspiel: „Jeder Tritt ein Brit’. Jeder Stoß ein Franzos’. Jeder Schuss ein Russ’.“

Rathenau lehnt diesen Krieg ab. Er weiß genau, dass es nach einem solchen Waffengang im neuen technologischen Massenmord-Design des Industriezeitalters keine Gewinner geben kann. Alle werden hinterher sehr abgebrannt dastehen. Egal ob Sieger oder Verlierer. Und wie er so die Potenziale der deutschen Streitkräfte durchrechnet, macht er eine ungute Entdeckung. Auch die deutschen Streitkräfte sind nämlich auf Ammoniak für ihre Munition angewiesen. Doch Salpeter wird zum großen Teil aus Übersee importiert, unter anderem aus Chile. Und da die englische Marine auf allen Weltmeeren unangefochtener Platzhirsch ist, können die Briten ohne Weiteres den Nachschub von Salpeter und natürlichem Ammoniak durch die Seeblockade absperren. In nicht allzu ferner Zukunft müsste dann Deutschland kapitulieren. Ganz einfach, weil den Streitkräften die Munition ausgegangen ist! Man sieht, unsäglich blöde Politiker und Militärs hat es auch früher schon gegeben. Rathenau sucht den Oberbefehlshaber der kaiserlichen Streitkräfte umgehend auf und überreicht ihm sein Memorandum (5).

Und weil Rathenau nicht der Mann ist, der sich lange bei Unzulänglichkeiten aufhält, offeriert er auch gleich Lösungsvorschläge. Kurzfristig müsse man schauen, was man alles an Restbeständen an Rohstoffen für Munition in Deutschland und in den bereits besetzten Gebieten auftreiben könne. Hier kam auch die Idee des Recyclings zum ersten Mal im großindustriellen Stil auf. Der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn ist klug genug zu erkennen, dass Rathenau schlichtweg Recht hat. Er setzt Rathenau sofort als Chef einer neu einzurichtenden Kriegsrohstoffabteilung ein und beauftragt ihn damit, die besten Fachleute dort zu versammeln. Die nach wie vor ideologisch vollkommen bornierten Generäle reagieren mit einer eigenen Denkschrift: Diesen Juden und Zivilisten Rathenau geht der Krieg nichts an!

Forsch beauftragt man die Marine, die englische Militärbasis auf den Falkland-Inseln zu stürmen, um den Weg frei zu machen für das chilenische Salpeter. Doch die Aktion unter Admiral Maximilian, Graf von Spee scheitert fürchterlich. Tausende deutsche Jungs ersaufen elend im kalten Atlantik. Nun hören die schneidigen Militärs den Leuten aus Rathenaus Kriegsrohstoffabteilung schon etwas kleinlauter zu. Rathenau hat Nobelpreis-dekorierte Top-Chemiker wie Carl Bosch und Fritz Haber zur Mitarbeit gewinnen können. Die beiden Herren haben die Haber-Bosch-Synthese entwickelt. Dank dieses Verfahrens kann man das sowohl für Munition wie auch für die Düngung unerlässliche Ammoniak buchstäblich aus der Luft greifen und synthetisch extrahieren. Allerdings ist das Verfahren noch nicht weiterentwickelt für die industrielle Massenfertigung.

Jetzt, unter der größten Bedrohung eines verlorenen Krieges, tun sich Staat und Industrie zusammen, um diese Massenfertigung in Zeitraffer-Geschwindigkeit zu ermöglichen. In der Chemieanlage Oppau wird daran fieberhaft gearbeitet. Um bis zur Großproduktion synthetischen Ammoniaks noch ein bisschen Zeit zu gewinnen, verstricken sich Rathenau und seine Chemiker in die schwerste Schuld eines Kriegsverbrechens. Im ganzen Reich werden chemische Abfallprodukte zusammengekratzt — um daraus durch internationale Konventionen geächtete Giftgasportionen zu machen. In der Schlacht von Ypern am 22. April 1915 schießen die deutschen Einheiten Giftgas in die französischen Schützengräben. 15.000 französische Rekruten winden und wälzen sich in äußersten Schmerzen und Krämpfen der Vergiftung. Erblinden. 5.000 französische Soldaten sterben einen elenden Tod. Die Frau des ebenfalls an diesem Giftgasverbrechen beteiligten Chemikers Carl Duisberg begeht vor Verzweiflung und Scham Selbstmord. Man bedenke, dass all diese Chemiker nach dem Krieg zu Managern des weltgrößten Chemiekonzerns IG Farben aufsteigen konnten.

Die indirekte Beteiligung an den erbärmlichen Giftgasmorden ist nicht der einzige schwere Makel in der Biographie Walther Rathenaus. Seine Kriegsrohstoffabteilung requirierte nicht nur Rohstoffe im besetzten Belgien, sondern auch arbeitsfähige Männer wurden als Arbeitssklaven nach Deutschland entführt. Das ist einer von vielen inneren Rissen dieses Mannes.

Rathenau war gegen diesen Krieg gewesen. Als der Krieg dann aber doch ausgebrochen war, fühlte sich Rathenau, obwohl als Jude und Intellektueller massiv angefeindet, als deutscher Patriot. Er wollte dazu gehören. Der zurückgestoßene einjährige Kürassier, der nicht höherer Offizier werden durfte, steht nun als Zivilist und Jude doch noch auf demselben Podest wie die arrogant verblendeten Generäle. Dafür hat er viel von seinem Wesen geopfert.

Hat sich mit Schuld beladen, um endlich auch ein Teil der deutschen Volksgemeinschaft sein zu dürfen.

Der englische Geopolitiker Halford Mackinder hat einmal über den Ersten Weltkrieg geurteilt, dieser sei ein „Katalysator der Weltgeschichte“. In der Tat hat der Krieg gigantische Eruptionen im technischen Fortschritt gebracht. Man führe sich nur einmal folgendes vor Augen: 1904 gelang den Gebrüdern Wilbur und Orville Wright der erste motorisierte Flug. Und wenige Jahre später, im Ersten Weltkrieg, nehmen Flugzeuge und Zeppeline bereits am Gefechtsgeschehen teil. Und auch die Idee, die Entwicklung massenindustrieller Fertigungstechniken in eng verzahnter Zusammenarbeit von Militär, privater Wirtschaft und Staat offensiv voranzutreiben, lag in der Luft. Und Rathenau hat dieses Konzept mit der Erfindung der Kriegsrohstoffabteilung (KRA) aus der Luft in die materielle Wirklichkeit geholt. Rathenaus Konzept ist die Grundlage des von Marxisten Staatsmonopolkapitalismus (Stamokap) genannten Phänomens.

Und die USA werden hellhörig. Dieser Deutsche namens Rathenau hat, wie die amerikanische Zeitung Times am 15. Oktober 1915 titelt, „eine der größten Ideen der modernen Zeiten“ ausgebrütet. Damals hielten sich die USA noch vornehm aus dem Krieg heraus. Als die Amerikaner 1917 jedoch selber an der Seite Großbritanniens und Frankreichs in den Krieg eintreten, kopieren sie Rathenaus Konzept der Kriegsrohstoffabteilung komplett. Alle Materialien, alle Betriebe, das gesamte verfügbare Personal in den USA wird zentral erfasst und der Maschine des Totalen Krieges einverleibt. Das Äquivalent der Kriegsrohstoffabteilung heißt in den USA War Industries Board (6). Hier sind alle Wirtschaftsbosse der großen Konzerne und Kartelle versammelt. Kleinere „unrentable“ Betriebe werden einfach abgeschaltet. Alles wird reglementiert. Sogar, welche Schuhe noch produziert werden dürfen. Private Konzerne und der Staat sind zu einer Einheit verschmolzen, zumindest für die Dauer des Krieges. Was hier vollzogen wurde, ist nichts anderes als die Blaupause für die sozialistische Planwirtschaft. Die beiden Sowjetlenker Nicolai Bucharin und Wladimir Iljitsch Lenin sind nämlich von der deutschen und amerikanischen Planwirtschaft so begeistert, dass sie das Konzept für das Sowjetreich übernehmen. Auch in Friedenszeiten und mit nunmehr verstaatlichter Wirtschaft.

Rathenau hatte die Kriegsrohstoffabteilung schon im Jahre 1915 wieder verlassen. Typisch Rathenau: Wenn er ein Unternehmen erfolgreich in die Welt gesetzt hat, das selber weiter laufen kann, dann wendet sich der rührige Unternehmer dem nächsten Projekt zu. In diesem Falle wurde Rathenau nach dem Ableben seines Vaters Emil dringend an der Spitze des Elektrokonzerns AEG gebraucht. Doch er mischt sich als Artikelschreiber nach wie vor in das Kriegsgeschehen ein. Zunächst hatte Rathenau sich massiv für Erich Ludendorff als neue Führungsgestalt im deutschen Generalstab eingesetzt. Das sollte er allerdings bald bereuen. Die unausgereiften Entschlüsse von Ludendorff werden von Rathenau als verhängnisvoll angeprangert.

Nach wie vor bleibt die Geschichtsschreibung eine Antwort auf die Frage schuldig, warum Ludendorff im Jahre 1917 den totalen U-Boot-Krieg gegen alle auf dem Atlantik verkehrenden Schiffe verordnete. Es war doch klar, dass einflussreiche Kreise in den USA nur auf eine solche Steilvorlage des deutschen „Reichsquartiermeisters“ Ludendorff gelauert hatten. Damit hat Ludendorff den Eintritt der USA in den Krieg auf der Seite der Entente-Mächte geradezu erzwungen. Rathenau ist entsetzt. Der Krieg ist damit definitiv verloren. Dazu das flegelhafte Verhalten der deutschen Verhandlungsführer gegen die sowjetische Delegation in Brest-Litowsk. Der gerade gewonnene Vorteil durch die Beendigung des Krieges an der Ostfront war zunichte gemacht. Um sich vor der Verantwortung zu stehlen, stellte Ludendorff die deutsche Öffentlichkeit mit seinem Alleingang beim Ersuchen eines sofortigen Waffenstillstands am 29. September 1918 vor vollendete Tatsachen. Die Suppe des durch Ludendorff verloren gegangenen Krieges sollten nunmehr zivile Politiker auslöffeln, die bislang keine Mitsprache hatten. Ludendorff flüchtete unter falschem Namen nach Schweden, um erst wiederzukommen, wenn die Luft rein war.

Rathenau wird Minister

Zunächst will niemand Rathenau in der Politik sehen. Seine Rolle im Krieg war noch in frischer Erinnerung. Außerdem hatte Rathenau in der Öffentlichkeit eine Volkserhebung gefordert anstelle der kläglichen Kapitulation von Ludendorff (7). Das kam bei den müden Rekruten, die seit Jahren im nordfranzösischen Schlamm herumrobben mussten, nicht so gut an. In den beiden revolutionären Jahren 1918 und 1919 hätte niemand einen Pfifferling darauf gewettet, dass Rathenau einmal eine Karriere in der Politik machen würde. Als jemand in der Nationalversammlung von Weimar Rathenau als möglichen Reichspräsidenten vorschlug, führte das nur zu allgemeinem Gelächter.

Ende 1918 begannen intensive Überlegungen, wie die Bevölkerung mehr Kontrolle und Mitsprache erlangen kann, damit die großen Stahlkartelle und die Banken nicht noch einmal unkontrolliert einen totalen Krieg aus niedrigsten Profitinteressen heraus vom Zaun brechen können. Die Linken wollten den Kapitalisten Rathenau nicht dabei haben. Unter dem Eindruck des Kapp-Putsches im März 1920 bemühte man sich dann doch um ein breiteres politisches Bündnis. Nun berief man auch den Liberalen Rathenau in die zweite Sozialisierungskommission. Reichskanzler Joseph Wirth bat daraufhin Rathenau, auch ohne ein Regierungsamt an der Konferenz von Spa im Juli 1920 teilzunehmen. In genau jenem belgischen Kurort, wo Kaiser Wilhelm dereinst abzusteigen geruhte, trafen sich die vom Krieg direkt betroffenen Staaten Europas. Und hier durfte auch die deutsche Delegation mit vollem Mitspracherecht teilnehmen. Das war das erste Mal seit dem Diktatfrieden von Versailles (8). Rathenaus weit reichende Beziehungen in Europa öffneten den Deutschen viele zusätzliche Türen.

Bis jetzt konnte man von einem Dialog zwischen den Siegermächten und den unterworfenen Achsenmächten nicht sprechen. Die Sieger, unter ihnen besonders die französische Regierung, stellten schier unannehmbare Forderungen an Deutschland. Eine Reichsregierung nach der anderen wurde in diesem Kampf verschlissen. Rathenau und Kanzler Wirth machen jetzt zum ersten Mal konkrete Vorschläge, wie man sich vielleicht in der Mitte einigen kann. Aber wo ist die Mitte? Die Sieger hatten immer noch keine exakte Summe genannt, die Deutschland als Reparation entrichten sollte. Deutschland macht beherzt den ersten Zug und erklärt sich bereit, Frankreich ab sofort regelmäßig größere Kontingente Kohle zu liefern. Im Gegenzug lockern die Alliierten ihre Lebensmittelblockade gegen die deutsche Bevölkerung. Sie verlängern noch einmal die Fristen, bis wann die deutschen Streitkräfte ihre Abrüstung abgeschlossen haben sollten.

Ab diesem Zeitpunkt beginnt nun aber auch das Gerede seitens der radikalen Rechten, die Reichsregierung praktiziere eine „Erfüllungspolitik“. Mit anderen Worten: Exakt dieselben Leute, die Deutschland, salopp gesagt, in die Grütze gefahren und sich dann mehr oder weniger elegant aus der Verantwortung gezogen hatten, diffamieren jetzt gerade diejenigen, die die Karre wieder aus dem Dreck holen.

Auf deutscher Seite nahm auch der damals mächtigste deutsche Kapitalist, Hugo Stinnes, an der Konferenz teil. Der cholerisch gestimmte Stinnes richtete sich zu ganzer Körperlänge vor den Briten und Franzosen auf und schleuderte den Alliierten seine Meinung ungehemmt ins Gesicht: Deutschland solle das Diktat der Alliierten nicht erfüllen. Egal was passieren mag. Die Alliierten waren not amused.

Aber was sollte die deutsche Regierung denn eigentlich tun? Zurückkehren zu einem Kriegsmodus? Eine Massenerhebung, also so eine Art „Volkssturm“? Das hatte Rathenau ja exakt in jenem Moment vorgeschlagen, als Ludendorff den Alliierten Deutschland unbewaffnet und wehrlos auf dem Silbertablett servierte. Gerade durch die vollkommen überstürzte und nicht abgesprochene einseitige Kapitulation war Deutschland jetzt unwiderruflich in eine Situation der totalen Wehrlosigkeit geraten wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen ist und nun mit seinen sechs Beinen hilflos herumstrampelt. Die deutsche Bevölkerung litt akut an Unterernährung und war für Infektionen offen wie ein Scheunentor. So raffte die Spanische Grippe weltweit mindestens zwanzig bis fünfzig Millionen Menschen dahin. Einer verantwortungsbewussten Regierung blieb folglich nichts anderes übrig als eine pragmatische Politik der kleinen Schritte.

Ein Jahr später, im Mai 1921, ernennt Reichskanzler Wirth Rathenau zum Wiederaufbauminister. Rathenau weiß genau wie der britische Ökonom John Maynard Keynes, dass ein Wiederaufstieg der europäischen Nationen nur möglich ist, wenn man über nationale Grenzen hinweg ganze Regionen saniert. So ist es im Sinne Deutschlands alles andere als uneigennützig, wenn Rathenau deutsche Wiederaufbauprogramme für die vom Krieg besonders zerstörten Regionen in Belgien und Frankreich entwickelt. Im Oktober 1921 trifft der Wiederaufbauminister Rathenau in Wiesbaden den französischen „Minister für die befreiten Gebiete“, Louis Lacheur. Bei den „befreiten Gebieten“ handelt es sich um Elsass-Lothringen, das Bismarck 1870 für Deutschland frech annektiert hatte, und das jetzt wieder zu Frankreich gekommen war. Lacheur und Rathenau verstehen sich ausgezeichnet. Lacheur hat sich ein Industrie-Imperium aufgebaut. Ist also ein Kollege von Rathenau. Im so genannten Wiesbadener Abkommen verpflichtet sich Deutschland, Sachleistungen im Werte von sieben Milliarden Goldmark an Frankreich zu leisten. Der entsprechende Vertrag wird allerdings erst im Sommer 1922, nach Rathenaus Tod, von beiden Seiten ratifiziert.

Im Januar 1922 treffen sich dann Deutschland und die Siegermächte zur Konferenz von Cannes. Mittlerweile war Rathenau bereits als Wiederaufbauminister zurückgetreten. Faktisch ist Rathenau im französischen Badeort Cannes auch ohne Regierungsposten Delegationsleiter der deutschen Regierung. Die Siegermächte haben die Gesamtsumme ihrer Reparationsforderungen auf astronomische 132 Milliarden Mark festgelegt, zahlbar in Raten von zwei Milliarden Mark pro Jahr. Und Rathenau verbleibt die unangenehme Aufgabe, den Briten und den Franzosen schonend beizubringen, dass Deutschland diese Summe beim besten Willen nicht zahlen kann. Nun gut. Der britische Regierungschef Lloyd George sieht die Sache recht locker. Und in Frankreich regiert zufällig gerade mit Aristide Briand ein Mann, der an guten Beziehungen zu Deutschland interessiert ist. Man verbleibt so, dass Deutschland alle zehn Tage 31 Millionen Mark an die Sieger zahlen soll. Doch zum Abschluss der Konferenz wird bekannt, dass Briand in Frankreich gerade gestürzt wurde. Mit Raymond Poincaré kommt wieder ein leidenschaftlicher Deutschland-Hasser an die Macht, der Rache für die Schmach des deutsch-französischen Krieges von 1870 geschworen hat. Immerhin verabredet man sich zu einer ganz großen Konferenz, in der Sieger und Verlierer des Ersten Weltkriegs eine Konzeption für das Nachkriegs-Europa ausbrüten sollen. Die Konferenz soll im April 1922 im italienischen Genua stattfinden.

Das Drama nähert sich nunmehr der Lösung des Knotens, hinein in die persönliche Katastrophe. Walther Rathenau ist mittlerweile deutscher Außenminister geworden und spielt in Genua eine gewichtige Rolle.

Rapallo: Rathenau befreit Deutschland aus der Umschlingung

Europa liegt in Scherben. Nicht nur, dass 17 Millionen Kriegstote zu beklagen sind. Nicht nur, dass infolge der Hungersnöte zusätzliche 20 bis 50 Millionen Menschen der Spanischen Grippe zum Opfer fallen. Dass Millionen junge Männer durch den jahrelangen Stellungskrieg zermürbt und schwer traumatisiert sind. Sie finden sich kaum noch im Zivilleben zurecht. Der Frieden zwischen so unterschiedlichen Völkern ist nun nachhaltig zerrüttet. Der Krieg geht an verschiedenen Brennpunkten aber obendrein immer noch weiter. Dringenden Handlungsbedarf sehen die Wirtschaftsführer und ihre Politiker allerdings vor allem bei einem Punkt: der Wiederherstellung zuverlässiger Währungsverhältnisse. Im Krieg hatten die meisten Staaten den Goldstandard aufgekündigt, um für die Finanzierung der Aufrüstung beliebig viel Geld drucken zu können — ohne auf irgendeine Deckung in Realwerten Rücksicht nehmen zu müssen.

Die Wiederherstellung zuverlässiger Referenzwerte war nun der Zweck der Konferenz von Genua, die vom 10. April bis zum 19. Mai 1922 stattfand. 34 Staaten entsandten Delegierte zu dieser denkwürdigen Konferenz. Die USA hatten sich aus dem ganzen Regelwerk rund um die Verträge von Versailles allerdings schon seit dem Wahlsieg der Republikaner in Washington ausgeklinkt. Deswegen waren die Amerikaner in Genua auch nicht anwesend. Dafür nahm zum ersten Mal überhaupt die bolschewistische Regierung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFS) an einer internationalen Konferenz teil. Damit waren mit Sowjetrussland und Deutschland in Genua zwei Paria-Staaten der Nachkriegsordnung vertreten. Die deutsche Regierung wollte eine Milderung der Reparationszahlungen und einen freien Zugang zu den Weltmärkten erreichen. Denn bislang nahmen die Westmächte keine deutschen Exportwaren entgegen. Und Sowjetrussland wollte Schadensersatz. Denn die Entente-Mächte hatten Interventionstruppen in die junge Sowjetrepublik geschickt. Die wurden von den Bolschewiki überraschend eindeutig in die Flucht geschlagen. Aber die russische Erde war verwüstet, ein Neuanfang ohne ausländische Hilfe nur schwer vorstellbar.

Und auch schon in der Eröffnungszeremonie, feierlich begleitet von katholischen Bischöfen, erwiesen sich die Bolschewisten als gut vorbereitet und flexibel. Außenminister Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin betont seine Bereitschaft zur Abrüstung. Was den französischen Delegierten Louis Barthou auf die Palme bringt. Die Franzosen zeigten sich nicht nur in Genua von einer ungewohnt militaristisch-aggressiven Seite. Damit haben sie aber den Bogen überspannt und isolieren sich zunehmend auf diesem Kongress. Es tritt für alle sichtbar eine Entfremdung zwischen den Kriegsverbündeten Frankreich und Großbritannien ein. Die französische Regierung, an deren Spitze wieder einmal der Falke Poincaré steht, will den Erbfeind Deutschland am Verhandlungstisch vernichten. Das ist nicht im Interesse der Briten. Die Briten haben massive Anteile an deutschen Wirtschaftsunternehmen und möchten auf keinen Fall eine weitere Schwächung Deutschlands hinnehmen. Zudem denken auch die Briten an die üppigen Rohstoffe, die noch im Boden Russlands ruhen, und die es gilt, möglichst bald zu bergen.

Andererseits will Deutschland auch wieder mit Russland ins Geschäft kommen. Der Vertrag von Brest-Litowsk, der nach der bolschewistischen Revolution abgeschlossen wurde, ist mit Inkrafttreten des Versailler Vertrags null und nichtig geworden. Also müssen die Deutschen möglichst bald einen neuen Vertrag mit den Sowjets abschließen. Der Weg zu Handelsbeziehungen nach Westen ist für Deutschland einstweilen versperrt. Importware ist nicht zu bekommen. Und exportieren können die Deutschen auch nichts. Stattdessen dürfen sie jede Menge Waren, Patente und Maschinen kostenlos an den Westen abgeben, deklariert als Reparationen. Wo sollen sie Rohstoffe hernehmen für ihre Industrie?

Die damalige französische Regierung wollte Deutschland quasi ersticken. Deshalb waren die Franzosen bemüht, die Russische Sowjetföderation an Deutschland vorbei in das westliche Netz einzuverleiben.

Der Verantwortliche für die Reparationen auf Seiten der Franzosen, Louis Barthou, strickt eifrig an einem Vertrag zwischen Großbritannien, Frankreich und der Sowjetföderation. Dabei möchte Barthou, dass die Russen ebenfalls Reparationszahlungen von Deutschland erhalten, die Deutschen aber nichts von Russland bekommen. Und wenn Deutschland etwas nach Russland exportiert, dann sollen auf jedes Exportgut Aufschläge gelegt werden. Denn Frankreich hatte vor dem Ersten Weltkrieg Kredite an das zaristische Russland vergeben. Mit der Machtübernahme durch die Bolschewisten war an eine Rückzahlung jener Kredite nicht zu denken. Aber über diese Exportaufschläge für Deutschland sollten die Rückzahlungen der abgeschriebenen Kredite dann doch noch wieder in französische Bankhäuser fließen. Finstere Aussichten also für Deutschland. Diese Dreiecksbeziehung zu Lasten Deutschlands zwischen Großbritannien, Frankreich und Sowjetrussland wird tatsächlich im so genannten „Londoner Memorandum“ am zweiten Tag der Konferenz bereits unverbindlich vereinbart.

Am Abend des Freitags, dem 14. April, erscheint der italienische Gesandte Dr. Francesco Gianini im Hotel der deutschen Delegation. Er teilt den Deutschen mit, dass die Verhandlungen zwischen Großbritannien, Frankreich und den Russen einen „günstigen Verlauf“ nähmen. Rathenau ist entsetzt und enttäuscht: Man habe da ja ein schönes Diner arrangiert, die Deutschen aber nicht eingeladen und nun frage man, wie uns Deutschen das Menü gefalle? Dann, so Rathenau, müssten wir uns nach anderen Lösungen umschauen. Rathenau war nach Genua gefahren in der Hoffnung, auf der Konferenz eine gesamteuropäische Lösung zur Wiederherstellung aller vom Krieg gebeutelten Länder zu finden. Dabei hatte er neben Deutschland besonders an das verwüstete Nordfrankreich und das ebenfalls grauenhaft zugerichtete Russland gedacht. Aber statt Integration findet Rathenau hier nur den Geist der Zersetzung vor.

Nachdem die Rücksichtnahme gegenüber England und Frankreich hinfällig geworden ist, beginnen die Deutschen nun ganz ungeniert, mit den Sowjets anzubändeln. Da treffen sich also am Samstag Staatssekretär Ago von Maltzan und auf sowjetischer Seite Adolf Abramowitsch Joffe und Christian Georgijewitsch Rakowski. Ganz neu sind die Beziehungen zwischen Sowjets und Weimarer Republik indes nicht. Die beiden Seiten hatten schon Monate zuvor in Berlin einen neuen bilateralen Vertrag entworfen, aber bislang noch nicht zum Abschluss gebracht. Das Vertragswerk enthält Regelungen für deutsche Infrastrukturhilfe für die Sowjets. An diesem Samstag knüpfen die Gesprächspartner dort wieder an. Man geht auseinander, nicht ohne festzustellen, dass es gut war, miteinander zu sprechen.

Die Deutschen stehen jetzt mit dem Rücken zur Wand. Wenn es ihnen nicht gelingt, dem Würgegriff Frankreichs zu entkommen, bleibt Deutschland nur der fortschreitende Ruin. Keine Rohstoffe. Keine Absatzmärkte. Der deutsche Finanzminister Andreas Hermes stöhnt: Jetzt sind wir auch noch vom Osten abgeschnürt! Nützt es jetzt noch etwas, auf die Geneigtheit der Briten zu hoffen? Das Risiko ist groß:

Wenn Deutschland nun Russland den Briten und vor allem den Franzosen wegschnappt, wird die Rache des Westens möglicherweise brutal sein. Aber man kann sich doch nicht so einfach vom Westen erwürgen lassen, kalt lächelnd.

In deprimierter Stimmung verbringt die deutsche Delegation den Samstag in Genua. Doch in der Nacht zum Sonntag, um ein Uhr fünfzehn, bimmelt bei Ago von Maltzan das Telefon. Am Telefon ist Adolf Joffe von der sowjetischen Delegation. Joffe: Der Vertrag mit den Briten und Franzosen ist noch nicht abgeschlossen. Wir können gerne denselben Vertrag auch mit Deutschland abschließen. Wir haben noch Zeit. Wir treffen uns erst am Ostermontag oder am Dienstag mit den Franzosen und Briten. Wie wäre es? Treffen wir uns Sonntag früh um 11 Uhr in dem gemütlichen Badeort Rapallo gleich nebenan? Von Maltzan, völlig überrascht: Ich muss jetzt erst Herrn Rathenau fragen. Aber ja, wir treffen uns Sonntagvormittag in Rapallo. Und von Maltzan klopft alle Mitglieder der deutschen Delegation aus den Betten. Es beginnt die berühmte „Pyjama-Konferenz“: mit Puschen, Pyjama und obendrüber Mänteln sitzen die Herren Minister und Ministerialbeamten auf den Bettkanten und gehen den in Berlin schon vorher mit den Sowjets ausgehandelten Vertrag noch einmal durch.

Am nächsten Morgen will Ago von Maltzan zumindest die britische Delegation darüber informieren, dass man jetzt unerwarteterweise mit den Sowjets über einen Vertrag verhandelt. Mit den britischen Gentlemen will man doch zumindest Gentleman-like umgehen. Doch um 7 Uhr morgens liegt Seine Lordschaft noch im Bett. Aber man werde zurückrufen, sobald die Herrschaften aufgestanden seien. Als bis 11 Uhr immer noch kein Rückruf erfolgt, ruft Maltzan noch einmal an. No, sorry, die Herrschaften sind bereits außer Haus.

Um 12 Uhr trifft die deutsche Delegation in Rapallo die Russen. Erst mal wird gefrühstückt. Dann gehen Außenminister Rathenau und sein sowjetischer Kollege Tschitscherin das Vertragswerk noch einmal gründlich durch. Am Abend um 18 Uhr 30 wird der Vertrag dann von den beiden Herren rechtsverbindlich unterzeichnet.

Nun hatten auch die feinen Gentlemen von der englischen Delegation erfahren, was in Rapallo abgegangen ist. Denn plötzlich wünscht der Premierminister von Großbritannien, Lloyd George, Reichskanzler Wirth und Außenminister Rathenau unbedingt sofort zu sprechen. Doch zu spät. Erst den Deutschen am Sonntagmorgen arrogant eine Abfuhr erteilen und jetzt ganz entsetzt anrufen. Für Rathenau sind die Würfel gefallen: „Le vin est tiré, il faut le boire!“ Also: Der Wein ist entkorkt. Jetzt muss er auch ausgetrunken werden. Warum sind die englischen Herrschaften eigentlich am Morgen nicht zu sprechen? Sind sie nur arrogant? Oder wollen sie offiziell nicht wissen, was die Geheimdienste vermutlich längst gezwitschert hatten? In Genua informiert Rathenau pro forma auch noch mal Sir William Blackett von der britischen Delegation. Der zeigt sich entspannt und zitiert seinen Kollegen Wise, der gesagt haben soll: „I was not at all surprised.“ Die überhaupt nicht überraschten Briten lächeln auch nur süffisant, als die rundum düpierte und blamierte französische Delegation am Ostermontag demonstrativ die Konferenz verlässt. Zu groß ist der Riss in der einstmals harmonischen entente cordiale zwischen Frankreich und Großbritannien geworden.

Der Coup von Rapallo hat den Deutschen auf der Konferenz von Genua einen enormen Bedeutungsgewinn eingebracht. Jetzt vermitteln die Deutschen die Anbahnung eines sowjetisch-britischen Vertrages, und der deutsche Finanzexperte Rudolf Hilferding von der SPD wird sogar an Lloyd George als Berater quasi „ausgeliehen“. Allseits wird das außerordentliche Verhandlungsgeschick des deutschen Außenministers Walther Rathenau gewürdigt. Stefan Zweig beschreibt in seinem Aufsatz über Rathenau, wie dieser mit der italienischen Delegation fließend italienisch, mit der französischen Delegation fließend französisch und mit der britischen Delegation fließend englisch verhandelt habe. Und dabei immer auf den Punkt und immer um Lösungen bemüht.

Doch genau dieser enorme Erfolg besonders wenn es darum ging, Deutschland verloren gegangenen Handlungsspielraum zurückzuerobern und selber zum gefragten Konferenz-Mittelpunkt zu avancieren, erregte den Zorn jener Kreise, die es mit Deutschland gar nicht so gut meinten.

Rathenaus Tod und der Weiße Elefant im Gerichtssaal

Das wusste auch Reichskanzler Wirth. Und Wirth macht sich jetzt Sorgen um sein bestes Pferd im Stall. Rathenau müsse sich, so Wirth, nach diesem Vertragsabschluss mit den Russen ernsthaft um Personenschutz kümmern. Er soll sich auf jeden Fall Polizeibeamte ordern. Und statt seines Cabriolets solle er doch lieber einen Wagen mit festem Dach fahren. Doch Rathenau ist in dieser Frage ganz eigen. Er will sich in seiner Privatsphäre keine solche Einschränkung gefallen lassen. Als sein Biograph Harry Graf Kessler in das Büro von Rathenau kommt, spricht er ihn ebenfalls auf seine extreme Gefährdung an. Rathenau sagt nichts. Holt aber dann aus seiner Hosentasche eine Browning-Pistole heraus. Er weiß also schon, dass man ihn auf dem Kieker hat. Als Jude. Und als Politiker, der die Franzosen bis zur Weißglut provoziert hat.

Auch am Samstag, dem 24. Juni 1922, muss Rathenau ein paar Stunden arbeiten. Er soll in den Räumen des Außenministeriums vormittags einer Prüfung von jungen Anwärtern für den diplomatischen Dienst beiwohnen. Die Nacht zuvor hat Rathenau wieder mal durchgemacht. Zuerst war er bei dem Botschafter der USA in Berlin, Alanson Houghton, zu Besuch. Natürlich wird hier auch nicht Konversation bei Tee und Salzgebäck gepflegt. Vielmehr diskutieren die Herrschaften über die völlig überzogenen Reparationsforderungen von Großbritannien und Frankreich an Deutschland in Höhe von 132 Milliarden Mark. Das geht einfach nicht. Deutschland könnte sich gezwungen sehen, künstlich eine Hyper-Inflation vom Zaun zu brechen und damit die Reparationsforderungen zur Farce zu machen. Bemerkenswerterweise lässt Rathenau zu diesem Gespräch noch Deutschlands damals mächtigsten Kapitalisten, nämlich Hugo Stinnes, herbeiholen.

Rathenau und Stinnes: einen größeren Unterschied kann man sich kaum denken. Im Gegensatz zu Rathenau war Stinnes ein grobschlächtiger unkultivierter Brausekopf. Dennoch hatte auch er seine Qualitäten. Er pflegte rudimentäre Vorstellungen von Sozialpartnerschaft. Er hatte 1918 das Stinnes-Legien-Abkommen unterzeichnet, das den Arbeitern einen Achtstundentag einbrachte. Er bot Arbeitern in seinem Betrieb die Möglichkeit zum Aufstieg. Mit Rathenau hatte Stinnes sich immer mal wieder gefetzt, dass die Federn flogen. Und doch respektierten sich die beiden gegensätzlichen Männer. Und so ist anzunehmen, dass Rathenau seinen Widerpart zum amerikanischen Botschafter gebeten hatte, um seiner Schilderung deutscher Entschlossenheit, sich dem Reparationsregime nicht zu beugen, gehörige Unterfütterung durch den Polterer Stinnes zu verleihen. Houghton hatte damit keine Probleme. Er war selber zum führenden Glasfabrikanten in den USA aufgestiegen. Die Unternehmer-Mentalität war ihm in all ihren Facetten vertraut. Dann saßen Rathenau und Stinnes noch bis vier Uhr nachts in einer Hotellounge zusammen und diskutierten die Zukunft Deutschlands.

Und am Samstagvormittag steht um 11 Uhr Rathenaus Cabriolet der eigenen Hausmarke NAG mit Chauffeur an der Auffahrt seiner Villa im Berliner Grunewald. Es dauert noch ein bisschen. Die letzte Nacht war eben doch lang. Und kurz bevor Rathenau sein Cabriolet besteigen will, kehrt er noch mal ins Haus zurück, kritzelt ein paar Notizen auf Papier. Dann geht die Fahrt los. Im Berliner Westen wird Rathenaus Cabriolet von einem anderen Cabriolet überholt. Darin sitzt neben dem Fahrer vorne ein Mann mit einem Gewehr. Als beide Autos auf gleicher Höhe sind, schießt der Beifahrer auf Rathenau, der sofort zusammenbricht. Nun steht der junge Mann im Fond des Cabriolets auf und schleudert eine Eierhandgranate in Rathenaus Auto. Rathenaus Chauffeur denkt zunächst, ein Reifen sei geplatzt. Dann entdeckt er die Blutlache, die sich um Rathenau sammelt. Eine geistesgegenwärtige Krankenschwester, die zufällig auf dem Trottoir geht, springt ins Auto und leistet Erste Hilfe. Sie fahren nach Hause und bahren den bereits Gestorbenen in seiner Villa auf.

Die Nachricht geht wie ein Lauffeuer zunächst durch Berlin, dann durch ganz Deutschland. Und was jetzt passiert, straft sämtliche Reeducation-Narrative von der angeblich angeborenen Demokratiefeindlichkeit der Deutschen Lügen. In Berlin nehmen eine Million Menschen, also glatt ein Viertel der Berliner Gesamtbevölkerung, an Protestdemonstrationen gegen diesen feigen Mord teil. Dazu je 150.000 Demonstranten in München und Chemnitz. Und dann noch je 100.000 Demonstranten in Hamburg, Breslau, Elberfeld und Essen. Die Weimarer Republik hatte einen Rückhalt wie noch nie. Im Reichstag findet schon am Sonntag eine Sondersitzung zum Tod von Rathenau statt. Ein Reichstagsabgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) mit dem vielsagenden Namen Dr. Karl Theodor Helfferich hatte immer wieder gegen Rathenau gestänkert. Die Abgeordneten sind jetzt außer sich vor Wut über diesen geistigen Brandstifter. Helfferich kann froh sein, sich unbehelligt aus dem Hohen Haus stehlen zu können. Reichskanzler Wirth hält eine historische Rede, in der er klarstellt: „Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. — Da steht der Feind — und darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts!“ Zwei Tage später die Beerdigung. Der Sarg Rathenaus wird im Reichstag aufgebahrt. Eine solche Ehrung wurde einem Politiker nur äußerst selten zuteil.

Die beiden Mörder — der Schütze sowie der Werfer der Eierhandgranate — werden in einer beispiellosen Ringfahndung identifiziert und dann gejagt. Sie verschanzen sich in einer Thüringer Burgruine. Ein Polizist schießt einem der Täter in den Kopf. Der andere Täter begeht daraufhin Selbstmord. Auch das Unterstützer-Umfeld kann kenntlich gemacht und vor Gericht gebracht werden. Das Gericht geht nun leider stur und unerschütterlich davon aus, dass Rathenau Opfer antisemitischer Gewalt geworden sei. Und das, obwohl durch die junge Republik eine Serie von Attentaten gegen linke und republiktreue Politiker ging. Von diesen Opfern waren nur wenige Personen Juden (9). Unter den Attentatsopfern befanden sich zum Beispiel der frühere Finanzminister Matthias Erzberger sowie der erste Reichskanzler Philipp Scheidemann von der SPD.

Es nützte nichts, der Justiz immer wieder klar zu machen, dass auffällig viele Mordtaten auf das Konto von Mitgliedern der Organisation Consul (OC) gingen. Das Gericht blieb bei seiner Version, Rathenau sei Opfer einer antisemitischen Tat geworden.

Doch auch die Attentäter und alle ihre Helfer waren Mitglieder der Organisation Consul. Die Organisation Consul bestand aus ehemaligen Söldnern Englands und Frankreichs im Baltikum, die am Kapp-Putsch teilgenommen hatten (10). Sie waren in der Brigade Ehrhardt als Söldner gegen die eigene Bevölkerung im Einsatz. Um nun in der Organisation Consul gezielte Terrorakte gegen missliebige Politiker professionell durchzuführen. Und um hierbei, das war das erklärte Ziel, mit ihren Terrorakten linke Kräfte so zu provozieren, dass diese militant werden mussten. Womit dann der Vorwand da war, in Deutschland die faschistische Diktatur einzuführen. Also eine Strategie der Spannung.

Währenddessen erklärte Frankreich, ungeachtet der Blamage von Genua und Rapallo, nunmehr ungeniert das Rheinland und das Ruhrgebiet besetzen zu wollen. Französische und belgische Soldaten rückten in die entmilitarisierten Zonen Westdeutschlands ein. Währenddessen wiederum brachen in Hamburg, Thüringen und Sachsen kommunistische Aufstände los, die von rechtsextremen Freikorpsverbänden niedergeschlagen wurden. Adolf Hitler versuchte im Jahre 1923, von München aus dem Vorbild Mussolinis zu folgen, der ein Jahr zuvor mit seinem Marsch auf Rom die faschistische Diktatur in Italien durchgesetzt hatte. Es ist nicht zuletzt der genialen Politik Walther Rathenaus zu danken, dass Hitler im ersten Anlauf keinen Erfolg hatte. Die Weimarer Republik konnte sich noch elf Jahre behaupten, bevor Hitler mit einem Mix aus brutaler Gewalt, geschickt platzierter Propaganda und mit viel, viel Geld 1933 dann doch den Faschismus auch in Deutschland installieren konnte.

Rathenau und die Nachwelt

Was ist noch in der kollektiven Erinnerung geblieben von einem der fähigsten Politiker des 20. Jahrhunderts? In der Berliner Königsallee, an der Stelle, an der Rathenau im Frühsommer 1922 ermordet wurde, befindet sich heute ein Gedenkstein, gut gepflegt und immer neu mit Blumen und Kränzen dekoriert. Es gibt zudem das Walther Rathenau Institut — Stiftung für Internationale Politik, das der FDP nahesteht. Diese Stiftung verleiht einen Walther Rathenau-Preis, den unter vielen anderen auch die ehemaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und Guido Westerwelle verliehen bekamen.

Zudem fand Rathenau in literarischen Werken eine künstlerische Verarbeitung. Stefan Zweig war ein großer Bewunderer von Rathenau. Er schrieb einen längeren Essay. Der Romancier Robert Musil muss Rathenau allerdings in einem höchst unerfreulichen Zusammenhang kennengelernt haben. Denn in seinem Opus Magnum „Der Mann ohne Eigenschaften“ soll er zumindest Anteile von Rathenaus Persönlichkeit in dem „Großschriftsteller“ Dr. Paul Arnheim untergebracht haben (12). Jener Arnheim ist ein eitler literarischer Netzwerker ohne eigene Substanz. Eine solche Darstellung hat Rathenau nun wirklich nicht verdient.

Zudem hat der in der Weimarer Republik außerordentlich erfolgreiche Schriftsteller Alfred Neumann den „Roman eines politischen Mordes“ im Jahre 1930 verfasst. Sein Bestseller „Der Held“ befasst sich allerdings eher mit dem Innenleben des gedungenen Freikorpsmörders mit Namen Hoff. Sein Opfer, „der Minister“, also Rathenau, bleibt schemenhaft (13). Der Jude Alfred Neumann musste schon 1933 vor den Nazis flüchten und geriet nebst seinem literarischen Oeuvre in Vergessenheit. Es folgten eine Reihe von Monographien, nicht zuletzt von Lothar Gall. Empfehlenswert ist auch eine TV-Produktion, die bei YouTube angesehen werden kann. Auch in dieser Dokumentation werden mögliche Verbindungen der Rathenau-Mörder zu ausländischen Geheimdiensten kategorisch ausgemerzt: Ein überlebender Zeitgenosse Rathenaus hatte den französischen Geheimdienst der Täterschaft verdächtigt. Das muss ein Geschichtsprofessor aus der Jetztzeit natürlich besser wissen als der Zeitzeuge. Ohne selber mehr als Spekulationen äußern zu können, schließt diese Kapazität jede Mitwirkung von ausländischen Geheimdiensten kategorisch aus (14).

Gerade weil die aktuelle Situation so fatal der Situation von 1922 ähnelt, sollte man sich mit Rathenau und seinen Strategien ernsthaft befassen. Dieser ausführliche Essay soll ein Angebot sein, Auswege aus der deutschen Sackgasse aufzuzeigen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Zitiert aus der ebenso einfühlsamen wie umfassend dokumentierten Monographie von Harry Graf Kessler: Walther Rathenau — Sein Leben und sein Werk. Berlin Grunewald 1928. Bezogen aus der online-Ressource Gutenberg-DE. Deswegen auch ohne Seitenangabe.
https://www.projekt-gutenberg.org/kessler/rathenau/rathenau.html
(2) Kessler, s.o.
(3) https://www.youtube.com/watch?v=47PCK98A_Ko
(4) Wolfgang Michalka: Vernetzt auf unterschiedlichen Ebenen: Walther Rathenau als Krisenmanager und Visionär „kommender Dinge“. In: Sonderdruck aus Die Kunst des Vernetzens — Festschrift für Wolfgang Hempel. Berlin-Brandenburg 2006. Seite 247
(5) Joseph Borkin: Die unheilige Allianz der IG Farben: Eine Interessengemeinschaft im Dritten Reich. Frankfurt/Main 1990. Seite 17 folgende.
(6) Hermann Ploppa: Hitlers amerikanische Lehrer — Die Eliten der USA als Geburtshelfer des Nationalsozialismus. Marburg 2016. Seite 93 folgende.
(7) Rathenau hatte als Gegenkonzept zu Ludendorffs Kapitulation in der Vossischen Zeitung vom 7. Oktober 1918 (Titel: „Ein dunkler Tag“) zu einer Volkserhebung („levée en masse“) aufgerufen: „Wir wollen nicht Krieg, sondern Frieden. Doch nicht den Frieden der Unterwerfung.“
https://www.weimarer-republik.net/jubilaeum/revolution-und-gruendung-der-republik-tag-fuer-tag/okt-1918/walther-rathenau-ueber-das-deutsche-waffenstillstandsgesuch-ein-dunkler-tag/
(8) https://apolut.net/history-der-vertrag-von-versailles/
(9) John Maynard Keynes: The Economic Consequences of the Peace. London 1920
https://visuallibrary.net/urn/urn:nbn:de:s2w-12189
(9) Der Mathematiker und Publizist Emil Julius Gumbel hatte nachgewiesen, dass zwischen 1919 und 1922 376 politisch motivierte Morde begangen wurden. Von diesen 376 politischen Morden gingen 354 auf das Konto der extremen Rechten, aber nur 22 auf das Konto der Linken. Die von Rechten begangenen Morde wurden von der Justiz extrem milde behandelt. Während die Morde durch Linke außergewöhnlich hart bestraft wurden. Gumbel hat seine Befunde unter anderem in dem Buch „Vier Jahre Politischer Mord“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht:
https://www.gutenberg.org/cache/epub/39667/pg39667-images.html
(10) https://apolut.net/history-der-kapp-putsch-im-jahre-1920/
(11) http://www.rathenau-stiftung.de/
(12) Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek 1990.
(13) Alfred Neumann, Der Held — Roman eines politischen Mordes. Stuttgart und Berlin 1930.
(14) Rathenau in einer TV-Dokumentation von 1984
https://www.youtube.com/watch?v=XYxx-Ckd8uE


Erstveröffentlichung am 15. November 2022 bei Rubikon

Online-Flyer Nr. 802  vom 30.11.2022



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