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Mussolinis "Marsch" auf Rom
Von Hermann Ploppa
Heute geht es um Benito Mussolinis Marsch auf Rom. Vor nunmehr einhundert Jahren marschierten faschistische Schlägerbanden in die italienische Hauptstadt. Das war der Ausgangspunkt für immerhin dreiundzwanzig Jahre Diktatur in dem Land, wo Zitronenbäume blühen. Mussolinis Schreckensherrschaft gilt als der Prototyp der faschistischen Regierungsform. Uns interessiert die Frage: wer steckte hinter Mussolinis gut durchgestyltem Faschismus? Wer waren die Förderer? Und wie konnte es kommen, dass Mussolini mit relativ bescheidenen Mitteln so leicht die Macht ergreifen konnte? Begeben wir uns also in das Italien des ersten Viertels des Zwanzigsten Jahrhunderts.
Benito Mussolini (Foto: gemeinfrei)
Benito Amilcare Andrea Mussolini wurde im Jahre 1883 in Norditalien geboren. Er wandte sich schon in jungen Jahren der sozialistischen Bewegung zu. Nach allerlei journalistischen Versuchen wurde Mussolini Chefredakteur der sozialistischen Tageszeitung avanti!, also zu deutsch: Vorwärts! Wie das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokraten. Mussolini macht seine Sache so gut, dass die Auflage von avanti! rasch ansteigt. Als der Erste Weltkrieg beginnt, scheiden sich die Geister. Die Mehrheit der italienischen Sozialisten sprach sich gegen diesen Krieg aus. Mussolini gehört jedoch zu einer kleinen Minderheit in der Sozialistischen Partei, die sich für einen Kriegseintritt auf der Seite von Großbritannien und Frankreich ausspricht. Mussolini wird als Chefredakteur von avanti! entlassen und danach auch gleich aus der Sozialistischen Partei Italiens ausgeschlossen. Daraufhin gründet Mussolini eine neue Tageszeitung mit Namen Popolo d’Italia und rührt hier energisch die Werbetrommel für den italienischen Kriegseintritt. Mussolinis neue Zeitung wird massiv von italienischen Rüstungsindustriellen sowie von den Geheimdiensten Frankreichs und Großbritanniens finanziert. So nimmt es auch nicht wunder, dass Mussolini und seine Zeitung auch der Knotenpunkt einer neuen synthetischen Bewegung werden, die den Kriegswillen dieser interessierten Kreise auch mit dem Knüppel und bei Bedarf mit Pistolen durchdrücken will.
Die italienische Bevölkerung stemmte sich in ihrer großen Mehrheit gegen eine Kriegsbeteiligung, auf welcher Seite auch immer. Und wir können hier exemplarisch studieren, wie im Zusammenspiel von Regierung und Presse durch die Fabrikation einer „öffentlichen Meinung“ das Ruder herumgerissen wird. Die italienische Regierung half mit beim Aufbau einer kriegsfreudigen Presse. Diese kriegsfreudige Presse setzt nunmehr scheinbar die Regierung mit ihren martialischen Forderungen unter Druck. Und die Regierung bedauert scheinheilig vor der real existierenden Mehrheit, dass sie auf massiven Druck der „öffentlichen Meinung“ ihre Politik ändern müsse. Die so genannte „öffentliche Meinung“ ist fast immer das Kunstprodukt dieses geschickten Spiels über Bande zwischen Regierung, Konzernen und Medien. Und falls dieses Spiel über Bande nicht einwandfrei funktioniert, dann muss allerdings handgreiflich nachgeholfen werden. Das ist heute nicht anders als damals. Wenn heutzutage Demonstranten einfach zu zahlreich werden und zu viel Druck aufbauen und den Nimbus der Unbesiegbarkeit des Herrschaftssystems ernsthaft in Gefahr bringen, dann schickt die Fassadendemokratie nicht reguläre Polizeieinheiten, sondern die gefürchteten „Robocops“. Schwarze Schläger, komplett unkenntlich gemacht durch astronautische Ritter-Rüstungen. Dann ist Ruhe im Karton.
So weit darf es aber gar nicht kommen. Das ist nämlich schon eine soziale Bankrotterklärung. Besser ist es, wenn scheinbar von der Staatsmacht unabhängige Bürgerwehren ihrer Empörung über Pazifisten, Umweltaktivisten oder sonstige Konzerngegner durch handgreiflichen Terror Ausdruck verleihen. Und so war es auch schon im Italien des Jahres 1915. Erste organisierte Schlägerbanden schüchterten die Kriegsgegner ein. Die Idee, den Staat als sichtbaren Regisseur der Repression aus der Wahrnehmung herauszunehmen und gedungene, scheinbar staatsferne Schläger vorzuschicken, stammt vom zaristischen Geheimdienst Ochrana in Russland. Der Reformstau durch die Zaren führte zu immer stärker anschwellenden sozialen Protesten. Die Ochrana engagierte frustrierte Kleinbürger und erzählte den Leuten, Schuld an allem Übel dieser Welt seien die Juden. Die als so genannte Schwarzhunderter berüchtigten Mörderbanden veranstalteten furchtbare Pogrome in russischen Juden-Ghettos. In Italien waren derart groß angelegte Terrorkommandos am Anfang des Kriegseintritts noch nicht erforderlich.
Die Lage änderte sich jedoch schlagartig, als im Jahre 1917 die deutschen Generäle Hindenburg und Ludendorff, die de facto als Militärregenten herrschten, den bolschewistischen Agitator Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, im plombierten Zug, ausgestattet mit sehr viel Geld, von Zürich nach Petrograd beförderten <1>. Die Zaren waren bereits gestürzt. Aber die liberale Regierung unter Kerenskij unternahm nichts, um Russland aus dem Kriegsgeschehen herauszuziehen. Lenin und seine Mitstreiter ergriffen die Macht. Das änderte alles. Russland beendete den Krieg gegen Deutschland. Die Entente war nun massiv geschwächt und befand sich in der Defensive. Außerdem veröffentlichte Leo Trotzki bislang unbekannte Geheimverträge, die die Kombattanten der Entente-Mächte mit Italien abgeschlossen hatten <2>. Plötzlich erfuhr die Weltöffentlichkeit, dass die Entente-Staaten sich keineswegs in einem Abwehrkampf gegen die angeblich kriegslüsternen Achsenmächte Deutschland, Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich zusammengefunden hatten. Vielmehr waren sie in diesen Krieg gezogen, um die Beute-Filetstücke der Achsenmächte zu tranchieren und diese sodann freundschaftlich untereinander aufzuteilen. Und so erfuhr die Öffentlichkeit dann auch, dass Italien im so genannten Vertrag von London, unterzeichnet am 26. April 1915 dortselbst, von den Briten beträchtliche territoriale Zugewinne versprochen bekam. Italien sollte das mehrheitlich von deutschsprachigen Bürgern bewohnte Südtirol erhalten. Weiterhin aus dem Osmanischen Reich die Regionen Antalya, Konya und Smyrna; dann die ägäische Inselgruppe der Dodekanes; auf dem Balkan die Gebiete Dalmatien, Triest und Istrien. Dazu einen Teil der deutschen Kolonien in Afrika. In Afrika sollte Italien die bereits von ihnen besetzten Gebiete in Libyen behalten können. Zusätzlich schenkten die Engländer den Italienern großzügig auch noch Äthiopien, das bislang noch nicht unter das Joch des Kolonialismus geraten war. Zudem sollte Italien für Albanien in der Außenpolitik den Vormund abgeben.
Als dieses perverse Geschacher bekannt wurde, ging eine Welle der Empörung durch die Völker der westlichen Welt. Die französischen Rekruten verließen ihre Schützengräben und gingen nach hause, um endlich ihre Felder zu bestellen. Die Kriegsunlust erreichte solche Ausmaße, dass der Krieg kaum noch weitergeführt werden konnte. Auch die Italiener, die eigentlich auch nur von einer verlorenen Schlacht zur nächsten verlorenen Schlacht taumelten, mussten jetzt wieder zur Schlachtbank getragen werden. Keine Frage, dass man jetzt mehr denn je einen begnadeten Agitator wie Mussolini benötigte.
Da traf es sich gut, dass Mussolini im Militärdienst schwer verwundet wurde. Nicht in der offenen Feldschlacht. Sondern bei einer Gefechtsübung im Hinterland. Im August 1917 wurde er ausgemustert und kehrte an seinen Arbeitsplatz beim Popolo d’italia zurück. Und da kommt Sir Samuel Hoare, später geadelt zum 1. Viscount Templewood, ins Bild. Ein englischer Oberschicht-Schnösel von siebenundzwanzig Jahren, der seine Karriere gerade als Agent beim britischen Geheimdienst in Russland begonnen hat. Dem jungen Lord sitzt der Schock über die ruppige Vertreibung der russischen Zarenfamilie vom Thron noch in den Gliedern, als ihn seine Vorgesetzten nunmehr nach Italien versetzen. Hoare soll dafür sorgen, dass die Italiener weiterhin im Bündnis mit der Entente verbleiben. Angesichts der kümmerlichen Performance der italienischen Streitkräfte kein leichtes Unterfangen. Der britische Historiker Peter Martland hatte sich vor einigen Jahren durch Hoares Hinterlassenschaften gearbeitet und dabei Dokumente gefunden, die belegen, dass Mussolini von der englischen Regierung jede Woche einen Betrag von 100 Pfund Sterling ab Herbst 1917 für die Dauer von „mindestens einem Jahr“ erhalten hat. Umgerechnet auf heutige Kaufkraft wären das jede Woche 6.000 Pfund Sterling <3>. Also etwa 7.000 Euro die Woche. Macht 364.000 Euro im Jahr. Wobei man sich damals für dasselbe Geld deutlich mehr einkaufen konnte als heute. Während Historiker Martland vermutet, Mussolini habe das Geld für Frauengeschichten ausgegeben, ist eher anzunehmen, dass er das Geld bestimmungsgemäß für den Ausbau der Zeitung ausgegeben hat. Und immer mehr auch für eine neue Aufgabe: nämlich für die Gründung einer paramilitärischen Schocktruppe, um die nun drastisch zunehmenden Friedensdemonstrationen in Italien zu zerschlagen. Mussolini wurde zum Knotenpunkt der zukünftigen faschistischen „Bewegung“. Zunächst sind die Auftritte der Mussolini-Schläger eher sporadisch. Doch die Infrastruktur des schwarzen Terrors wird von nun an konsequent ausgebaut. Das ist aus Sicht der Kriegsprofiteure und Konzernherren auch dringend geboten.
Denn nach dem Sieg der Bolschewisten in Russland ist das Selbstbewusstsein der europäischen Arbeiterbewegung massiv angewachsen. Es ist also, so scheint es, offenkundig möglich, die Diktatur der Bourgeoisie zu brechen! Die europäischen Kriegstreiber stehen nach dem Ausstieg Russlands aus der Entente-Koalition ziemlich begossen da. Erst durch den Eintritt der USA in den europäischen Krieg kann die Entente gerade noch mit verbrannter Kutte davonkommen. Als der Krieg im Jahre 1918 zu Ende ist, gestaltet sich die Situation für Siegerländer und Verliererländer zumindest in Europa absolut gleich. Denn auch die Kriegsgewinner Großbritannien und Frankreich sind massiv verarmt und können sich nur durch den Raubbau an Deutschland im Rahmen des Versailler Vertrags halbwegs über Wasser halten. Und durch Wilsons Vierzehn-Punkte-Plan entstehen viele kleine, kaum lebensfähige Ministaaten in Europa, die sich rasch bei amerikanischen Großbanken bis über die Halskrausen verschulden. Zudem ist in Wirklichkeit der Krieg noch lange nicht vorbei. Das neu entstandene Polen beginnt sofort einen mörderischen Krieg gegen die Sowjetunion. Das Baltikum wiederum erlebt einen furchtbaren Stellvertreterkrieg der Westmächte gegen die Sowjetunion.
Italien ist offiziell Sieger im Ersten Weltkrieg. Das merkt nur keiner. Denn das Land ist ebenfalls noch viel ärmer als vor dem Krieg. Die Staatsautorität ist zerrüttet. 650.000 junge Italiener sind im Krieg gefallen. Eine Million weitere Italiener sind verstümmelt. Fabriken sind verwaist. Agrarflächen liegen brach. Arme Sieger. Kein bisschen besser dran als die deutschen Leidensgenossen. Der frühe Vordenker des italienischen Faschismus, Gabriele D’Annunzio, prägt deshalb den Begriff der vittoria mutilata, also des verstümmelten Krieges.
Angesichts dessen, dass der Staat als Ordnungsfaktor vollkommen ausgefallen ist, beginnen sich die Menschen draußen im Lande, wohl oder übel, selber zu verwalten. Bauern übernehmen die Felder, die den Großagrariern gehören, und bestellen sie in Eigenverantwortung. Arbeiter beginnen, die verwahrlosten Fabrikhallen instand zu besetzen. Das ergibt ein ganz ähnliches Bild wie in Deutschland zur gleichen Zeit. Die Autonomie der Arbeiter und Bauern ist schlicht aus der Not geboren. Und ganz gewiss haben die Instandbesetzer zunächst nicht an den Beginn einer kommunistischen Gesellschaftsordnung gedacht. Doch aus der neuen russischen Sowjetföderation wird durch die Kommunistische Internationale das Muster einer weltweiten Vergesellschaftung auf der Grundlage bolschewistischer Konzepte krampfhaft aufgepfropft. Es beteiligen sich an den Fabrikbesetzungen Hunderttausende Arbeiter. Sie bilden in ihren Betrieben Arbeiterräte. Produktionsabläufe werden zum ersten Mal durch demokratische Entscheidungen gesteuert. Der kommunistische Vordenker Antonio Gramsci versucht den Abläufen eine Richtung hin zum Sowjetkommunismus zu geben. Gramsci, Nachfahre albanischer Einwanderer, der durch eine schwere Verletzung in der Kindheit verwachsen ist und nur eine Körpergröße von ein Meter fünfzig aufweist, ist zweifellos einer der einflussreichsten und bedeutendsten Intellektuellen des Zwanzigsten Jahrhunderts. Allerdings dürfte er mit seiner Deutung der Autonomie der Produktion in Industrie und Landwirtschaft als Freifahrtschein in den Kommunismus den Bogen überspannt haben. Anstatt das Bürgertum mit ins Boot zu nehmen, wurde diese Klientel durch revolutionäre Ungeduld massiv verprellt. Niemand hat das besser auf den Punkt gebracht als der Altmeister der Sozialistischen Partei Italiens, Filippo Turati:
„Es sind jede Menge Leute der Mittelkasse, der Kleinbürger, der Intellektuellen, der Liberalen, Leute, die an den Aufstieg des Sozialismus auch ihre Hoffnungen auf Fortschritt und Freiheit geknüpft hatten, die wir jetzt mit Blutvergießen und einer drohenden Diktatur auf die andere Seite treiben. Die Gewalt ist fast immer ein Mittel, das auf jene zurückfällt, die sie einsetzen. Das wissen zumindest jene Sozialisten, die mit brutaler Gewalt, dreister Anmaßung und ihren roten Tribunalen die Emilia [eine Region in Norditalien] tyrannisiert haben.“
Turati war ein innerparteilicher Gegner von Gramsci. Inwieweit er die Verhältnisse überzeichnet haben könnte, lässt sich heute schlecht beurteilen. Jedoch schließt die Fokussierung auf Arbeiter und Bauern automatisch bürgerliche Elemente aus. So ist unstreitig, dass die Kommunisten in der Sozialistischen Partei das Potential der gesellschaftlichen Transformation ohne Notwendigkeit verengt haben. Und auf diese Weise den Faschisten fahrlässig massenhaft Sympathisanten und Mitstreiter zugetrieben haben. Dabei war die qualitative und quantitative Überlegenheit des fortschrittlichen Lagers in den Jahren 1919 und 1920 derart offensichtlich, dass diese Jahre als biennio rosso, also als die zwei Roten Jahre in die Geschichte eingegangen sind.
Das zeigte sich eindrucksvoll bei der Parlamentswahl, die am 16. November 1919 stattfanden. Die bislang regierenden Liberalen wurden fast vollständig hinweggefegt. Die sozialistische Partei PSI wurde mit 32,3 Prozent mit Abstand stärkste Partei. Auf dem zweiten Platz landete mit 20,5 Prozent die Partito Popolare Italiano, die zum ersten Mal zur Wahl angetreten war. Es handelte sich um eine Partei des aufgeklärten, sozial sensiblen Katholizismus. Ihr Vorsitzender Luigi Sturzo erwies sich in den folgenden Jahren als aufrichtiger Antifaschist. Somit ergab sich für Italien eine ganz ähnliche Situation wie in Deutschland in der Weimarer Republik. Dort trugen die SPD und das katholische Zentrum als wichtige Säulen gemeinsam über viele Jahre die demokratische Verfassung. Diesen Part hätten PSI und die katholische PPI in Italien auch übernehmen können, mit einer weitaus klareren Mehrheit als in Deutschland. Jedoch löst sich diese überwältigende Mehrheit rasch in Luft auf. Die aus Moskau gesteuerte Komintern gibt die Weisung aus, wer sich ihr anschließen wolle, müsse sich unverzüglich in eine kommunistische Partei umbenennen und alle Mitglieder ausschließen, die diese Umbenennung nicht mittragen wollen. Gramsci vollzieht die Umbenennung in Partita Comunista Italiano (PCI). Altmeister Filippo Turati schart alle Sozialisten um sich, die nicht unter einem kommunistischen Dach unterkommen wollen und gründet 1922 die Partito Socialista Unitario (PSU). Und Luigi Sturzo von der katholischen PPI wird durch Intrigen aus dem Umfeld des Papstes aus der Partei gemobbt.
Leichtes Spiel also für die Attacke der Faschisten. Und Mussolini kommt als Schaltstelle des neu formierten Faschismus eine Schlüsselstellung zu. Er hat den Überblick. Die Adressen. Den Kontakt zu den Sponsoren. Von Mailand aus werden die faschistischen Zellen, die sich überall im Land bilden, immer weiter zusammengeführt. Das Logo der neuen privatwirtschaftlich organisierten Repression gegen Sozialisten und Gewerkschaftler ist das Rutenbündel, das Fasces. Mit dem Fasces hatten im antiken Rom die Bodyguards den bedeutenden Politikern ihren Weg durch die Menschenmenge gebahnt. Auf die Ruten aufgepflanzt ein Beil. Wer nun dem Politiker Verwünschungen entgegenschleuderte, bekam vielleicht mal eins mit der Rute übergezogen. Wer aber dem Senator an Leib und Leben wollte, bekam möglicherweise mit der Axt den Schädel gespalten. Sehr anheimelnd. In Bezugnahme auf diese schöne alte Sitte aus dem antiken Rom wählten die Mussolini-Schläger das Rutenbündel zu ihrem Wahrzeichen. Eine klare programmatische Aussage, die Mussolini in einer Ansprache in Neapel am 24. Oktober 1922 auf den Punkt brachte: „Unser Programm ist einfach: wir wollen Italien beherrschen!“ <4>
Am 15. August 1921 ergab eine weitere Parlamentswahl für die neue „bürgerliche“ Einheitsliste blocco nazionale 20 Prozent, während die PSI beträchtliche Stimmenverluste hinnehmen musste. Im nationalen Block waren Mussolinis Faschisten mit 34 Parlamentssitzen huckepack mitgenommen worden. Ein erster Einstieg in die Institutionen. Anlass genug, im November 1921 endlich die Partito Nazionale Fascista zu gründen. Der Staatsapparat und die italienischen Unternehmer wollen den Vormarsch der Faschisten an die Macht. Kontakte werden hergestellt zum Generalstab des italienischen Militärs, zu General Badoglio. Zum Papst, der den PPI-Vorsitzenden Sturzo zum Rückzug nötigt. Auch zur Regierung gibt es regelmäßige Kontakte. Mussolini ist als der neue starke Mann schon lange vorbestimmt. Im März 1922 macht Mussolini eine Auslandsreise, die ihn unter anderem nach Berlin führt. Dort trifft er sich schon ganz staatsmännisch mit Reichskanzler Joseph Wirth, mit Außenminister Walther Rathenau, mit Gustav Stresemann und mit dem einflussreichen liberalen Journalisten Theodor Wolff.
Währenddessen suchen seine blutrünstigen squadres, organisierte Mörderbanden in schwarzen Hemden und Feuerwaffen, eine linke Hochburg nach der anderen auf und hinterlassen eine Spur des Entsetzens, mit Toten und Verletzten. Der Staatsapparat sieht indes keinen Handlungsbedarf. Die Regierung ist entweder zu schwach oder aber vollkommen unwillig, vom Gewaltmonopol Gebrauch zu machen. In einem letzten Aufbäumen organisiert die Linke am 1. August 1922 einen Generalstreik, der aber am bereits am 3. August aufgrund martialischer Drohungen der Mussolini-Recken abgeblasen wird.
Das war’s. Jetzt ist der Weg frei für die offene Machtergreifung durch die Faschisten auf Rom. Die Faschisten-Partei PNF hat am 28. Oktober 1922 noch einen Parteitag, den Mussolini in Richtung Mailand verlässt. Der Marsch auf Rom ist angekündigt. Ministerpräsident Luigi Facta, ein Mann der Liberalen, schwach und unentschlossen, will zunächst nicht Armee und Polizei mobilisieren, um die Faschisten zu bremsen. Kurz vor dem Marsch auf Rom ersucht er dann doch den König Viktor Emmanuel III., einen labilen Mann mit einer Körpergröße von 1,53 Meter, den Ausnahmezustand zu verhängen. Doch der Monarch weigert sich. So marschieren, je nach Berichterstatter, zwischen 5.000 und 35.000 Mussolini-Faschisten am 28. Oktober in Rom ein. Mussolini wird derweil in Mailand von den maßgebenden Unternehmern dringend aufgefordert, in Rom die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Mussolinis heroischer Marsch nach Rom sieht so aus, dass er im Nachtexpress im Pyjama schlafend die Strecke von Mailand absolviert und am Morgen des 30. Oktobers erst mal im Hotel eincheckt, um sich dann im Schwarzhemd zum König zu begeben. Viktor Emmanuel ernennt den Duce zum neuen Regierungschef, der daraufhin, wiederum nach heroischem Kampf, am 31. Oktober eine „Siegesparade“ abnimmt.
Eine einzige Slapstick-Nummer. Keiner kümmert sich mehr um irgendwelche demokratisch-parlamentarischen Regeln. Vielmehr sind die Regeln der Demokratie den Mächtigen Italiens einfach zu blöd. Wie ein Kind, das ein Brettspiel in genau dem Moment mitsamt dem Tisch umschmeißt, wenn das Spiel zu seinen Ungunsten ausgehen könnte. Die Politik der blanken Faust. Nun vereinigt sich die faschistische PNF noch mit der rechtskonservativen Assoziatione Nazionalista Italiana, was Mussolinis Partei plötzlich zu einer Massenpartei anschwellen lässt. Im November 1923 darf das neu gewählte Parlament dann seine eigene Entmachtung durch das Acerbo-Gesetz beschließen. Das Acerbo-Gesetz legt fest, dass die relativ stärkste Partei nach der Wahl automatisch zwei Drittel der Abgeordneten-Mandate zugeteilt bekommt. Nach dieser Selbstentmachtung wollen sich die Abgeordneten im Dezember 1923 wieder treffen. Doch der König schickt sie wieder nach hause. Bei der Neuwahl nach dem Acerbo-Gesetz am 6. April 1924 hat Mussolini jetzt endlich seine erschlichene Zweidrittel-Mehrheit, um Italien nach eigenem Bilde zu formen.
Doch gibt es eine hässliche Episode, die den Duce fast um die Früchte seiner Bemühungen gebracht hätte. Denn der Abgeordnete Giacomo Matteotti, seines Zeichens Generalsekretär der gemäßigt sozialdemokratischen Turati-Partei PSU, hält im manipulierten Mussolini-Parlament eine extrem mutige Rede. Er entlarvt kriminelle Machenschaften und Manipulationen rund um die letzte Parlamentswahl. Er deutet auch die Beziehungen der Mussolini-Faschisten zu US-amerikanischen Konzernen an. Zum Beispiel spricht er über die Unterstützung der Faschisten durch den Ölkonzern Standard Oil. Das hätte er wohl besser nicht machen sollen. Denn am 10. Juni 1924 zerren sechs Herren Matteotti vom Trottoir in ein Auto, fahren mit ihm an den Stadtrand, um ihn dort zu ermorden. Dieser Mord löst selbst bei Liberalen und Konservativen große Empörung aus. Doch Mussolini tritt vollkommen abgebrüht im Parlament auf und übernimmt die gesamte persönliche Verantwortung für das Verbrechen. Und regiert munter weiter. Niemand kann oder will ihn daran hindern. Wie heißt es so schön? Was wir hier sehen, ist die „normative Kraft des Faktischen“ in voller Aktion.
Der aufrechte sozialistische Abgeordnete Matteotti hat die Faschisten an einer extrem verwundbaren Stelle erwischt und damit sein eigenes Todesurteil ausgesprochen. Der US-amerikanische Konzern Standard Oil und die hinter ihm stehende Rockefeller-Dynastie sind hier nur ein Synonym für den beträchtlichen Anteil, den angloamerikanische Machtzentren am raketenhaften Aufstieg des Duce unstreitig hatten.
Der Mord an Matteotti ist nicht nur die Wegscheide von der „kontitutionellen“ Phase der Mussolini-Herrschaft hinein in die totalitäre faschistische Dikatur. Er ist zudem der Beginn der Öffnung italienischer Ressourcen und Märkte für das angloamerikanische Kapital. Denn der Reformsozialist Matteotti weiß entscheiden zu viel über die Kungeleien Mussolinis mit britischen und amerikanischen Ölkonzernen. Die Ölfirma Sinclair Oil hat mit dem Duce heimlich Verträge abgeschlossen, die geltendem italienischem Recht eklatant widersprechen <5>. Obwohl es ausländischen Konzernen verboten war, in Italien Öl zu schöpfen, erlaubte Mussolini der Sinclair Oil Explorationen in Sizilien und in der Emilia Romagna. Matteotti hatte in London von hohen Funktionären der britischen Labour Partei entsprechende Dokumente ausgehändigt bekommen, die Matteotti im italienischen Parlament sodann der Öffentlichkeit zugänglich machen wollte. Wäre ihm das gelungen, dann wäre Mussolini politisch erledigt gewesen. Also musste Matteotti mitsamt der kompromittierenden Akten von der Bildfläche verschwinden. Die Dokumente hätten auch offengelegt, dass sich hinter Sinclair Oil sowohl Standard Oil als auch die britische Anglo-Persian Oil Company verbargen. Das ist besonders delikat, weil Standard Oil den Konkurrenten Sinclair Oil gerade ein Jahr zuvor aus dem Geschäft mit der sowjetischen Ölgesellschaft Azneft herausgekickt hat, wobei auch der US-Präsident Harding unter rätselhaften Umständen zu Tode kam <6>.
Hinter Sinclair und Standard Oil stand das damals weltweit mächtigste Bankhaus JP Morgan. Seit der Machtübernahme in Washington durch die Republikaner im Jahre 1921 hatte sich die Regierung der USA praktisch aus der aktiven Gestaltung der Außenpolitik verabschiedet. Jene elf Jahre bis zur erneuten Regierungsverantwortung durch die Demokraten gingen in die Geschichtsbücher ein als die Ära der vermeintlichen „amerikanischen Isolation“. Tatsächlich wurde aber die amerikanische Außenpolitik in jenen Jahren von den Großbanken der Wall Street gestaltet. Abgespeckt und reduziert auf die nackte Geopolitik des maximalen Profits. So verwarfen die USA zwar die Regelungen des Vertrags von Versailles. Die Methode, stattdessen Europa durch Mega-Kredite gewaltlos einzukaufen, erwies sich als äußerst effizient. In Folge des Dawes-Planes flossen rund 110 Millionen US-Dollar in die deutsche Wirtschaft und sorgten für die Roaring Twenties. Die 110 Millionen Dollar kann man nach heutigem Kurswert getrost in 110 Milliarden Dollar übersetzen. Und auch die erheblich kleinere Wirtschaft Italiens erhielt durch das Bankenkonsortium um JP Morgan die stolze Summer von 100 Millionen US-Dollar ausgeliehen <7>. Dazu musste Mussolini jetzt stabile politische Verhältnisse als Gegenleistung garantieren. Der Kredit aus Übersee erfolgte also exakt nach der Ermordung Matteottis, als der offene italienische Faschismus in den geschlossenen Faschismus überging <8>. Der starke Mann bei JP Morgan war Thomas Lamont. Lamont zirkulierte durch die europäischen Hauptstädte, um mit den Regierungen das optimale Investitionsklima festzulegen. Ihm folgte sodann der Wall-Street-Wirtschaftsanwalt John McCloy von der Kanzlei Cravath, Henderson & de Gersdorff. McCloy blieb sogar ein ganzes Jahr in Rom, um den Duce so kompetent wie möglich bei der Anlage der amerikanischen Mega-Kredite zu beraten <9>. Es folgten die Goldenen Jahre des Mussolini-Faschismus. Wie von Zauberhand schien dem Duce nunmehr alles zu gelingen. Politiker, Wissenschaftler, Presseleute und Wirtschaftsführer antichambrierten und wieselten um den großen Mussolini. Churchill besuchte Mussolini und wusste zu berichten, dass für England der Faschismus nicht nötig sei <10>. Aber für ein derart vom Bolschewismus bedrängtes Land wie Italien sei der Faschismus genau das Richtige. Der Direktor der New Yorker Columbia-Universität, Nicolas Murray Butler, war oft bei seinem Freund Benito zu Besuch und empfahl ex cathedra eine solche Regierungsform auch für die USA <11>.
Das nahmen sich dann auch mächtige Oligarchen in den USA zu Herzen. Als zum Entsetzen der US-Eliten im Jahre 1932 der Demokrat Franklin Delano Roosevelt den Amtsinhaber Herbert Hoover mit einem Erdrutschsieg hinwegfegte, versuchten sie, Roosevelt schon vor seiner Vereidigung durch ein Attentat aus dem Weg zu räumen. Als das misslang, versuchten die selben Oligarchen im Jahre 1934 Roosevelt durch einen Putsch zu entmachten und den legendären General der Marine Corps, Smedley Butler, als Mussolini-Kopie in Washington zu installieren. Doch Butler blieb loyal und informierte Roosevelt über die faschistischen Putsch-Pläne. Roosevelt machte keinen großen Wind aus dieser Geschichte <12>. Aber er nahm von nun an die Außenpolitik in die eigenen Hände. Und die Oligarchen von der Wall Street stürzten sich ab jetzt auf Deutschland, das mittlerweile faschistisch regiert wurde und dabei weit attraktivere Investitionsmöglichkeiten bot wie Italien. Und so kommt es, dass sich die Historiker immer noch wundern, warum ab den frühen 1930er Jahren plötzlich der italienische Mussolini-Faschismus massiv an Dynamik verliert. Und fragen sich zudem, warum Italien in seinen diversen Kriegen auf der ganzen Linie versagt hat. Während zur gleichen Zeit die Wehrmacht, ausgestattet mit neuester amerikanischer Technologie, die Welt das Fürchten lehrt.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs ist auch der Hitler-Faschismus zusammengebrochen und kann Musolini nicht länger beschützen. Mussolini wird von antifaschistischen Partisanen aufgegriffen. Sie erschießen ihn und knüpfen ihn dann mit den Füßen nach oben und Kopf nach unten an einem Laternenpfahl.
Wir lernen aus der Geschichte, wie wir die Zukunft besser machen.
Quellen und Anmerkungen:
<1> Sebastian Haffner: Der Teufelspakt. S.7ff
<2> https://www.youtube.com/watch?v=11r1ZGsumJ4
<3> https://www.theguardian.com/world/2009/oct/13/benito-mussolini-recruited-mi5-italy
<4> https://schmid.welt.de/2019/05/09/mussolinis-instinkt-in-deutschland-dauerte-es-nach-dem-ersten-weltkrieg-14-jahre-bis-das-land-endgueltig-eine-totalitaere-wendung-nahm-in-italien-ging-das-viel-schneller/
<5> https://primolevicenter.org/printed-matter/the-matteotti-murder-and-the-origins-of-mussolinis-totalitarian-fascist-regime-in-italy/
<6> https://apolut.net/history-der-raetselhafte-tod-des-praesidenten-harding/
<7> https://en.wikipedia.org/wiki/Thomas_W._Lamont
<8> Ich erlaube mir hier eine Analogie aus dem deutschen Strafvollzug: offener und geschlossener Strafvollzug. Offener Faschismus ist demzufolge eine Herrschaft durch Faschisten, bei der Instrumente der repräsentativen Demokratie zumindest formal noch existent sind. Die Faschisten aber bereits das letzte Wort haben. Demgegenüber sind beim geschlossenen Faschismus alle Institutionen der Demokratie auch offiziell abgeschafft. Es herrschen totalitäre Verhältnisse vor.
<9> Walter Isaacson/Evan Thomas: The Wise Men. Six Friends and the world they made. 1986 New York. S. 122
<10> https://www.nytimes.com/1927/01/21/archives/churchill-extols-fascismo-for-italy-he-declares-it-has-taught-the.html
<11> Hermann Ploppa: Hitlers Amerikanische Lehrer. Die Eliten der USA als Geburtshelfer des Nationalsozialismus. Marburg 2016. S.55/56
<12> https://apolut.net/history-der-misslungene-putsch-gegen-praesident-roosevelt/
Erstveröffentlichung am 30. Januar 2023 bei apolut
Online-Flyer Nr. 806 vom 01.02.2023
Wir lernen aus der Geschichte, wie wir die Zukunft besser machen
Mussolinis "Marsch" auf Rom
Von Hermann Ploppa
Heute geht es um Benito Mussolinis Marsch auf Rom. Vor nunmehr einhundert Jahren marschierten faschistische Schlägerbanden in die italienische Hauptstadt. Das war der Ausgangspunkt für immerhin dreiundzwanzig Jahre Diktatur in dem Land, wo Zitronenbäume blühen. Mussolinis Schreckensherrschaft gilt als der Prototyp der faschistischen Regierungsform. Uns interessiert die Frage: wer steckte hinter Mussolinis gut durchgestyltem Faschismus? Wer waren die Förderer? Und wie konnte es kommen, dass Mussolini mit relativ bescheidenen Mitteln so leicht die Macht ergreifen konnte? Begeben wir uns also in das Italien des ersten Viertels des Zwanzigsten Jahrhunderts.
Benito Mussolini (Foto: gemeinfrei)
Benito Amilcare Andrea Mussolini wurde im Jahre 1883 in Norditalien geboren. Er wandte sich schon in jungen Jahren der sozialistischen Bewegung zu. Nach allerlei journalistischen Versuchen wurde Mussolini Chefredakteur der sozialistischen Tageszeitung avanti!, also zu deutsch: Vorwärts! Wie das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokraten. Mussolini macht seine Sache so gut, dass die Auflage von avanti! rasch ansteigt. Als der Erste Weltkrieg beginnt, scheiden sich die Geister. Die Mehrheit der italienischen Sozialisten sprach sich gegen diesen Krieg aus. Mussolini gehört jedoch zu einer kleinen Minderheit in der Sozialistischen Partei, die sich für einen Kriegseintritt auf der Seite von Großbritannien und Frankreich ausspricht. Mussolini wird als Chefredakteur von avanti! entlassen und danach auch gleich aus der Sozialistischen Partei Italiens ausgeschlossen. Daraufhin gründet Mussolini eine neue Tageszeitung mit Namen Popolo d’Italia und rührt hier energisch die Werbetrommel für den italienischen Kriegseintritt. Mussolinis neue Zeitung wird massiv von italienischen Rüstungsindustriellen sowie von den Geheimdiensten Frankreichs und Großbritanniens finanziert. So nimmt es auch nicht wunder, dass Mussolini und seine Zeitung auch der Knotenpunkt einer neuen synthetischen Bewegung werden, die den Kriegswillen dieser interessierten Kreise auch mit dem Knüppel und bei Bedarf mit Pistolen durchdrücken will.
Die italienische Bevölkerung stemmte sich in ihrer großen Mehrheit gegen eine Kriegsbeteiligung, auf welcher Seite auch immer. Und wir können hier exemplarisch studieren, wie im Zusammenspiel von Regierung und Presse durch die Fabrikation einer „öffentlichen Meinung“ das Ruder herumgerissen wird. Die italienische Regierung half mit beim Aufbau einer kriegsfreudigen Presse. Diese kriegsfreudige Presse setzt nunmehr scheinbar die Regierung mit ihren martialischen Forderungen unter Druck. Und die Regierung bedauert scheinheilig vor der real existierenden Mehrheit, dass sie auf massiven Druck der „öffentlichen Meinung“ ihre Politik ändern müsse. Die so genannte „öffentliche Meinung“ ist fast immer das Kunstprodukt dieses geschickten Spiels über Bande zwischen Regierung, Konzernen und Medien. Und falls dieses Spiel über Bande nicht einwandfrei funktioniert, dann muss allerdings handgreiflich nachgeholfen werden. Das ist heute nicht anders als damals. Wenn heutzutage Demonstranten einfach zu zahlreich werden und zu viel Druck aufbauen und den Nimbus der Unbesiegbarkeit des Herrschaftssystems ernsthaft in Gefahr bringen, dann schickt die Fassadendemokratie nicht reguläre Polizeieinheiten, sondern die gefürchteten „Robocops“. Schwarze Schläger, komplett unkenntlich gemacht durch astronautische Ritter-Rüstungen. Dann ist Ruhe im Karton.
So weit darf es aber gar nicht kommen. Das ist nämlich schon eine soziale Bankrotterklärung. Besser ist es, wenn scheinbar von der Staatsmacht unabhängige Bürgerwehren ihrer Empörung über Pazifisten, Umweltaktivisten oder sonstige Konzerngegner durch handgreiflichen Terror Ausdruck verleihen. Und so war es auch schon im Italien des Jahres 1915. Erste organisierte Schlägerbanden schüchterten die Kriegsgegner ein. Die Idee, den Staat als sichtbaren Regisseur der Repression aus der Wahrnehmung herauszunehmen und gedungene, scheinbar staatsferne Schläger vorzuschicken, stammt vom zaristischen Geheimdienst Ochrana in Russland. Der Reformstau durch die Zaren führte zu immer stärker anschwellenden sozialen Protesten. Die Ochrana engagierte frustrierte Kleinbürger und erzählte den Leuten, Schuld an allem Übel dieser Welt seien die Juden. Die als so genannte Schwarzhunderter berüchtigten Mörderbanden veranstalteten furchtbare Pogrome in russischen Juden-Ghettos. In Italien waren derart groß angelegte Terrorkommandos am Anfang des Kriegseintritts noch nicht erforderlich.
Die Lage änderte sich jedoch schlagartig, als im Jahre 1917 die deutschen Generäle Hindenburg und Ludendorff, die de facto als Militärregenten herrschten, den bolschewistischen Agitator Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, im plombierten Zug, ausgestattet mit sehr viel Geld, von Zürich nach Petrograd beförderten <1>. Die Zaren waren bereits gestürzt. Aber die liberale Regierung unter Kerenskij unternahm nichts, um Russland aus dem Kriegsgeschehen herauszuziehen. Lenin und seine Mitstreiter ergriffen die Macht. Das änderte alles. Russland beendete den Krieg gegen Deutschland. Die Entente war nun massiv geschwächt und befand sich in der Defensive. Außerdem veröffentlichte Leo Trotzki bislang unbekannte Geheimverträge, die die Kombattanten der Entente-Mächte mit Italien abgeschlossen hatten <2>. Plötzlich erfuhr die Weltöffentlichkeit, dass die Entente-Staaten sich keineswegs in einem Abwehrkampf gegen die angeblich kriegslüsternen Achsenmächte Deutschland, Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich zusammengefunden hatten. Vielmehr waren sie in diesen Krieg gezogen, um die Beute-Filetstücke der Achsenmächte zu tranchieren und diese sodann freundschaftlich untereinander aufzuteilen. Und so erfuhr die Öffentlichkeit dann auch, dass Italien im so genannten Vertrag von London, unterzeichnet am 26. April 1915 dortselbst, von den Briten beträchtliche territoriale Zugewinne versprochen bekam. Italien sollte das mehrheitlich von deutschsprachigen Bürgern bewohnte Südtirol erhalten. Weiterhin aus dem Osmanischen Reich die Regionen Antalya, Konya und Smyrna; dann die ägäische Inselgruppe der Dodekanes; auf dem Balkan die Gebiete Dalmatien, Triest und Istrien. Dazu einen Teil der deutschen Kolonien in Afrika. In Afrika sollte Italien die bereits von ihnen besetzten Gebiete in Libyen behalten können. Zusätzlich schenkten die Engländer den Italienern großzügig auch noch Äthiopien, das bislang noch nicht unter das Joch des Kolonialismus geraten war. Zudem sollte Italien für Albanien in der Außenpolitik den Vormund abgeben.
Als dieses perverse Geschacher bekannt wurde, ging eine Welle der Empörung durch die Völker der westlichen Welt. Die französischen Rekruten verließen ihre Schützengräben und gingen nach hause, um endlich ihre Felder zu bestellen. Die Kriegsunlust erreichte solche Ausmaße, dass der Krieg kaum noch weitergeführt werden konnte. Auch die Italiener, die eigentlich auch nur von einer verlorenen Schlacht zur nächsten verlorenen Schlacht taumelten, mussten jetzt wieder zur Schlachtbank getragen werden. Keine Frage, dass man jetzt mehr denn je einen begnadeten Agitator wie Mussolini benötigte.
Da traf es sich gut, dass Mussolini im Militärdienst schwer verwundet wurde. Nicht in der offenen Feldschlacht. Sondern bei einer Gefechtsübung im Hinterland. Im August 1917 wurde er ausgemustert und kehrte an seinen Arbeitsplatz beim Popolo d’italia zurück. Und da kommt Sir Samuel Hoare, später geadelt zum 1. Viscount Templewood, ins Bild. Ein englischer Oberschicht-Schnösel von siebenundzwanzig Jahren, der seine Karriere gerade als Agent beim britischen Geheimdienst in Russland begonnen hat. Dem jungen Lord sitzt der Schock über die ruppige Vertreibung der russischen Zarenfamilie vom Thron noch in den Gliedern, als ihn seine Vorgesetzten nunmehr nach Italien versetzen. Hoare soll dafür sorgen, dass die Italiener weiterhin im Bündnis mit der Entente verbleiben. Angesichts der kümmerlichen Performance der italienischen Streitkräfte kein leichtes Unterfangen. Der britische Historiker Peter Martland hatte sich vor einigen Jahren durch Hoares Hinterlassenschaften gearbeitet und dabei Dokumente gefunden, die belegen, dass Mussolini von der englischen Regierung jede Woche einen Betrag von 100 Pfund Sterling ab Herbst 1917 für die Dauer von „mindestens einem Jahr“ erhalten hat. Umgerechnet auf heutige Kaufkraft wären das jede Woche 6.000 Pfund Sterling <3>. Also etwa 7.000 Euro die Woche. Macht 364.000 Euro im Jahr. Wobei man sich damals für dasselbe Geld deutlich mehr einkaufen konnte als heute. Während Historiker Martland vermutet, Mussolini habe das Geld für Frauengeschichten ausgegeben, ist eher anzunehmen, dass er das Geld bestimmungsgemäß für den Ausbau der Zeitung ausgegeben hat. Und immer mehr auch für eine neue Aufgabe: nämlich für die Gründung einer paramilitärischen Schocktruppe, um die nun drastisch zunehmenden Friedensdemonstrationen in Italien zu zerschlagen. Mussolini wurde zum Knotenpunkt der zukünftigen faschistischen „Bewegung“. Zunächst sind die Auftritte der Mussolini-Schläger eher sporadisch. Doch die Infrastruktur des schwarzen Terrors wird von nun an konsequent ausgebaut. Das ist aus Sicht der Kriegsprofiteure und Konzernherren auch dringend geboten.
Denn nach dem Sieg der Bolschewisten in Russland ist das Selbstbewusstsein der europäischen Arbeiterbewegung massiv angewachsen. Es ist also, so scheint es, offenkundig möglich, die Diktatur der Bourgeoisie zu brechen! Die europäischen Kriegstreiber stehen nach dem Ausstieg Russlands aus der Entente-Koalition ziemlich begossen da. Erst durch den Eintritt der USA in den europäischen Krieg kann die Entente gerade noch mit verbrannter Kutte davonkommen. Als der Krieg im Jahre 1918 zu Ende ist, gestaltet sich die Situation für Siegerländer und Verliererländer zumindest in Europa absolut gleich. Denn auch die Kriegsgewinner Großbritannien und Frankreich sind massiv verarmt und können sich nur durch den Raubbau an Deutschland im Rahmen des Versailler Vertrags halbwegs über Wasser halten. Und durch Wilsons Vierzehn-Punkte-Plan entstehen viele kleine, kaum lebensfähige Ministaaten in Europa, die sich rasch bei amerikanischen Großbanken bis über die Halskrausen verschulden. Zudem ist in Wirklichkeit der Krieg noch lange nicht vorbei. Das neu entstandene Polen beginnt sofort einen mörderischen Krieg gegen die Sowjetunion. Das Baltikum wiederum erlebt einen furchtbaren Stellvertreterkrieg der Westmächte gegen die Sowjetunion.
Italien ist offiziell Sieger im Ersten Weltkrieg. Das merkt nur keiner. Denn das Land ist ebenfalls noch viel ärmer als vor dem Krieg. Die Staatsautorität ist zerrüttet. 650.000 junge Italiener sind im Krieg gefallen. Eine Million weitere Italiener sind verstümmelt. Fabriken sind verwaist. Agrarflächen liegen brach. Arme Sieger. Kein bisschen besser dran als die deutschen Leidensgenossen. Der frühe Vordenker des italienischen Faschismus, Gabriele D’Annunzio, prägt deshalb den Begriff der vittoria mutilata, also des verstümmelten Krieges.
Angesichts dessen, dass der Staat als Ordnungsfaktor vollkommen ausgefallen ist, beginnen sich die Menschen draußen im Lande, wohl oder übel, selber zu verwalten. Bauern übernehmen die Felder, die den Großagrariern gehören, und bestellen sie in Eigenverantwortung. Arbeiter beginnen, die verwahrlosten Fabrikhallen instand zu besetzen. Das ergibt ein ganz ähnliches Bild wie in Deutschland zur gleichen Zeit. Die Autonomie der Arbeiter und Bauern ist schlicht aus der Not geboren. Und ganz gewiss haben die Instandbesetzer zunächst nicht an den Beginn einer kommunistischen Gesellschaftsordnung gedacht. Doch aus der neuen russischen Sowjetföderation wird durch die Kommunistische Internationale das Muster einer weltweiten Vergesellschaftung auf der Grundlage bolschewistischer Konzepte krampfhaft aufgepfropft. Es beteiligen sich an den Fabrikbesetzungen Hunderttausende Arbeiter. Sie bilden in ihren Betrieben Arbeiterräte. Produktionsabläufe werden zum ersten Mal durch demokratische Entscheidungen gesteuert. Der kommunistische Vordenker Antonio Gramsci versucht den Abläufen eine Richtung hin zum Sowjetkommunismus zu geben. Gramsci, Nachfahre albanischer Einwanderer, der durch eine schwere Verletzung in der Kindheit verwachsen ist und nur eine Körpergröße von ein Meter fünfzig aufweist, ist zweifellos einer der einflussreichsten und bedeutendsten Intellektuellen des Zwanzigsten Jahrhunderts. Allerdings dürfte er mit seiner Deutung der Autonomie der Produktion in Industrie und Landwirtschaft als Freifahrtschein in den Kommunismus den Bogen überspannt haben. Anstatt das Bürgertum mit ins Boot zu nehmen, wurde diese Klientel durch revolutionäre Ungeduld massiv verprellt. Niemand hat das besser auf den Punkt gebracht als der Altmeister der Sozialistischen Partei Italiens, Filippo Turati:
„Es sind jede Menge Leute der Mittelkasse, der Kleinbürger, der Intellektuellen, der Liberalen, Leute, die an den Aufstieg des Sozialismus auch ihre Hoffnungen auf Fortschritt und Freiheit geknüpft hatten, die wir jetzt mit Blutvergießen und einer drohenden Diktatur auf die andere Seite treiben. Die Gewalt ist fast immer ein Mittel, das auf jene zurückfällt, die sie einsetzen. Das wissen zumindest jene Sozialisten, die mit brutaler Gewalt, dreister Anmaßung und ihren roten Tribunalen die Emilia [eine Region in Norditalien] tyrannisiert haben.“
Turati war ein innerparteilicher Gegner von Gramsci. Inwieweit er die Verhältnisse überzeichnet haben könnte, lässt sich heute schlecht beurteilen. Jedoch schließt die Fokussierung auf Arbeiter und Bauern automatisch bürgerliche Elemente aus. So ist unstreitig, dass die Kommunisten in der Sozialistischen Partei das Potential der gesellschaftlichen Transformation ohne Notwendigkeit verengt haben. Und auf diese Weise den Faschisten fahrlässig massenhaft Sympathisanten und Mitstreiter zugetrieben haben. Dabei war die qualitative und quantitative Überlegenheit des fortschrittlichen Lagers in den Jahren 1919 und 1920 derart offensichtlich, dass diese Jahre als biennio rosso, also als die zwei Roten Jahre in die Geschichte eingegangen sind.
Das zeigte sich eindrucksvoll bei der Parlamentswahl, die am 16. November 1919 stattfanden. Die bislang regierenden Liberalen wurden fast vollständig hinweggefegt. Die sozialistische Partei PSI wurde mit 32,3 Prozent mit Abstand stärkste Partei. Auf dem zweiten Platz landete mit 20,5 Prozent die Partito Popolare Italiano, die zum ersten Mal zur Wahl angetreten war. Es handelte sich um eine Partei des aufgeklärten, sozial sensiblen Katholizismus. Ihr Vorsitzender Luigi Sturzo erwies sich in den folgenden Jahren als aufrichtiger Antifaschist. Somit ergab sich für Italien eine ganz ähnliche Situation wie in Deutschland in der Weimarer Republik. Dort trugen die SPD und das katholische Zentrum als wichtige Säulen gemeinsam über viele Jahre die demokratische Verfassung. Diesen Part hätten PSI und die katholische PPI in Italien auch übernehmen können, mit einer weitaus klareren Mehrheit als in Deutschland. Jedoch löst sich diese überwältigende Mehrheit rasch in Luft auf. Die aus Moskau gesteuerte Komintern gibt die Weisung aus, wer sich ihr anschließen wolle, müsse sich unverzüglich in eine kommunistische Partei umbenennen und alle Mitglieder ausschließen, die diese Umbenennung nicht mittragen wollen. Gramsci vollzieht die Umbenennung in Partita Comunista Italiano (PCI). Altmeister Filippo Turati schart alle Sozialisten um sich, die nicht unter einem kommunistischen Dach unterkommen wollen und gründet 1922 die Partito Socialista Unitario (PSU). Und Luigi Sturzo von der katholischen PPI wird durch Intrigen aus dem Umfeld des Papstes aus der Partei gemobbt.
Leichtes Spiel also für die Attacke der Faschisten. Und Mussolini kommt als Schaltstelle des neu formierten Faschismus eine Schlüsselstellung zu. Er hat den Überblick. Die Adressen. Den Kontakt zu den Sponsoren. Von Mailand aus werden die faschistischen Zellen, die sich überall im Land bilden, immer weiter zusammengeführt. Das Logo der neuen privatwirtschaftlich organisierten Repression gegen Sozialisten und Gewerkschaftler ist das Rutenbündel, das Fasces. Mit dem Fasces hatten im antiken Rom die Bodyguards den bedeutenden Politikern ihren Weg durch die Menschenmenge gebahnt. Auf die Ruten aufgepflanzt ein Beil. Wer nun dem Politiker Verwünschungen entgegenschleuderte, bekam vielleicht mal eins mit der Rute übergezogen. Wer aber dem Senator an Leib und Leben wollte, bekam möglicherweise mit der Axt den Schädel gespalten. Sehr anheimelnd. In Bezugnahme auf diese schöne alte Sitte aus dem antiken Rom wählten die Mussolini-Schläger das Rutenbündel zu ihrem Wahrzeichen. Eine klare programmatische Aussage, die Mussolini in einer Ansprache in Neapel am 24. Oktober 1922 auf den Punkt brachte: „Unser Programm ist einfach: wir wollen Italien beherrschen!“ <4>
Am 15. August 1921 ergab eine weitere Parlamentswahl für die neue „bürgerliche“ Einheitsliste blocco nazionale 20 Prozent, während die PSI beträchtliche Stimmenverluste hinnehmen musste. Im nationalen Block waren Mussolinis Faschisten mit 34 Parlamentssitzen huckepack mitgenommen worden. Ein erster Einstieg in die Institutionen. Anlass genug, im November 1921 endlich die Partito Nazionale Fascista zu gründen. Der Staatsapparat und die italienischen Unternehmer wollen den Vormarsch der Faschisten an die Macht. Kontakte werden hergestellt zum Generalstab des italienischen Militärs, zu General Badoglio. Zum Papst, der den PPI-Vorsitzenden Sturzo zum Rückzug nötigt. Auch zur Regierung gibt es regelmäßige Kontakte. Mussolini ist als der neue starke Mann schon lange vorbestimmt. Im März 1922 macht Mussolini eine Auslandsreise, die ihn unter anderem nach Berlin führt. Dort trifft er sich schon ganz staatsmännisch mit Reichskanzler Joseph Wirth, mit Außenminister Walther Rathenau, mit Gustav Stresemann und mit dem einflussreichen liberalen Journalisten Theodor Wolff.
Währenddessen suchen seine blutrünstigen squadres, organisierte Mörderbanden in schwarzen Hemden und Feuerwaffen, eine linke Hochburg nach der anderen auf und hinterlassen eine Spur des Entsetzens, mit Toten und Verletzten. Der Staatsapparat sieht indes keinen Handlungsbedarf. Die Regierung ist entweder zu schwach oder aber vollkommen unwillig, vom Gewaltmonopol Gebrauch zu machen. In einem letzten Aufbäumen organisiert die Linke am 1. August 1922 einen Generalstreik, der aber am bereits am 3. August aufgrund martialischer Drohungen der Mussolini-Recken abgeblasen wird.
Das war’s. Jetzt ist der Weg frei für die offene Machtergreifung durch die Faschisten auf Rom. Die Faschisten-Partei PNF hat am 28. Oktober 1922 noch einen Parteitag, den Mussolini in Richtung Mailand verlässt. Der Marsch auf Rom ist angekündigt. Ministerpräsident Luigi Facta, ein Mann der Liberalen, schwach und unentschlossen, will zunächst nicht Armee und Polizei mobilisieren, um die Faschisten zu bremsen. Kurz vor dem Marsch auf Rom ersucht er dann doch den König Viktor Emmanuel III., einen labilen Mann mit einer Körpergröße von 1,53 Meter, den Ausnahmezustand zu verhängen. Doch der Monarch weigert sich. So marschieren, je nach Berichterstatter, zwischen 5.000 und 35.000 Mussolini-Faschisten am 28. Oktober in Rom ein. Mussolini wird derweil in Mailand von den maßgebenden Unternehmern dringend aufgefordert, in Rom die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Mussolinis heroischer Marsch nach Rom sieht so aus, dass er im Nachtexpress im Pyjama schlafend die Strecke von Mailand absolviert und am Morgen des 30. Oktobers erst mal im Hotel eincheckt, um sich dann im Schwarzhemd zum König zu begeben. Viktor Emmanuel ernennt den Duce zum neuen Regierungschef, der daraufhin, wiederum nach heroischem Kampf, am 31. Oktober eine „Siegesparade“ abnimmt.
Eine einzige Slapstick-Nummer. Keiner kümmert sich mehr um irgendwelche demokratisch-parlamentarischen Regeln. Vielmehr sind die Regeln der Demokratie den Mächtigen Italiens einfach zu blöd. Wie ein Kind, das ein Brettspiel in genau dem Moment mitsamt dem Tisch umschmeißt, wenn das Spiel zu seinen Ungunsten ausgehen könnte. Die Politik der blanken Faust. Nun vereinigt sich die faschistische PNF noch mit der rechtskonservativen Assoziatione Nazionalista Italiana, was Mussolinis Partei plötzlich zu einer Massenpartei anschwellen lässt. Im November 1923 darf das neu gewählte Parlament dann seine eigene Entmachtung durch das Acerbo-Gesetz beschließen. Das Acerbo-Gesetz legt fest, dass die relativ stärkste Partei nach der Wahl automatisch zwei Drittel der Abgeordneten-Mandate zugeteilt bekommt. Nach dieser Selbstentmachtung wollen sich die Abgeordneten im Dezember 1923 wieder treffen. Doch der König schickt sie wieder nach hause. Bei der Neuwahl nach dem Acerbo-Gesetz am 6. April 1924 hat Mussolini jetzt endlich seine erschlichene Zweidrittel-Mehrheit, um Italien nach eigenem Bilde zu formen.
Doch gibt es eine hässliche Episode, die den Duce fast um die Früchte seiner Bemühungen gebracht hätte. Denn der Abgeordnete Giacomo Matteotti, seines Zeichens Generalsekretär der gemäßigt sozialdemokratischen Turati-Partei PSU, hält im manipulierten Mussolini-Parlament eine extrem mutige Rede. Er entlarvt kriminelle Machenschaften und Manipulationen rund um die letzte Parlamentswahl. Er deutet auch die Beziehungen der Mussolini-Faschisten zu US-amerikanischen Konzernen an. Zum Beispiel spricht er über die Unterstützung der Faschisten durch den Ölkonzern Standard Oil. Das hätte er wohl besser nicht machen sollen. Denn am 10. Juni 1924 zerren sechs Herren Matteotti vom Trottoir in ein Auto, fahren mit ihm an den Stadtrand, um ihn dort zu ermorden. Dieser Mord löst selbst bei Liberalen und Konservativen große Empörung aus. Doch Mussolini tritt vollkommen abgebrüht im Parlament auf und übernimmt die gesamte persönliche Verantwortung für das Verbrechen. Und regiert munter weiter. Niemand kann oder will ihn daran hindern. Wie heißt es so schön? Was wir hier sehen, ist die „normative Kraft des Faktischen“ in voller Aktion.
Der aufrechte sozialistische Abgeordnete Matteotti hat die Faschisten an einer extrem verwundbaren Stelle erwischt und damit sein eigenes Todesurteil ausgesprochen. Der US-amerikanische Konzern Standard Oil und die hinter ihm stehende Rockefeller-Dynastie sind hier nur ein Synonym für den beträchtlichen Anteil, den angloamerikanische Machtzentren am raketenhaften Aufstieg des Duce unstreitig hatten.
Der Mord an Matteotti ist nicht nur die Wegscheide von der „kontitutionellen“ Phase der Mussolini-Herrschaft hinein in die totalitäre faschistische Dikatur. Er ist zudem der Beginn der Öffnung italienischer Ressourcen und Märkte für das angloamerikanische Kapital. Denn der Reformsozialist Matteotti weiß entscheiden zu viel über die Kungeleien Mussolinis mit britischen und amerikanischen Ölkonzernen. Die Ölfirma Sinclair Oil hat mit dem Duce heimlich Verträge abgeschlossen, die geltendem italienischem Recht eklatant widersprechen <5>. Obwohl es ausländischen Konzernen verboten war, in Italien Öl zu schöpfen, erlaubte Mussolini der Sinclair Oil Explorationen in Sizilien und in der Emilia Romagna. Matteotti hatte in London von hohen Funktionären der britischen Labour Partei entsprechende Dokumente ausgehändigt bekommen, die Matteotti im italienischen Parlament sodann der Öffentlichkeit zugänglich machen wollte. Wäre ihm das gelungen, dann wäre Mussolini politisch erledigt gewesen. Also musste Matteotti mitsamt der kompromittierenden Akten von der Bildfläche verschwinden. Die Dokumente hätten auch offengelegt, dass sich hinter Sinclair Oil sowohl Standard Oil als auch die britische Anglo-Persian Oil Company verbargen. Das ist besonders delikat, weil Standard Oil den Konkurrenten Sinclair Oil gerade ein Jahr zuvor aus dem Geschäft mit der sowjetischen Ölgesellschaft Azneft herausgekickt hat, wobei auch der US-Präsident Harding unter rätselhaften Umständen zu Tode kam <6>.
Hinter Sinclair und Standard Oil stand das damals weltweit mächtigste Bankhaus JP Morgan. Seit der Machtübernahme in Washington durch die Republikaner im Jahre 1921 hatte sich die Regierung der USA praktisch aus der aktiven Gestaltung der Außenpolitik verabschiedet. Jene elf Jahre bis zur erneuten Regierungsverantwortung durch die Demokraten gingen in die Geschichtsbücher ein als die Ära der vermeintlichen „amerikanischen Isolation“. Tatsächlich wurde aber die amerikanische Außenpolitik in jenen Jahren von den Großbanken der Wall Street gestaltet. Abgespeckt und reduziert auf die nackte Geopolitik des maximalen Profits. So verwarfen die USA zwar die Regelungen des Vertrags von Versailles. Die Methode, stattdessen Europa durch Mega-Kredite gewaltlos einzukaufen, erwies sich als äußerst effizient. In Folge des Dawes-Planes flossen rund 110 Millionen US-Dollar in die deutsche Wirtschaft und sorgten für die Roaring Twenties. Die 110 Millionen Dollar kann man nach heutigem Kurswert getrost in 110 Milliarden Dollar übersetzen. Und auch die erheblich kleinere Wirtschaft Italiens erhielt durch das Bankenkonsortium um JP Morgan die stolze Summer von 100 Millionen US-Dollar ausgeliehen <7>. Dazu musste Mussolini jetzt stabile politische Verhältnisse als Gegenleistung garantieren. Der Kredit aus Übersee erfolgte also exakt nach der Ermordung Matteottis, als der offene italienische Faschismus in den geschlossenen Faschismus überging <8>. Der starke Mann bei JP Morgan war Thomas Lamont. Lamont zirkulierte durch die europäischen Hauptstädte, um mit den Regierungen das optimale Investitionsklima festzulegen. Ihm folgte sodann der Wall-Street-Wirtschaftsanwalt John McCloy von der Kanzlei Cravath, Henderson & de Gersdorff. McCloy blieb sogar ein ganzes Jahr in Rom, um den Duce so kompetent wie möglich bei der Anlage der amerikanischen Mega-Kredite zu beraten <9>. Es folgten die Goldenen Jahre des Mussolini-Faschismus. Wie von Zauberhand schien dem Duce nunmehr alles zu gelingen. Politiker, Wissenschaftler, Presseleute und Wirtschaftsführer antichambrierten und wieselten um den großen Mussolini. Churchill besuchte Mussolini und wusste zu berichten, dass für England der Faschismus nicht nötig sei <10>. Aber für ein derart vom Bolschewismus bedrängtes Land wie Italien sei der Faschismus genau das Richtige. Der Direktor der New Yorker Columbia-Universität, Nicolas Murray Butler, war oft bei seinem Freund Benito zu Besuch und empfahl ex cathedra eine solche Regierungsform auch für die USA <11>.
Das nahmen sich dann auch mächtige Oligarchen in den USA zu Herzen. Als zum Entsetzen der US-Eliten im Jahre 1932 der Demokrat Franklin Delano Roosevelt den Amtsinhaber Herbert Hoover mit einem Erdrutschsieg hinwegfegte, versuchten sie, Roosevelt schon vor seiner Vereidigung durch ein Attentat aus dem Weg zu räumen. Als das misslang, versuchten die selben Oligarchen im Jahre 1934 Roosevelt durch einen Putsch zu entmachten und den legendären General der Marine Corps, Smedley Butler, als Mussolini-Kopie in Washington zu installieren. Doch Butler blieb loyal und informierte Roosevelt über die faschistischen Putsch-Pläne. Roosevelt machte keinen großen Wind aus dieser Geschichte <12>. Aber er nahm von nun an die Außenpolitik in die eigenen Hände. Und die Oligarchen von der Wall Street stürzten sich ab jetzt auf Deutschland, das mittlerweile faschistisch regiert wurde und dabei weit attraktivere Investitionsmöglichkeiten bot wie Italien. Und so kommt es, dass sich die Historiker immer noch wundern, warum ab den frühen 1930er Jahren plötzlich der italienische Mussolini-Faschismus massiv an Dynamik verliert. Und fragen sich zudem, warum Italien in seinen diversen Kriegen auf der ganzen Linie versagt hat. Während zur gleichen Zeit die Wehrmacht, ausgestattet mit neuester amerikanischer Technologie, die Welt das Fürchten lehrt.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs ist auch der Hitler-Faschismus zusammengebrochen und kann Musolini nicht länger beschützen. Mussolini wird von antifaschistischen Partisanen aufgegriffen. Sie erschießen ihn und knüpfen ihn dann mit den Füßen nach oben und Kopf nach unten an einem Laternenpfahl.
Wir lernen aus der Geschichte, wie wir die Zukunft besser machen.
Quellen und Anmerkungen:
<1> Sebastian Haffner: Der Teufelspakt. S.7ff
<2> https://www.youtube.com/watch?v=11r1ZGsumJ4
<3> https://www.theguardian.com/world/2009/oct/13/benito-mussolini-recruited-mi5-italy
<4> https://schmid.welt.de/2019/05/09/mussolinis-instinkt-in-deutschland-dauerte-es-nach-dem-ersten-weltkrieg-14-jahre-bis-das-land-endgueltig-eine-totalitaere-wendung-nahm-in-italien-ging-das-viel-schneller/
<5> https://primolevicenter.org/printed-matter/the-matteotti-murder-and-the-origins-of-mussolinis-totalitarian-fascist-regime-in-italy/
<6> https://apolut.net/history-der-raetselhafte-tod-des-praesidenten-harding/
<7> https://en.wikipedia.org/wiki/Thomas_W._Lamont
<8> Ich erlaube mir hier eine Analogie aus dem deutschen Strafvollzug: offener und geschlossener Strafvollzug. Offener Faschismus ist demzufolge eine Herrschaft durch Faschisten, bei der Instrumente der repräsentativen Demokratie zumindest formal noch existent sind. Die Faschisten aber bereits das letzte Wort haben. Demgegenüber sind beim geschlossenen Faschismus alle Institutionen der Demokratie auch offiziell abgeschafft. Es herrschen totalitäre Verhältnisse vor.
<9> Walter Isaacson/Evan Thomas: The Wise Men. Six Friends and the world they made. 1986 New York. S. 122
<10> https://www.nytimes.com/1927/01/21/archives/churchill-extols-fascismo-for-italy-he-declares-it-has-taught-the.html
<11> Hermann Ploppa: Hitlers Amerikanische Lehrer. Die Eliten der USA als Geburtshelfer des Nationalsozialismus. Marburg 2016. S.55/56
<12> https://apolut.net/history-der-misslungene-putsch-gegen-praesident-roosevelt/
Erstveröffentlichung am 30. Januar 2023 bei apolut
Online-Flyer Nr. 806 vom 01.02.2023