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Krieg und Frieden
Beleuchtung unterschiedlicher Narrative im Ukraine-Konflikt
Die Wahrheit ist eine Frage der Perspektive
Von Wolfgang Effenberger
Im Ukraine-Konflikt stehen sich zwei Narrative diametral gegenüber: Für den Westen ist das Referendum auf der Krim vom 16. März 2014 eine völkerrechtswidrige Annexion, für Russland eine völkerrechtskonforme Sezession. Der Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 wird vom "Kollektiven Westen" als völkerrechtswidriger Angriffskrieg gesehen, der keinesfalls zufolge gezielter Provokationen Russlands ausgelöst wurde. Im Gegensatz dazu spricht Präsident Putin von der Notwendigkeit dieser "speziellen Militäroperation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine". Deren Ziel es sei, jene Menschen zu schützen, die seit acht Jahren den Schikanen und dem versuchten Völkermord durch das Kiewer Regime ausgesetzt sind. (1)
Beide Sichtweisen bilden sicherlich nur jeweils einen Teil der Wahrheit ab. Um die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen, ist es unabdingbar, dass sich alle Konfliktparteien jeweils auch mit den Sichtweisen ihrer Gegner ernsthaft auseinandersetzten und bereit sind, die unterschiedlichen Positionen nüchtern zu analysieren und versuchen, die Gründe für den nun tobenden Krieg zu verstehen. mit der Bereitschaft eines Standortwechsels zu verstehen.
Schon im römischen Reich, das alles andere als eine vorbildliche Demokratie war, galt stets als Handlungsprinzip die weise Erkenntnis des Philosophen Seneca (4 vor Chr. bis 65 nach Chr.): "Audiatur et altera pars" (2) (man höre immer auch die andere Seite an!).
Deutschland scheint allerdings auf die Anwendung des Artikels 103 / Absatz 1 im geltenden Grundgesetz bewusst zu verzichten. Dieser besagt: „Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör“.
In der gesellschaftlichen Praxis ist von diesem Handlungsprinzip offensichtlich nicht viel mehr übrig geblieben. Frieden aber ist nur auf Basis eines verantwortlichen Umgangs mit diesem Grundrecht möglich, das jegliche Parteilichkeit und Vorverurteilung ausschließt. Im Sinne einer der Menschheit dienenden Zukunft ist im gegenständlichen Fall ein objektiver Rückblick unerlässlich.
Am 7. Dezember 2022 beschrieb NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in der "Financial Times" die Entwicklung seit 2014. Demnach haben die NATO-Verbündeten – vor allem die Vereinigten Staaten, Kanada und das Vereinigte Königreich – die Ukraine über viele Jahre hinweg unterstützt, insbesondere seit 2014, so dass die ukrainischen Streitkräfte im Februar 2022 viel größer, viel stärker und viel besser ausgerüstet sind als beim ersten Einmarsch Russlands im Jahr 2014.
Diese Unterstützung der Ukraine geschah nach Stoltenberg vor der Erkenntnis, „...dass ein Sieg Putins nicht nur für die Ukrainer eine Tragödie, sondern auch für uns alle sehr ernst wäre. Es wird die NATO-Verbündeten verwundbarer und die Welt gefährlicher machen, und deshalb können wir nicht zulassen, dass Präsident Putin gewinnt.“ (3)
Vor diesem Hintergrund begann 2014 die Umgestaltung der NATO. Zugleich wurde die militärische Präsenz der NATO im östlichen Teil des Bündnisses mit Verbänden verstärkt, die eine hohe Gefechtsbereitschaft aufwiesen. Zusätzliche Truppen wurden verlegt, die Zahl der Kampfgruppen im östlichen Teil des Bündnisses verdoppelt. Stoltenberg in seiner finalen Analyse:
Mit diesem 1. Golfkrieg (2. Irakkrieg) war erkennbar, dass nun die USA nicht mehr auf ihren früheren Gegenspieler Sowjetunion Rücksicht nehmen mussten. Eine Friedensdividende war nach Ende der Kalten Kriegs nicht zu erwarten. Den Vereinigten Staaten von Amerika ging es nun darum, eine unipolare Weltmacht zu werden.
Am 20. Januar 1991 fand in der Oblast Krim der Ukrainischen Sozialistischen Sowjet-Republik (SSR) ein Referendum über die Souveränität statt. Es ging um die Wiederherstellung der Autonomen Sozialistischen Sowjet-Republik Krim, die 1945 ein Oblast der Russischen SSR und dann am 5. Februar 1954 durch Parteichef Nikita Chruschtschow, der selbst aus der Ukraine stammte, anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der Russisch-Ukrainischen Einheit an die Ukraine übergeben wurde. (8) Die Krim blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Ihre ethnische Zusammensetzung – die Krim ist die einzige Region der Ukraine mit einer russischen Bevölkerungsmehrheit und einer krimtatarischen Minderheit – und ihre besondere geopolitische Lage, erweckte zu allen Zeiten spezifische Appetenzen. 1783 folgte auf das krimtatarische Khanat die Zugehörigkeit zum Russischen Reich und 1954 der Transfer an die Ukrainische SSR. Die Krim ist die einzige Region innerhalb der Ukraine, die einen verfassungsmäßig garantierten Autonomie-Status erhielt. Noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist Anfang 1991 eine autonome Krim-SSR (Krim.ASSR) errichtet worden, die ab 1992 als "Autonome Republik der Krim" den postsowjetischen Gegebenheiten angepasst wurde. (9)
Zehn Monate nach dem Referendum auf der Krim erreichte am 1. Dezember 1991 dann das Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine eine deutliche Mehrheit von 90,3 Prozent, wobei 39,4 Prozent von Sewastopol und 42,2 Prozent der Autonomen Republik Krim mit NEIN stimmten. (10) Am 17.03. 1995 wurde die Krim-Verfassung durch Kiew abgeschafft und die Krim-Regierung gestürzt.
Am 8. Dezember 1991 gründete sich als Nachfolger der Sowjetunion die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) als lockerer Arbeitsverbund einiger ehemaliger Sowjetrepubliken. Die Ukraine beteiligte sich zunächst daran, zog sich aber nach der erfolgreichen ersten Orangenen Revolution Ende 2004 weitgehend daraus zurück.
Am 25. Juni 1991 erklärten die jugoslawischen Teilrepubliken Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeit. Zwei Tage später brach der Bürgerkrieg aus. Im Herbst folgten die jugoslawischen Teilrepubliken Makedonien und Bosnien-Herzegowina – letztere gegen den Protest der serbischen Bevölkerungsminderheit. Der UN-Sicherheitsrat sah sich nun veranlasst, gegen das von bürgerkriegsähnlichen Kämpfen erschütterte Jugoslawien ein Waffenembargo zu verhängen. Die völkerrechtliche Anerkennung der nun souveränen jugoslawischen Teilrepubliken erfolgte seitens der EU zum 15. Januar 1992, wobei die Wirtschaftssanktionen gegen die jugoslawischen Teilrepubliken Serbien und Montenegro weiterhin aufrecht blieben.
Inzwischen hatte sich der Warschauer Pakt aufgelöst und Jugoslawien – bis dahin von den USA finanziell unterstützt – dadurch seine für die NATO strategische Rolle verloren. So wundert es nicht, dass der US-Kongress 1990 das "Foreign Operations Approbiaton Law 101-513" (Gesetz über die Bewilligung von Mitteln an das Ausland für 1991) verabschiedete, in dem die Mittel für Jugoslawien drastisch gekürzt wurden. Die New York Times zitierte am 27. November 1990 einen CIA-Bericht, der voraussagte, dass dieses Gesetz einen blutigen Bürgerkrieg auslösen würde. Nun musste auch die Deutsche Bundeswehr für Auslandseinsätze fit gemacht werden.
1993 wurde sie in Somalia (UNOSOM United Nations Operation in Somalia) II eingesetzt. Es war der Beginn des ersten bewaffneten Auslandseinsatzes der Bundeswehr – wenn auch ohne Kampfauftrag. Die sich damals in der Opposition befindende Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), war der Meinung, dass ein solcher bewaffneter Auslandseinsatz ohne Grundgesetz-Änderung gar nicht zulässig war und rief das Bundesverfassungsgericht an. Ein Jahr später gab das Verfassungsgericht grünes Licht für Auslandseinsätze.
Aktuelle Einsatzgebiete der Bundeswehr, Stand November 2022 (zum Vergrößern hier klicken)
Von 2002-2021 dienten in Afghanistan rund 93.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten. Kriegsgrund für George W. Bush war (nur 27 Tage nach dem Terroranschlag auf die Twin-Tower) die angeblich fehlende Bereitschaft der Taliban-Regierung, den im afghanischen Asyl befindlichen Osama bin Laden unverzüglich an die USA auszuliefern.
Der Afghanistan-Einsatz war der bislang folgenschwerste Einsatz der Bundeswehr: viele Verwundete und auch 59 Tote waren zu beklagen. (11)
Am 3. August 1995 startete eine der größten und blutigsten Offensiven während des schon vier Jahre andauernden Bürgerkriegs In Jugoslawien. Die von den USA unterstützte kroatische Armee griff mit dem Ziel an, die mehrheitlich von Serben bewohnte Krajina ethnisch zu säubern. Nach vorausgegangenem NATO-Bombardement brachten die Kroaten die Krajina in ihre Gewalt und lösten damit die größte Flüchtlingswelle auf dem Balkan seit dem Zerfall Jugoslawiens aus. Annähernd 200.000 Krajina-Serben wurden aus ihren Heimstätten vertrieben. (12)
Schon nach dem zweiten Kampftag fallen dem "London Independent" Parallelen in der Operationsanlage auf: „... sind die Wiederbewaffnung und Ausbildung der kroatischen Streitkräfte, die zur Vorbereitung der laufenden Offensive durchgeführt worden waren, Teil eines typischen CIA-Einsatzes? (wahrscheinlich des weitreichendste Einsatz dieser Art seit dem Ende des Vietnamkrieges)“ (13)
Im Herbst 1998 konnte eine rot-grüne Mehrheit unter Gerhard Schröder die Regierung bilden. US- Außenministerin Madeleine Albright verhandelte mit dem damaligen deutschen Außenminister Joseph Fischer in einer emotional aufgeheizten Situation (angebliche Massaker von Racak) Mitte März 1991 den "Vertrag von Rambouillet". Während drei Tage später die kosovo-albanische Delegation den von der Balkan-Kontaktgruppe ausgearbeiteten Vertragsentwurf unterzeichnete, verweigerten die Serben ihre Unterschrift, nicht wegen des Vertrags, sondern einzig und allein wegen des nicht verhandelbaren Anhangs. Darin bestimmte in Teil B Artikel 8 unmissverständlich: „Das NATO-Personal soll sich mitsamt seinen Fahrzeugen, Schiffen, Flugzeugen und Ausrüstung innerhalb der gesamten Sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien inklusive deren Luftraums und Territorialgewässer frei und ungehindert sowie ohne Zugangsbeschränkungen bewegen können.“ Obendrein sollte die NATO in allen rechtlichen Verfahren, ob zivil-, verwaltungs- oder strafrechtlich, Immunität genießen.“ (14)
Der Anhang wurde vom deutschen Außenminister Fischer dem Kabinett und dem Parlament (und damit auch der Öffentlichkeit) unterschlagen. Der damalige Finanzminister Lafontaine erfuhr davon erst viel später aus der Presse (15), ebenso wie die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen, Angelika Beer, die dann äußerte: „Hätte ich das gewusst, hätte ich dem Kriegseinsatz nicht zugestimmt.“ Rudolf Augstein urteilte: „Die USA hatten in Rambouillet militärische Bedingungen gestellt, die kein Serbe mit Schulbildung hätte unterschreiben können.“ (16)
In diesen hektischen Tagen vor Kriegsbeginn verabschiedete der US-Kongress am 19. März 1999 das "Seidenstraßen-Strategie-Gesetz", in dem Amerika seine Interessen vom Mittelmeer bis nach Zentralasien unterstreicht. Hier schienen wieder Apologeten – etwa der Geostratege Halford Mackinders oder der Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski – am Werk gewesen zu sein. In Hans-Dietrich Genschers Vorwort zum Buch "Die einzige Weltmacht" heißt es: „Will Amerika auch künftig seine Weltmachtstellung behalten, so muss es seine ganze Aufmerksamkeit diesem Gebiet ["Eurasien"] zuwenden. Hier leben 74 Prozent der Weltbevölkerung, hier liegt der größte Teil der natürlichen Weltressourcen einschließlich der Energievorräte, und hier werden 60 Prozent des Weltbruttosozialproduktes erwirtschaftet. Im Raum von Lissabon bis Wladiwostok entscheidet sich deshalb das künftige Schicksal Amerikas.“ (17)
Fünf Tage später eröffnete die NATO mit ihren Luftangriffen den – völkerrechtswidrigen – Krieg gegen "Rest-Jugoslawien". Die Vorbereitungen dafür liefen bereits seit Sommer 1998 auf Hochtouren, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Lage in Rest-Jugoslawien noch stabil war.
Ungeachtet der täglichen Luftschläge in Rest-Jugoslawien trafen sich die NATO-Mitglieder am 23. April 1999 in Washington zur Feier des 50. Gründungsjubiläums der NATO. Für die zu erweiternde NATO und die kommenden Aufgaben im 21. Jahrhundert stellte US-Präsident Clinton das neue strategische Konzept vor: Weg vom reinen Verteidigungsbündnis hin zur Krisenbewältigung im Euro-Atlantischen Raum, wobei die NATO zukünftig »im begrenzten Rahmen« ohne UN-Mandat tätig werden könne. Der ehemalige stellvertretende NATO-Oberbefehlshaber General a.D. Gerd Schmückle brachte die neuen Interventionsziele der NATO auf den Punkt: “Letzten Endes entscheiden die Interessen der Vereinigten Staaten darüber, wo interveniert wird. Alles dreht sich um die Ökonomie. Wo gibt es Öl, wo sind die zukünftigen Ölquellen?“ (18)
Der Jugoslawien-Krieg als Testlauf für eine neue NATO-Strategie, in der nun die USA unabhängig vom Sicherheitsrat die Interventionen selbständig mandatierte.
Anfang Dezember 1999 veranstaltete das "Zentrum für strategische und internationale Studien" (CSIS) in Washington eine Konferenz zum Thema "Die Geopolitik der Energie für das 21. Jahrhundert". Eine Neuauflage des "Großen Spiels" aus dem 19. Jahrhundert?
Geschickt hatte es damals England verstanden, mit Hilfe Frankreichs und Russlands dem niedergehenden Osmanischen Reich den Transkaukasus, Zentralasien und die Kaspische Senke zu entreißen. Nun eiferte Amerika – die "einzig verbliebene Weltmacht" – England nach. Die Vereinigten Staaten wollten das "Große Spiel" spielen und dabei noch die "Pax Romana" oder "Pax Britannica" übertreffen. „Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat sich die Weltlage tiefgreifend verändert. Zum ersten Mal in der Geschichte trat ein außereurasischer Staat nicht nur als der Schiedsrichter eurasischer Machtverhältnisse, sondern als die überragende Weltmacht schlechthin hervor,“ analysiert Brzezinski, um dann weiter zu folgern: „Inwieweit die USA ihre globale Vormachtstellung geltend machen können, hängt aber davon ab, wie ein weltweit engagiertes Amerika mit den komplexen Machtverhältnissen auf dem eurasischen Kontinent fertig wird – und ob es dort das Aufkommen einer dominierenden gegnerischen Macht verhindern kann.“ (19)
Europa, Amerikas unverzichtbarer geopolitischer Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent, war nach Brzezinski noch weit davon entfernt, eine gewichtige Rolle zu spielen. „Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern. Dies ist kein gesunder Zustand, weder für Amerika noch für die europäischen Nationen.“ (20) Dabei käme der Weltpolitik ein starkes und geeintes Europa zugute. „Die einzige Weltmacht ist so leicht in Gefahr, schrieb Helmut Schmidt, „mit ‚innenpolitisch motivierter Rücksichtslosigkeit ihre aktuellen Interessen durchzusetzen‘. Eine gemeinsame europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, das hat auch der Kosovo-Krieg gezeigt, ist notwendiger denn je.“ (21)
Nachdem am 10. Juni 1999 die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats verabschiedet und im Kosovo wurde eine Zivilverwaltung sowie die internationale Sicherheitspräsenz KFOR etabliert wurde, begannen die US-Streitkräfte in der Nähe von Urosevac ca. 25 km südlich von Pristina, das 3,86 Quadratkilometer große US-Camp Bondsteel aufzubauen, das größte Camp seit Ende des Vietnamkriegs. (22) Camp Bondsteel wurde zum Außenposten der USA für Operationen im Nahen Osten ausgebaut, der Grund für 99 Jahre gepachtet.
So reicht die langfristige Bedeutung dieser im Zentrum Europas liegenden Basis weit über das Kosovo mit seinen zwei Millionen Einwohnern hinaus.
Hinter den üblichen Floskeln von Freiheit und Demokratie standen handfeste wirtschaftliche und geopolitische Interessen. Diese wurden Ende April 2000 bei einer Konferenz des US-Außenministeriums zu den Themen Balkan und NATO-Osterweiterung in Bratislava unverblümt erläutert.
In seiner Funktion als Vizepräsident der OSZE-Versammlung war auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer geladen, der so alarmiert war, dass er sofort nach der Konferenz den amtierenden SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder in einem Brief (23) über die wahren Hintergründe des Jugoslawien-Kriegs und die künftigen geostrategischen Absichten der USA informierte. Unter anderem heißt es darin in den Punkten 7 und Pkt. 8: „Es gelte, bei der jetzt anstehenden NATO-Erweiterung die räumliche Situation zwischen der Ostsee und Anatolien so wieder herzustellen, wie es in der Hochzeit der römischen Ausdehnung gewesen sei. Dazu müsse Polen nach Norden und Süden mit demokratischen Staaten als Nachbarn umgeben werden, Rumänien und Bulgarien die Landesverbindung zur Türkei sicherstellen, Serbien (wohl zwecks Sicherstellung einer US-Militärpräsenz) auf Dauer aus der europäischen Entwicklung ausgeklammert werden.“ (24) Auch sollte in jedem Prozess dem Selbstbestimmungsrecht der Vorrang vor allen anderen Bestimmungen oder Regeln des Völkerrechts gegeben werden. (25) „Die Feststellung stieß nicht auf Widerspruch, nach der die NATO beim Angriff auf Rest-Jugoslawien gegen jede internationale Regel und vor allem gegen einschlägige Bestimmungen des Völkerrechts verstoßen habe“, schreibt Willy Wimmer um dann abschließend festzuhalten: „Die amerikanische Seite scheint im globalen Kontext und zur Durchsetzung ihrer Ziele bewusst und gewollt die als Ergebnis von 2 Kriegen im letzten Jahrhundert entwickelte internationale Rechtsordnung aushebeln zu wollen. Macht soll vor Recht gehen. Wo internationales Recht im Wege steht, wird es beseitigt. Als eine a?hnliche Entwicklung den damaligen Völkerbund traf, war der zweite Weltkrieg nicht mehr fern. Ein Denken, das die eigenen Interessen so absolut sieht, kann nur totalita?r genannt werden.“ (26)
Unmissverständlich hatte Altkanzler Helmut Schmidt schon am Ende der ersten Kriegswoche festgestellt: „Gegängelt von den USA, haben wir das internationale Recht und die Charta der Vereinten Nationen missachtet“. (27) Der US-Politologe und Kriegsforscher Professor Daniel Kolko schrieb nach dem Krieg im Berliner Tagesspiegel: „Für die USA ging es darum, militärische Macht zu demonstrieren und ihre Vormachtstellung in der NATO auszubauen.“ (28)
Der mit einer Lüge erzwungene Krieg ersetzte das Völkerrecht durch das "Recht der Mächtigen".
Am 24. Juli 2001 – nur 6 Monate nach seinem Amtsantritt – besuchte US-Präsident G.W. Bush Camp Bondsteel, um sich beim dort eingesetzten US-Militär zu bedanken: „Wir streben eine Welt der Toleranz und der Freiheit an. Von Kosovo nach Kaschmir, vom Mittleren Osten nach Nordirland, ist Freiheit und Toleranz das definierte Ziel für unsere Welt. Ihr Dienst setzt hier ein Beispiel für die ganze Welt.“ (29)
Inzwischen war auf den Kosovokrieg die Revolution in Jugoslawien gefolgt (Kennzeichen: geballte Faust), der sich bald weitere so genannte "Farben Revolutionen" anschlossen: 2003 die Rosen-Revolution in Georgien, 2004 die Orangene Revolution in der Ukraine, 2005 die Zedern-Revolution im Libanon, 2005 die Tulpen-Revolution in Kirgistan. Es waren keine spontanen Volksaufstände. Ihnen ging eine sorgfältige Planung vom US-Außenministerium und vom CIA voraus. Ihre Arme sind u.a. das von Reagan 1983 gegründete "National Endowment for Democracy" (NED), welches die schmutzige Arbeit der in Verruf geratenen CIA übernehmen sollte. Dazu bedienen sich die "Demokratiemacher" schlagkräftiger PR-Kampagnen im Stil Werbe- und Marketingtechniken von Weltfirmen wie Coca-Cola, Nike oder Bill Gates' Microsoft. (30)
Als Folge des Maidan-Putsches in Kiew 2014 separierten sich Teile des Donbass.
Während der so genannte "kollektive Westen" (die USA, die NATO, die EU und die G7) weiterhin behauptet, Russlands Einmarsch in die Ukraine sei ein Akt "unprovozierter Aggression" gewesen, ist die Realität eine ganz andere: Russland wurde vorgegaukelt, es gäbe eine diplomatische Lösung für die Gewalt, die nach dem von den USA unterstützten Maidan-Putsch in Kiew 2014 in der ostukrainischen Region Donbass ausgebrochen war.
Stattdessen wollten die Ukraine und ihre westlichen Partner lediglich Zeit gewinnen, bis die NATO ein ukrainisches Militär aufbauen konnte, das in der Lage wäre, den Donbass in seiner Gesamtheit zu erobern und Russland von der Krim zu vertreiben. (31)
Nach 10 Monaten Krieg droht die Ukraine zur Wüste zu werden. Ein Bild, das vor 132 Jahren – am 25. Dezember 1890 in der Weihnachtsausgabe des britischen Magazins "Truth" (Wahrheit) als illustrierte Deutung eines Traums des jungen deutschen Kaisers Wilhelm II. Gestalt angenommen hatte.
Im Bild sieht der träumende Kaiser ein verwandeltes Europa: Alle europäischen Nationen sind in Republiken verwandelt, und Russland (mit der Ukraine ohne Galizien) ist zu einer "Wüste" verkommen. Eine strahlende Jakobinermütze - die gern als Freiheits- und Unabhängigkeitssymbol verwendet wurde – hat sich über Europa erhoben. (32)
Im aktuellen britischen Wikipedia-Beitrag ist zu lesen: „Der "Traum" ist ein Alptraum, der Kaiser träumt, dass er von seinem Volk nicht respektiert wird, und erklärt dann Russland den Krieg, den er verliert, und als Folge dieses Krieges werden alle Monarchien in Europa abgeschafft“. (33)
Diese Darstellung, die suggeriert, dass Wilhelm II. Russland quasi überraschend den Krieg erklärt hat, kann verzerrender kaum sein. Auch hat Deutschland den Krieg gegen Russland nicht verloren, sondern konnte am 3. März 1918 Russland den Friedensvertrag von Brest-Litowsk diktieren. Damit wurden die Kampfhandlungen in Osteuropa beendet.
Als Folge des Krieges wurden zudem nicht alle Monarchien in Europa abgeschafft. Abgeschafft wurden die maßgeblichen Dynastien auf dem Kontinent: die Romanows, die Habsburger und die Hohenzollern.
Nachdem Zar Nikolaus II. am 30. Juli 1914 die Generalmobilmachung der russischen Armee befohlen hatte, prangten am frühen Morgen des 31. Juli an allen Straßenecken in Petersburg die Mobilmachungsanschläge. Der deutsche Botschafter Pourtales meldete diesen Schritt nach Berlin und bemühte sich nach Kräften um die Rücknahme des Mobilmachungsbefehls. Doch ohne Erfolg. Vielmehr versuchte die russische Regierung, diesen Schritt vor dem Ausland zu verschleiern. So erklärte der britische Premier Asquith am 31. Juli im Unterhaus: „Wir haben soeben, nicht aus Petersburg, sondern aus Deutschland erfahren, dass Russland eine allgemeine Mobilmachung seines Heeres und seiner Flotte verkündet hat.“ (34)
Noch am gleichen Tag verkündete das Deutsche Reich den "Zustand der drohenden Kriegsgefahr" und forderte Russland auf, die Mobilmachung seiner Armee innerhalb von 12 Stunden zu stoppen. (35)
Telegramm des Auswärtigen Amtes an die Badische Presse vom 31. Juli 1914 im 12 Uhr 10: „petersburg weicht – wiederholten – anfragen deutschlands aus . auch heute . es will nur gewehr bei fusz stehen . privater telegrammverkehr zwischen kaiser und zar trotz zunehmender kriegsspannung noch nicht (zum) abbruch gekommen“. (36)
Mit der Bitte, die von ihm aufgenommenen Vermittlungsaktivitäten zwischen Russland und Österreich-Ungarn nicht durch weitere Kriegsvorbereitungen an der östlichen Grenze zu gefährden, wandte sich Wilhelm II. an Zar Nikolaus II. Er wäre sonst zu defensiven Gegenmaßnahmen gezwungen. Diese Bitte endete mit einem letzten Appell, alle Deutschland bedrohenden Militärmaßnahmen einzustellen. (37)
Da dies nicht geschah, wurde gegen 17 Uhr des 1. August – an diesem Tag operierten bereits die ersten russischen Aufklärungseinheiten in Ostpreußen – die Mobilmachung verkündet und dann Russland die Kriegserklärung überreicht.
Ein amerikanischer Rekrut (38)
Diejenigen US-Eliten, die bisher aus allen Kriegen ihre Profite gezogen haben, sind auch in der kriegsgeschüttelten Ukraine wieder aktiv. Weihnachten 2022 steht die Menschheit, wie vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, wieder an einem Scheideweg ihrer Geschichte, und erneut bekommt der Satz von Walter Benjamin eine beklemmende Aktualität: „Dass es 'so weiter' geht, ist die Katastrophe.“ (39)
Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete „atomare Gefechtsfeld“ in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm „Schwarzbuch EU & NATO“ (2020) sowie "Die unterschätzte Macht" (2022).
Anmerkungen
1) https://www.stern.de/politik/ausland/wladimir-putin-beginnt-den-krieg-in-der-ukraine---mit-einer-luege-31652932.html
2) Seneca: Medea 2, 2, Z. 199 f. (hg. O. Zwierlein: Tragoediae incertorum auctorum Hercules Octavia, Oxford 1986, S. 123–161, hier S. 132
3) https://www.nato.int/cps/en/natohq/opinions_209984.htm
4) Ebd.
5) Eine 15-jährige kuwaitische Krankenschwester – Tochter des kuwaitischen Botschafters Saud Nasir as-Sabah in den USA – berichtete unter Tränen im kriegskritischen US-Kongress vor laufenden Kameras, wie die Soldaten der irakischen Armee Babys in Krankenhäusern aus Brutkästen rissen, auf den Boden warfen und töteten. Die Rede überzeugte. Präsident George H. W. Bush erwähnte die Geschichte in den nächsten Wochen mindestens zehn Mal.
6) https://digitallibrary.un.org/record/102245
7) John MacArthur, "Remember Nayirah, Witness for Kuwait?“, in: NYT, 6.1.1992
8) https://www.zeit.de/politik/ausland/2014-03/russland-ukraine-geschichte/seite-2
9) Gwendolyn Sasse: Die Krim – regionale Autonomie in der Ukraine Bericht des Bundesinstitut fu?r ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOst) Nr. 31/1998
10) https://de.wikipedia.org/wiki/Referendum_über_die_Unabhängigkeit_der_Ukraine#/media/Datei:Ukr_Referendum_1991_No.png
11) https://www.bundeswehr.de/de/ueber-die-bundeswehr/gedenken-tote-bundeswehr/todesfaelle-bundeswehr
12) https://orf.at/stories/3279733/
13) https://www.grin.com/document/170969
14) https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/entkommt-russland-dem-us-eu-nato-amboss/
15) Lafontaine, Oskar: Das Herz schlägt links, München 1999, S. 243
16) Zitiert aus Lafontaine 1999, S. 243
17) Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt a.M. 2001, S. 10f
18) Die Woche vom 1.4.1999
19) Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht, S. 15
20) Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft,. Frankfurt 1999, S. 92
21) Zitiert aus http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25410
22)Camp Bondsteel ist modern ausgestattet und bietet zahlreiche Annehmlichkeiten und Einrichtungen des sozialen Lebens: ein Kino, Fitness-Studios, Sportplätze, zwei Kapellen, Bars, einen Supermarkt, mehrere Fastfood-Restaurants, Computer mit Internet-Anschluss und Videospiele. Im angeschlossenen Laura-Bush-Bildungszentrum können Kurse der University of Maryland und der University of Chicago belegt werden
23) Abdruck in Effenberger, Wolfgang/Wimmer, Willy: Wiederkehr der Hasardeure – Schattenstrategen, Kriegstreiber, stille Profiteure 1914 und heute, Höhr-Grenzhausen 2014, S. 547; siehe auch Willy Wimmer: Die Akte Moskau, Höhr-Grenzhausen 2016. 7) Präsident Bill Clinton vor der US-Gewerkschaft American Federation of State, County and Municipal Employes (AFSCME): “Remarks to AFSCME Biennial Conventions, Washington, D.C. 23. März 1999
24) Abdruck in Effenberger, Wimmer a.a.O. S. 547f..
25) In der US-Realität wird dem Selbstbestimmungsrecht nur dann Geltung verschafft, wenn es den geopolitischen Zielen dient. Falls nicht – wie im Fall der Krim – wird es mit Füßen getreten.
26) Abdruck in Effenberger, Wimmer a.a.O. S. 547f.
27) Schmidt, Helmut, Frankfurter Rundschau, 3./4. April 1999
28) Kolko, Daniel: Tagesspiegel, 8. Mai 1999
29) US-Präsident George am 24. Juli 2001 im Camp Bondsteel, unter http://www.whitehouse.gov/news/releases/2001/07/20010724-1.html vom 23. Juli 2008
30) https://www.spiegel.de/politik/die-revolutions-gmbh-a-0ff5abd6-0002-0001-0000-000043103188
31) https://consortiumnews.com/2022/12/05/scott-ritter-merkel-reveals-wests-duplicity/
32) Effenberger, Wolfgang: Die unterschätzte Macht. Höhr-Grenzhausen 2020. S. 51 f.
33) https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Thruth-1890-12.jpg
34) Bülow, Bernhard W.: Die Krisis. Die Grundlinien der diplomatischen Verhandlungen bei Kriegsausbruch. Berlin 1922, S. 88, vgl. Weißbuch Nr. 576/ Nr. 518
35) https://www.dhm.de/lemo/kapitel/erster-weltkrieg/kriegsverlauf/juli-krise-1914.html
36) Effenberger, Wolfgang, Wimmer Willy: Wiederkehr der Hasardeure, Höhr-Grenzhausen 2014, S. 195
37) Stark, In Europa gehen die Lichter aus, in: Deutsche Geschichte Nr. 71 3/2004, S. 27 f.
38) American Recruit vom 27.7.1914 unter https://forms.gle/t8RrH4ev56UuHzwZ7
39) Walter Benjamin: "Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus"; Zentralpark, 1937, in: Gesammelte Schriften. 1. Band. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1991, S. 683
Online-Flyer Nr. 804 vom 30.12.2022
Beleuchtung unterschiedlicher Narrative im Ukraine-Konflikt
Die Wahrheit ist eine Frage der Perspektive
Von Wolfgang Effenberger
Im Ukraine-Konflikt stehen sich zwei Narrative diametral gegenüber: Für den Westen ist das Referendum auf der Krim vom 16. März 2014 eine völkerrechtswidrige Annexion, für Russland eine völkerrechtskonforme Sezession. Der Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 wird vom "Kollektiven Westen" als völkerrechtswidriger Angriffskrieg gesehen, der keinesfalls zufolge gezielter Provokationen Russlands ausgelöst wurde. Im Gegensatz dazu spricht Präsident Putin von der Notwendigkeit dieser "speziellen Militäroperation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine". Deren Ziel es sei, jene Menschen zu schützen, die seit acht Jahren den Schikanen und dem versuchten Völkermord durch das Kiewer Regime ausgesetzt sind. (1)
Beide Sichtweisen bilden sicherlich nur jeweils einen Teil der Wahrheit ab. Um die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen, ist es unabdingbar, dass sich alle Konfliktparteien jeweils auch mit den Sichtweisen ihrer Gegner ernsthaft auseinandersetzten und bereit sind, die unterschiedlichen Positionen nüchtern zu analysieren und versuchen, die Gründe für den nun tobenden Krieg zu verstehen. mit der Bereitschaft eines Standortwechsels zu verstehen.
Schon im römischen Reich, das alles andere als eine vorbildliche Demokratie war, galt stets als Handlungsprinzip die weise Erkenntnis des Philosophen Seneca (4 vor Chr. bis 65 nach Chr.): "Audiatur et altera pars" (2) (man höre immer auch die andere Seite an!).
Deutschland scheint allerdings auf die Anwendung des Artikels 103 / Absatz 1 im geltenden Grundgesetz bewusst zu verzichten. Dieser besagt: „Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör“.
In der gesellschaftlichen Praxis ist von diesem Handlungsprinzip offensichtlich nicht viel mehr übrig geblieben. Frieden aber ist nur auf Basis eines verantwortlichen Umgangs mit diesem Grundrecht möglich, das jegliche Parteilichkeit und Vorverurteilung ausschließt. Im Sinne einer der Menschheit dienenden Zukunft ist im gegenständlichen Fall ein objektiver Rückblick unerlässlich.
Am 7. Dezember 2022 beschrieb NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in der "Financial Times" die Entwicklung seit 2014. Demnach haben die NATO-Verbündeten – vor allem die Vereinigten Staaten, Kanada und das Vereinigte Königreich – die Ukraine über viele Jahre hinweg unterstützt, insbesondere seit 2014, so dass die ukrainischen Streitkräfte im Februar 2022 viel größer, viel stärker und viel besser ausgerüstet sind als beim ersten Einmarsch Russlands im Jahr 2014.
Diese Unterstützung der Ukraine geschah nach Stoltenberg vor der Erkenntnis, „...dass ein Sieg Putins nicht nur für die Ukrainer eine Tragödie, sondern auch für uns alle sehr ernst wäre. Es wird die NATO-Verbündeten verwundbarer und die Welt gefährlicher machen, und deshalb können wir nicht zulassen, dass Präsident Putin gewinnt.“ (3)
Vor diesem Hintergrund begann 2014 die Umgestaltung der NATO. Zugleich wurde die militärische Präsenz der NATO im östlichen Teil des Bündnisses mit Verbänden verstärkt, die eine hohe Gefechtsbereitschaft aufwiesen. Zusätzliche Truppen wurden verlegt, die Zahl der Kampfgruppen im östlichen Teil des Bündnisses verdoppelt. Stoltenberg in seiner finalen Analyse:
- „Zum ersten Mal in unserer Geschichte verfügen wir über Gefechtsverbände im östlichen Teil des Bündnisses. Wir haben Zehntausende von Truppen unter dem Kommando der NATO, die von einer bedeutenden Luft- und Seestreitmacht unterstützt werden…. Der Krieg begann nicht im 24. Februar 2022 dieses Jahres, sondern 2014. Und das Paradoxe ist, dass Präsident Putin genau das Gegenteil von dem bekommt, was er wollte. Er ist in den Krieg gezogen, um weniger NATO zu bekommen. Was er bekommen hat, ist mehr NATO. Mehr NATO-Militärpräsenz im östlichen Teil des Bündnisses, mehr NATO-Mitglieder, Finnland und Schweden treten der NATO als unmittelbare Folge von Russlands brutalem Krieg bei, und die Aufnahme Finnlands in die NATO bedeutet, dass wir die Grenze zu Russland verdoppeln. Präsident Putin hat also große Fehler gemacht, strategische Fehler, als er in die Ukraine einmarschierte, und das spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass er tatsächlich mehr NATO und NATO-Unterstützer bekommt.“ (4)
Mit diesem 1. Golfkrieg (2. Irakkrieg) war erkennbar, dass nun die USA nicht mehr auf ihren früheren Gegenspieler Sowjetunion Rücksicht nehmen mussten. Eine Friedensdividende war nach Ende der Kalten Kriegs nicht zu erwarten. Den Vereinigten Staaten von Amerika ging es nun darum, eine unipolare Weltmacht zu werden.
Am 20. Januar 1991 fand in der Oblast Krim der Ukrainischen Sozialistischen Sowjet-Republik (SSR) ein Referendum über die Souveränität statt. Es ging um die Wiederherstellung der Autonomen Sozialistischen Sowjet-Republik Krim, die 1945 ein Oblast der Russischen SSR und dann am 5. Februar 1954 durch Parteichef Nikita Chruschtschow, der selbst aus der Ukraine stammte, anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der Russisch-Ukrainischen Einheit an die Ukraine übergeben wurde. (8) Die Krim blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Ihre ethnische Zusammensetzung – die Krim ist die einzige Region der Ukraine mit einer russischen Bevölkerungsmehrheit und einer krimtatarischen Minderheit – und ihre besondere geopolitische Lage, erweckte zu allen Zeiten spezifische Appetenzen. 1783 folgte auf das krimtatarische Khanat die Zugehörigkeit zum Russischen Reich und 1954 der Transfer an die Ukrainische SSR. Die Krim ist die einzige Region innerhalb der Ukraine, die einen verfassungsmäßig garantierten Autonomie-Status erhielt. Noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist Anfang 1991 eine autonome Krim-SSR (Krim.ASSR) errichtet worden, die ab 1992 als "Autonome Republik der Krim" den postsowjetischen Gegebenheiten angepasst wurde. (9)
Zehn Monate nach dem Referendum auf der Krim erreichte am 1. Dezember 1991 dann das Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine eine deutliche Mehrheit von 90,3 Prozent, wobei 39,4 Prozent von Sewastopol und 42,2 Prozent der Autonomen Republik Krim mit NEIN stimmten. (10) Am 17.03. 1995 wurde die Krim-Verfassung durch Kiew abgeschafft und die Krim-Regierung gestürzt.
Am 8. Dezember 1991 gründete sich als Nachfolger der Sowjetunion die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) als lockerer Arbeitsverbund einiger ehemaliger Sowjetrepubliken. Die Ukraine beteiligte sich zunächst daran, zog sich aber nach der erfolgreichen ersten Orangenen Revolution Ende 2004 weitgehend daraus zurück.
Am 25. Juni 1991 erklärten die jugoslawischen Teilrepubliken Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeit. Zwei Tage später brach der Bürgerkrieg aus. Im Herbst folgten die jugoslawischen Teilrepubliken Makedonien und Bosnien-Herzegowina – letztere gegen den Protest der serbischen Bevölkerungsminderheit. Der UN-Sicherheitsrat sah sich nun veranlasst, gegen das von bürgerkriegsähnlichen Kämpfen erschütterte Jugoslawien ein Waffenembargo zu verhängen. Die völkerrechtliche Anerkennung der nun souveränen jugoslawischen Teilrepubliken erfolgte seitens der EU zum 15. Januar 1992, wobei die Wirtschaftssanktionen gegen die jugoslawischen Teilrepubliken Serbien und Montenegro weiterhin aufrecht blieben.
Inzwischen hatte sich der Warschauer Pakt aufgelöst und Jugoslawien – bis dahin von den USA finanziell unterstützt – dadurch seine für die NATO strategische Rolle verloren. So wundert es nicht, dass der US-Kongress 1990 das "Foreign Operations Approbiaton Law 101-513" (Gesetz über die Bewilligung von Mitteln an das Ausland für 1991) verabschiedete, in dem die Mittel für Jugoslawien drastisch gekürzt wurden. Die New York Times zitierte am 27. November 1990 einen CIA-Bericht, der voraussagte, dass dieses Gesetz einen blutigen Bürgerkrieg auslösen würde. Nun musste auch die Deutsche Bundeswehr für Auslandseinsätze fit gemacht werden.
1993 wurde sie in Somalia (UNOSOM United Nations Operation in Somalia) II eingesetzt. Es war der Beginn des ersten bewaffneten Auslandseinsatzes der Bundeswehr – wenn auch ohne Kampfauftrag. Die sich damals in der Opposition befindende Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), war der Meinung, dass ein solcher bewaffneter Auslandseinsatz ohne Grundgesetz-Änderung gar nicht zulässig war und rief das Bundesverfassungsgericht an. Ein Jahr später gab das Verfassungsgericht grünes Licht für Auslandseinsätze.
Aktuelle Einsatzgebiete der Bundeswehr, Stand November 2022 (zum Vergrößern hier klicken)
Von 2002-2021 dienten in Afghanistan rund 93.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten. Kriegsgrund für George W. Bush war (nur 27 Tage nach dem Terroranschlag auf die Twin-Tower) die angeblich fehlende Bereitschaft der Taliban-Regierung, den im afghanischen Asyl befindlichen Osama bin Laden unverzüglich an die USA auszuliefern.
Der Afghanistan-Einsatz war der bislang folgenschwerste Einsatz der Bundeswehr: viele Verwundete und auch 59 Tote waren zu beklagen. (11)
Am 3. August 1995 startete eine der größten und blutigsten Offensiven während des schon vier Jahre andauernden Bürgerkriegs In Jugoslawien. Die von den USA unterstützte kroatische Armee griff mit dem Ziel an, die mehrheitlich von Serben bewohnte Krajina ethnisch zu säubern. Nach vorausgegangenem NATO-Bombardement brachten die Kroaten die Krajina in ihre Gewalt und lösten damit die größte Flüchtlingswelle auf dem Balkan seit dem Zerfall Jugoslawiens aus. Annähernd 200.000 Krajina-Serben wurden aus ihren Heimstätten vertrieben. (12)
Schon nach dem zweiten Kampftag fallen dem "London Independent" Parallelen in der Operationsanlage auf: „... sind die Wiederbewaffnung und Ausbildung der kroatischen Streitkräfte, die zur Vorbereitung der laufenden Offensive durchgeführt worden waren, Teil eines typischen CIA-Einsatzes? (wahrscheinlich des weitreichendste Einsatz dieser Art seit dem Ende des Vietnamkrieges)“ (13)
Im Herbst 1998 konnte eine rot-grüne Mehrheit unter Gerhard Schröder die Regierung bilden. US- Außenministerin Madeleine Albright verhandelte mit dem damaligen deutschen Außenminister Joseph Fischer in einer emotional aufgeheizten Situation (angebliche Massaker von Racak) Mitte März 1991 den "Vertrag von Rambouillet". Während drei Tage später die kosovo-albanische Delegation den von der Balkan-Kontaktgruppe ausgearbeiteten Vertragsentwurf unterzeichnete, verweigerten die Serben ihre Unterschrift, nicht wegen des Vertrags, sondern einzig und allein wegen des nicht verhandelbaren Anhangs. Darin bestimmte in Teil B Artikel 8 unmissverständlich: „Das NATO-Personal soll sich mitsamt seinen Fahrzeugen, Schiffen, Flugzeugen und Ausrüstung innerhalb der gesamten Sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien inklusive deren Luftraums und Territorialgewässer frei und ungehindert sowie ohne Zugangsbeschränkungen bewegen können.“ Obendrein sollte die NATO in allen rechtlichen Verfahren, ob zivil-, verwaltungs- oder strafrechtlich, Immunität genießen.“ (14)
Der Anhang wurde vom deutschen Außenminister Fischer dem Kabinett und dem Parlament (und damit auch der Öffentlichkeit) unterschlagen. Der damalige Finanzminister Lafontaine erfuhr davon erst viel später aus der Presse (15), ebenso wie die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen, Angelika Beer, die dann äußerte: „Hätte ich das gewusst, hätte ich dem Kriegseinsatz nicht zugestimmt.“ Rudolf Augstein urteilte: „Die USA hatten in Rambouillet militärische Bedingungen gestellt, die kein Serbe mit Schulbildung hätte unterschreiben können.“ (16)
In diesen hektischen Tagen vor Kriegsbeginn verabschiedete der US-Kongress am 19. März 1999 das "Seidenstraßen-Strategie-Gesetz", in dem Amerika seine Interessen vom Mittelmeer bis nach Zentralasien unterstreicht. Hier schienen wieder Apologeten – etwa der Geostratege Halford Mackinders oder der Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski – am Werk gewesen zu sein. In Hans-Dietrich Genschers Vorwort zum Buch "Die einzige Weltmacht" heißt es: „Will Amerika auch künftig seine Weltmachtstellung behalten, so muss es seine ganze Aufmerksamkeit diesem Gebiet ["Eurasien"] zuwenden. Hier leben 74 Prozent der Weltbevölkerung, hier liegt der größte Teil der natürlichen Weltressourcen einschließlich der Energievorräte, und hier werden 60 Prozent des Weltbruttosozialproduktes erwirtschaftet. Im Raum von Lissabon bis Wladiwostok entscheidet sich deshalb das künftige Schicksal Amerikas.“ (17)
Fünf Tage später eröffnete die NATO mit ihren Luftangriffen den – völkerrechtswidrigen – Krieg gegen "Rest-Jugoslawien". Die Vorbereitungen dafür liefen bereits seit Sommer 1998 auf Hochtouren, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Lage in Rest-Jugoslawien noch stabil war.
Ungeachtet der täglichen Luftschläge in Rest-Jugoslawien trafen sich die NATO-Mitglieder am 23. April 1999 in Washington zur Feier des 50. Gründungsjubiläums der NATO. Für die zu erweiternde NATO und die kommenden Aufgaben im 21. Jahrhundert stellte US-Präsident Clinton das neue strategische Konzept vor: Weg vom reinen Verteidigungsbündnis hin zur Krisenbewältigung im Euro-Atlantischen Raum, wobei die NATO zukünftig »im begrenzten Rahmen« ohne UN-Mandat tätig werden könne. Der ehemalige stellvertretende NATO-Oberbefehlshaber General a.D. Gerd Schmückle brachte die neuen Interventionsziele der NATO auf den Punkt: “Letzten Endes entscheiden die Interessen der Vereinigten Staaten darüber, wo interveniert wird. Alles dreht sich um die Ökonomie. Wo gibt es Öl, wo sind die zukünftigen Ölquellen?“ (18)
Der Jugoslawien-Krieg als Testlauf für eine neue NATO-Strategie, in der nun die USA unabhängig vom Sicherheitsrat die Interventionen selbständig mandatierte.
Anfang Dezember 1999 veranstaltete das "Zentrum für strategische und internationale Studien" (CSIS) in Washington eine Konferenz zum Thema "Die Geopolitik der Energie für das 21. Jahrhundert". Eine Neuauflage des "Großen Spiels" aus dem 19. Jahrhundert?
Geschickt hatte es damals England verstanden, mit Hilfe Frankreichs und Russlands dem niedergehenden Osmanischen Reich den Transkaukasus, Zentralasien und die Kaspische Senke zu entreißen. Nun eiferte Amerika – die "einzig verbliebene Weltmacht" – England nach. Die Vereinigten Staaten wollten das "Große Spiel" spielen und dabei noch die "Pax Romana" oder "Pax Britannica" übertreffen. „Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat sich die Weltlage tiefgreifend verändert. Zum ersten Mal in der Geschichte trat ein außereurasischer Staat nicht nur als der Schiedsrichter eurasischer Machtverhältnisse, sondern als die überragende Weltmacht schlechthin hervor,“ analysiert Brzezinski, um dann weiter zu folgern: „Inwieweit die USA ihre globale Vormachtstellung geltend machen können, hängt aber davon ab, wie ein weltweit engagiertes Amerika mit den komplexen Machtverhältnissen auf dem eurasischen Kontinent fertig wird – und ob es dort das Aufkommen einer dominierenden gegnerischen Macht verhindern kann.“ (19)
Europa, Amerikas unverzichtbarer geopolitischer Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent, war nach Brzezinski noch weit davon entfernt, eine gewichtige Rolle zu spielen. „Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern. Dies ist kein gesunder Zustand, weder für Amerika noch für die europäischen Nationen.“ (20) Dabei käme der Weltpolitik ein starkes und geeintes Europa zugute. „Die einzige Weltmacht ist so leicht in Gefahr, schrieb Helmut Schmidt, „mit ‚innenpolitisch motivierter Rücksichtslosigkeit ihre aktuellen Interessen durchzusetzen‘. Eine gemeinsame europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, das hat auch der Kosovo-Krieg gezeigt, ist notwendiger denn je.“ (21)
Nachdem am 10. Juni 1999 die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats verabschiedet und im Kosovo wurde eine Zivilverwaltung sowie die internationale Sicherheitspräsenz KFOR etabliert wurde, begannen die US-Streitkräfte in der Nähe von Urosevac ca. 25 km südlich von Pristina, das 3,86 Quadratkilometer große US-Camp Bondsteel aufzubauen, das größte Camp seit Ende des Vietnamkriegs. (22) Camp Bondsteel wurde zum Außenposten der USA für Operationen im Nahen Osten ausgebaut, der Grund für 99 Jahre gepachtet.
So reicht die langfristige Bedeutung dieser im Zentrum Europas liegenden Basis weit über das Kosovo mit seinen zwei Millionen Einwohnern hinaus.
Hinter den üblichen Floskeln von Freiheit und Demokratie standen handfeste wirtschaftliche und geopolitische Interessen. Diese wurden Ende April 2000 bei einer Konferenz des US-Außenministeriums zu den Themen Balkan und NATO-Osterweiterung in Bratislava unverblümt erläutert.
In seiner Funktion als Vizepräsident der OSZE-Versammlung war auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer geladen, der so alarmiert war, dass er sofort nach der Konferenz den amtierenden SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder in einem Brief (23) über die wahren Hintergründe des Jugoslawien-Kriegs und die künftigen geostrategischen Absichten der USA informierte. Unter anderem heißt es darin in den Punkten 7 und Pkt. 8: „Es gelte, bei der jetzt anstehenden NATO-Erweiterung die räumliche Situation zwischen der Ostsee und Anatolien so wieder herzustellen, wie es in der Hochzeit der römischen Ausdehnung gewesen sei. Dazu müsse Polen nach Norden und Süden mit demokratischen Staaten als Nachbarn umgeben werden, Rumänien und Bulgarien die Landesverbindung zur Türkei sicherstellen, Serbien (wohl zwecks Sicherstellung einer US-Militärpräsenz) auf Dauer aus der europäischen Entwicklung ausgeklammert werden.“ (24) Auch sollte in jedem Prozess dem Selbstbestimmungsrecht der Vorrang vor allen anderen Bestimmungen oder Regeln des Völkerrechts gegeben werden. (25) „Die Feststellung stieß nicht auf Widerspruch, nach der die NATO beim Angriff auf Rest-Jugoslawien gegen jede internationale Regel und vor allem gegen einschlägige Bestimmungen des Völkerrechts verstoßen habe“, schreibt Willy Wimmer um dann abschließend festzuhalten: „Die amerikanische Seite scheint im globalen Kontext und zur Durchsetzung ihrer Ziele bewusst und gewollt die als Ergebnis von 2 Kriegen im letzten Jahrhundert entwickelte internationale Rechtsordnung aushebeln zu wollen. Macht soll vor Recht gehen. Wo internationales Recht im Wege steht, wird es beseitigt. Als eine a?hnliche Entwicklung den damaligen Völkerbund traf, war der zweite Weltkrieg nicht mehr fern. Ein Denken, das die eigenen Interessen so absolut sieht, kann nur totalita?r genannt werden.“ (26)
Unmissverständlich hatte Altkanzler Helmut Schmidt schon am Ende der ersten Kriegswoche festgestellt: „Gegängelt von den USA, haben wir das internationale Recht und die Charta der Vereinten Nationen missachtet“. (27) Der US-Politologe und Kriegsforscher Professor Daniel Kolko schrieb nach dem Krieg im Berliner Tagesspiegel: „Für die USA ging es darum, militärische Macht zu demonstrieren und ihre Vormachtstellung in der NATO auszubauen.“ (28)
Der mit einer Lüge erzwungene Krieg ersetzte das Völkerrecht durch das "Recht der Mächtigen".
Am 24. Juli 2001 – nur 6 Monate nach seinem Amtsantritt – besuchte US-Präsident G.W. Bush Camp Bondsteel, um sich beim dort eingesetzten US-Militär zu bedanken: „Wir streben eine Welt der Toleranz und der Freiheit an. Von Kosovo nach Kaschmir, vom Mittleren Osten nach Nordirland, ist Freiheit und Toleranz das definierte Ziel für unsere Welt. Ihr Dienst setzt hier ein Beispiel für die ganze Welt.“ (29)
Inzwischen war auf den Kosovokrieg die Revolution in Jugoslawien gefolgt (Kennzeichen: geballte Faust), der sich bald weitere so genannte "Farben Revolutionen" anschlossen: 2003 die Rosen-Revolution in Georgien, 2004 die Orangene Revolution in der Ukraine, 2005 die Zedern-Revolution im Libanon, 2005 die Tulpen-Revolution in Kirgistan. Es waren keine spontanen Volksaufstände. Ihnen ging eine sorgfältige Planung vom US-Außenministerium und vom CIA voraus. Ihre Arme sind u.a. das von Reagan 1983 gegründete "National Endowment for Democracy" (NED), welches die schmutzige Arbeit der in Verruf geratenen CIA übernehmen sollte. Dazu bedienen sich die "Demokratiemacher" schlagkräftiger PR-Kampagnen im Stil Werbe- und Marketingtechniken von Weltfirmen wie Coca-Cola, Nike oder Bill Gates' Microsoft. (30)
Als Folge des Maidan-Putsches in Kiew 2014 separierten sich Teile des Donbass.
Während der so genannte "kollektive Westen" (die USA, die NATO, die EU und die G7) weiterhin behauptet, Russlands Einmarsch in die Ukraine sei ein Akt "unprovozierter Aggression" gewesen, ist die Realität eine ganz andere: Russland wurde vorgegaukelt, es gäbe eine diplomatische Lösung für die Gewalt, die nach dem von den USA unterstützten Maidan-Putsch in Kiew 2014 in der ostukrainischen Region Donbass ausgebrochen war.
Stattdessen wollten die Ukraine und ihre westlichen Partner lediglich Zeit gewinnen, bis die NATO ein ukrainisches Militär aufbauen konnte, das in der Lage wäre, den Donbass in seiner Gesamtheit zu erobern und Russland von der Krim zu vertreiben. (31)
Nach 10 Monaten Krieg droht die Ukraine zur Wüste zu werden. Ein Bild, das vor 132 Jahren – am 25. Dezember 1890 in der Weihnachtsausgabe des britischen Magazins "Truth" (Wahrheit) als illustrierte Deutung eines Traums des jungen deutschen Kaisers Wilhelm II. Gestalt angenommen hatte.
Im Bild sieht der träumende Kaiser ein verwandeltes Europa: Alle europäischen Nationen sind in Republiken verwandelt, und Russland (mit der Ukraine ohne Galizien) ist zu einer "Wüste" verkommen. Eine strahlende Jakobinermütze - die gern als Freiheits- und Unabhängigkeitssymbol verwendet wurde – hat sich über Europa erhoben. (32)
Im aktuellen britischen Wikipedia-Beitrag ist zu lesen: „Der "Traum" ist ein Alptraum, der Kaiser träumt, dass er von seinem Volk nicht respektiert wird, und erklärt dann Russland den Krieg, den er verliert, und als Folge dieses Krieges werden alle Monarchien in Europa abgeschafft“. (33)
Diese Darstellung, die suggeriert, dass Wilhelm II. Russland quasi überraschend den Krieg erklärt hat, kann verzerrender kaum sein. Auch hat Deutschland den Krieg gegen Russland nicht verloren, sondern konnte am 3. März 1918 Russland den Friedensvertrag von Brest-Litowsk diktieren. Damit wurden die Kampfhandlungen in Osteuropa beendet.
Als Folge des Krieges wurden zudem nicht alle Monarchien in Europa abgeschafft. Abgeschafft wurden die maßgeblichen Dynastien auf dem Kontinent: die Romanows, die Habsburger und die Hohenzollern.
Nachdem Zar Nikolaus II. am 30. Juli 1914 die Generalmobilmachung der russischen Armee befohlen hatte, prangten am frühen Morgen des 31. Juli an allen Straßenecken in Petersburg die Mobilmachungsanschläge. Der deutsche Botschafter Pourtales meldete diesen Schritt nach Berlin und bemühte sich nach Kräften um die Rücknahme des Mobilmachungsbefehls. Doch ohne Erfolg. Vielmehr versuchte die russische Regierung, diesen Schritt vor dem Ausland zu verschleiern. So erklärte der britische Premier Asquith am 31. Juli im Unterhaus: „Wir haben soeben, nicht aus Petersburg, sondern aus Deutschland erfahren, dass Russland eine allgemeine Mobilmachung seines Heeres und seiner Flotte verkündet hat.“ (34)
Noch am gleichen Tag verkündete das Deutsche Reich den "Zustand der drohenden Kriegsgefahr" und forderte Russland auf, die Mobilmachung seiner Armee innerhalb von 12 Stunden zu stoppen. (35)
Telegramm des Auswärtigen Amtes an die Badische Presse vom 31. Juli 1914 im 12 Uhr 10: „petersburg weicht – wiederholten – anfragen deutschlands aus . auch heute . es will nur gewehr bei fusz stehen . privater telegrammverkehr zwischen kaiser und zar trotz zunehmender kriegsspannung noch nicht (zum) abbruch gekommen“. (36)
Mit der Bitte, die von ihm aufgenommenen Vermittlungsaktivitäten zwischen Russland und Österreich-Ungarn nicht durch weitere Kriegsvorbereitungen an der östlichen Grenze zu gefährden, wandte sich Wilhelm II. an Zar Nikolaus II. Er wäre sonst zu defensiven Gegenmaßnahmen gezwungen. Diese Bitte endete mit einem letzten Appell, alle Deutschland bedrohenden Militärmaßnahmen einzustellen. (37)
Da dies nicht geschah, wurde gegen 17 Uhr des 1. August – an diesem Tag operierten bereits die ersten russischen Aufklärungseinheiten in Ostpreußen – die Mobilmachung verkündet und dann Russland die Kriegserklärung überreicht.
Ein amerikanischer Rekrut (38)
Diejenigen US-Eliten, die bisher aus allen Kriegen ihre Profite gezogen haben, sind auch in der kriegsgeschüttelten Ukraine wieder aktiv. Weihnachten 2022 steht die Menschheit, wie vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, wieder an einem Scheideweg ihrer Geschichte, und erneut bekommt der Satz von Walter Benjamin eine beklemmende Aktualität: „Dass es 'so weiter' geht, ist die Katastrophe.“ (39)
Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete „atomare Gefechtsfeld“ in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm „Schwarzbuch EU & NATO“ (2020) sowie "Die unterschätzte Macht" (2022).
Anmerkungen
1) https://www.stern.de/politik/ausland/wladimir-putin-beginnt-den-krieg-in-der-ukraine---mit-einer-luege-31652932.html
2) Seneca: Medea 2, 2, Z. 199 f. (hg. O. Zwierlein: Tragoediae incertorum auctorum Hercules Octavia, Oxford 1986, S. 123–161, hier S. 132
3) https://www.nato.int/cps/en/natohq/opinions_209984.htm
4) Ebd.
5) Eine 15-jährige kuwaitische Krankenschwester – Tochter des kuwaitischen Botschafters Saud Nasir as-Sabah in den USA – berichtete unter Tränen im kriegskritischen US-Kongress vor laufenden Kameras, wie die Soldaten der irakischen Armee Babys in Krankenhäusern aus Brutkästen rissen, auf den Boden warfen und töteten. Die Rede überzeugte. Präsident George H. W. Bush erwähnte die Geschichte in den nächsten Wochen mindestens zehn Mal.
6) https://digitallibrary.un.org/record/102245
7) John MacArthur, "Remember Nayirah, Witness for Kuwait?“, in: NYT, 6.1.1992
8) https://www.zeit.de/politik/ausland/2014-03/russland-ukraine-geschichte/seite-2
9) Gwendolyn Sasse: Die Krim – regionale Autonomie in der Ukraine Bericht des Bundesinstitut fu?r ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOst) Nr. 31/1998
10) https://de.wikipedia.org/wiki/Referendum_über_die_Unabhängigkeit_der_Ukraine#/media/Datei:Ukr_Referendum_1991_No.png
11) https://www.bundeswehr.de/de/ueber-die-bundeswehr/gedenken-tote-bundeswehr/todesfaelle-bundeswehr
12) https://orf.at/stories/3279733/
13) https://www.grin.com/document/170969
14) https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/entkommt-russland-dem-us-eu-nato-amboss/
15) Lafontaine, Oskar: Das Herz schlägt links, München 1999, S. 243
16) Zitiert aus Lafontaine 1999, S. 243
17) Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt a.M. 2001, S. 10f
18) Die Woche vom 1.4.1999
19) Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht, S. 15
20) Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft,. Frankfurt 1999, S. 92
21) Zitiert aus http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25410
22)Camp Bondsteel ist modern ausgestattet und bietet zahlreiche Annehmlichkeiten und Einrichtungen des sozialen Lebens: ein Kino, Fitness-Studios, Sportplätze, zwei Kapellen, Bars, einen Supermarkt, mehrere Fastfood-Restaurants, Computer mit Internet-Anschluss und Videospiele. Im angeschlossenen Laura-Bush-Bildungszentrum können Kurse der University of Maryland und der University of Chicago belegt werden
23) Abdruck in Effenberger, Wolfgang/Wimmer, Willy: Wiederkehr der Hasardeure – Schattenstrategen, Kriegstreiber, stille Profiteure 1914 und heute, Höhr-Grenzhausen 2014, S. 547; siehe auch Willy Wimmer: Die Akte Moskau, Höhr-Grenzhausen 2016. 7) Präsident Bill Clinton vor der US-Gewerkschaft American Federation of State, County and Municipal Employes (AFSCME): “Remarks to AFSCME Biennial Conventions, Washington, D.C. 23. März 1999
24) Abdruck in Effenberger, Wimmer a.a.O. S. 547f..
25) In der US-Realität wird dem Selbstbestimmungsrecht nur dann Geltung verschafft, wenn es den geopolitischen Zielen dient. Falls nicht – wie im Fall der Krim – wird es mit Füßen getreten.
26) Abdruck in Effenberger, Wimmer a.a.O. S. 547f.
27) Schmidt, Helmut, Frankfurter Rundschau, 3./4. April 1999
28) Kolko, Daniel: Tagesspiegel, 8. Mai 1999
29) US-Präsident George am 24. Juli 2001 im Camp Bondsteel, unter http://www.whitehouse.gov/news/releases/2001/07/20010724-1.html vom 23. Juli 2008
30) https://www.spiegel.de/politik/die-revolutions-gmbh-a-0ff5abd6-0002-0001-0000-000043103188
31) https://consortiumnews.com/2022/12/05/scott-ritter-merkel-reveals-wests-duplicity/
32) Effenberger, Wolfgang: Die unterschätzte Macht. Höhr-Grenzhausen 2020. S. 51 f.
33) https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Thruth-1890-12.jpg
34) Bülow, Bernhard W.: Die Krisis. Die Grundlinien der diplomatischen Verhandlungen bei Kriegsausbruch. Berlin 1922, S. 88, vgl. Weißbuch Nr. 576/ Nr. 518
35) https://www.dhm.de/lemo/kapitel/erster-weltkrieg/kriegsverlauf/juli-krise-1914.html
36) Effenberger, Wolfgang, Wimmer Willy: Wiederkehr der Hasardeure, Höhr-Grenzhausen 2014, S. 195
37) Stark, In Europa gehen die Lichter aus, in: Deutsche Geschichte Nr. 71 3/2004, S. 27 f.
38) American Recruit vom 27.7.1914 unter https://forms.gle/t8RrH4ev56UuHzwZ7
39) Walter Benjamin: "Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus"; Zentralpark, 1937, in: Gesammelte Schriften. 1. Band. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Suhrkamp, Frankfurt am Main: 1991, S. 683
Online-Flyer Nr. 804 vom 30.12.2022