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Kommentar
Internationaler Tag der Erziehung am 24. Januar: Albert Camus‘ Brief an seinen Lehrer
Aufgabe des Lehrers: Verstehen und helfen
Von Rudolf Hänsel
Am 24. Januar ist „Internationaler Tag der Erziehung / Internationaler UN-Tag der Bildung / Welttag Bildung“. An diesem Aktionstag, der erstmals 2019 begangen wurde, soll die Rolle der Bildung für Frieden und Entwicklung sowie als öffentliches Gut gewürdigt werden. Als Pädagoge und Psychologe möchte ich zu diesem Tag den Brief des Nobelpreisträgers Albert Camus an seiner Lehrer Monsieur Germain vom 19. November 1957 und einen Auszug aus der Antwort seines Lehrers am 30. April 1959 zitieren. Beide Briefe wurden im Anhang von Albert Camus‘ Roman „Der erste Mensch“ veröffentlicht (1).
Brief von Albert Camus an seinen Lehrer (19. November 1957)
Lieber Monsieur Germain, ich habe den Lärm sich etwas legen lassen, der in diesen Tagen um mich war, ehe ich mich ganz herzlich an Sie wende. Man hat mir eine viel zu große Ehre erwiesen, die ich weder erstrebt noch erbeten habe. Doch als ich die Nachricht erhielt, galt mein erster Gedanke, nach meiner Mutter, Ihnen. Ohne Sie, ohne Ihre liebevolle Hand, die Sie dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen. Ich mache um diese Art Ehrung nicht viel Aufhebens. Aber diese ist zumindest eine Gelegenheit, Ihnen zu sagen, was Sie für mich waren und noch immer sind, und um Ihnen zu versichern, dass Ihre Mühen, die Arbeit und die Großherzigkeit, die Sie eingesetzt haben, immer lebendig sind bei einem Ihrer kleinen Zöglinge, der trotz seines Alters nicht aufgehört hat, Ihr dankbarer Schüler zu sein. Ich umarme Sie von ganzem Herzen.
Auszug aus der Antwort des Lehrers (Algier, 30. April 1959)
Mein lieber Kleiner, (...) Ich finde keinen Ausdruck für die Freude, die Du mir mit Deiner reizenden Geste und der Art, dich zu bedanken, gemacht hast. Wenn es möglich wäre, würde ich den großen Jungen, der du geworden, und der für mich immer „mein kleiner Camus“ bleiben wird, fest an mich drücken. (...) Der Pädagoge, der seinen Beruf gewissenhaft ausüben will, läßt keine Gelegenheit aus, die Schüler, seine Kinder kennenzulernen, und sie bietet sich ständig. Eine Antwort, eine Geste, eine Haltung sind äußerst aufschlußreich. Ich glaube also, den netten kleinen Kerl, der Du warst, gut zu kennen, und das Kind enthält im Keim oft den Mann, der es werden wird. Deine Freude an der Schule war überall spürbar. Dein Gesicht verriet Optimismus. Und wenn ich Dich beobachtete, habe ich nie etwas von der wirklichen Situation Deiner Familie geahnt. (...)
Fußnote:
(1) Camus, Albert (1995). Der erste Mensch. Reinbek bei Hamburg, S. 376ff.
English version:
International Education Day on 24 January: Albert Camus' Letter to his Teacher
The Teacher's Task: Understanding and Helping
By Dr. Rudolf Hänsel
On 24 January is: “International Day of Education / UN International Day of Education / World Day of Education”. This day of action, first observed in 2019, aims to recognise the role of education in peace and development and as a public good. As an educator and psychologist, I would like to quote on this day the letter of the Nobel Prize winner Albert Camus to his teacher Monsieur Germain on 19 November 1957 and an extract from his teacher's reply on 30 April 1959. Both letters were published in the appendix of Albert Camus' novel “The First Man” (1).
Letter of Albert Camus to his teacher (19 November 1957)
Dear Monsieur Germain, I have allowed the noise that has been around me these days to subside somewhat before addressing you most sincerely. I have been paid far too great an honour which I neither sought nor asked for. But when I received the news, my first thought, after my mother, was of you. Without you, without your loving hand extended to the poor little child that I was, without your instruction and example, none of this would have happened. I don't make much fuss about this kind of tribute. But this is at least an opportunity to tell you what you were and still are to me, and to assure you that your efforts, the work and the generosity you put in are always alive in one of your little pupils who, despite his age, has not ceased to be your grateful disciple. I embrace you with all my heart.
Extract of the Teacher's reply (Algiers, 30 April 1959)
My dear little one, (...). I cannot find an expression for the joy you gave me with your lovely gesture and the way you thanked me. If it were possible, I would hug tightly the big boy you have become and who will always remain for me "my little Camus". (...). The teacher who wants to do his job conscientiously never misses an opportunity to get to know his pupils, his children, and it is constantly offered. A response, a gesture, an attitude are extremely revealing. So I think I know well the nice little fellow you were, and the child often contains in its germ the man it will become. Your joy at school was palpable everywhere. Your face betrayed optimism. And when I watched you, I never suspected anything about the real situation of your family. (...).
Footnote:
(1) Camus, Albert (1995). The first man. Reinbek bei Hamburg, p. 376ff.
Dr. Rudolf Lothar Hänsel ist Schul-Rektor, Erziehungswissenschaftler (Dr. paed.) und Psychologe (Dipl.-Psych.). Nach seinen Universitätsstudien wurde er wissenschaftlicher Lehrer (Professor) in der Erwachsenenbildung: unter anderem Leiter eines freien Schul-Modell-Versuchs und Fortbildner bayerischer Beratungslehrkräfte und Schulpsychologen. Als Pensionär arbeitete er als Psychotherapeut in eigener Praxis. Bei einer Öffentlichen Anhörung zur Jugendkriminalität im Europa-Parlament war er Berichterstatter für Deutschland. In seinen Büchern und Fachartikeln fordert er eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung sowie eine Erziehung zu Gemeinsinn und Frieden. Für seine Verdienste um Serbien bekam er 2021 von den Universitäten Belgrad und Novi Sad den Republik-Preis „Kapitän Misa Anastasijevic“ verliehen.
Dr. Rudolf Lothar Hänsel is a school rector, educationalist (Dr. paed.) and psychologist (Dipl.-Psych.). After his university studies, he became an academic teacher (professor) in adult education: among other things, he was head of an independent school model trial and in-service trainer of Bavarian guidance counsellors and school psychologists. As a retiree, he worked as a psychotherapist in private practice. He was rapporteur for Germany at a public hearing on juvenile delinquency in the European Parliament. In his books and articles, he calls for a conscious ethical-moral education and an education for public spirit and peace. For his services to Serbia, he was awarded the Republic Prize "Captain Misa Anastasijevic" by the Universities of Belgrade and Novi Sad in 2021.
Online-Flyer Nr. 806 vom 01.02.2023
Internationaler Tag der Erziehung am 24. Januar: Albert Camus‘ Brief an seinen Lehrer
Aufgabe des Lehrers: Verstehen und helfen
Von Rudolf Hänsel
Am 24. Januar ist „Internationaler Tag der Erziehung / Internationaler UN-Tag der Bildung / Welttag Bildung“. An diesem Aktionstag, der erstmals 2019 begangen wurde, soll die Rolle der Bildung für Frieden und Entwicklung sowie als öffentliches Gut gewürdigt werden. Als Pädagoge und Psychologe möchte ich zu diesem Tag den Brief des Nobelpreisträgers Albert Camus an seiner Lehrer Monsieur Germain vom 19. November 1957 und einen Auszug aus der Antwort seines Lehrers am 30. April 1959 zitieren. Beide Briefe wurden im Anhang von Albert Camus‘ Roman „Der erste Mensch“ veröffentlicht (1).
Brief von Albert Camus an seinen Lehrer (19. November 1957)
Lieber Monsieur Germain, ich habe den Lärm sich etwas legen lassen, der in diesen Tagen um mich war, ehe ich mich ganz herzlich an Sie wende. Man hat mir eine viel zu große Ehre erwiesen, die ich weder erstrebt noch erbeten habe. Doch als ich die Nachricht erhielt, galt mein erster Gedanke, nach meiner Mutter, Ihnen. Ohne Sie, ohne Ihre liebevolle Hand, die Sie dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen. Ich mache um diese Art Ehrung nicht viel Aufhebens. Aber diese ist zumindest eine Gelegenheit, Ihnen zu sagen, was Sie für mich waren und noch immer sind, und um Ihnen zu versichern, dass Ihre Mühen, die Arbeit und die Großherzigkeit, die Sie eingesetzt haben, immer lebendig sind bei einem Ihrer kleinen Zöglinge, der trotz seines Alters nicht aufgehört hat, Ihr dankbarer Schüler zu sein. Ich umarme Sie von ganzem Herzen.
Auszug aus der Antwort des Lehrers (Algier, 30. April 1959)
Mein lieber Kleiner, (...) Ich finde keinen Ausdruck für die Freude, die Du mir mit Deiner reizenden Geste und der Art, dich zu bedanken, gemacht hast. Wenn es möglich wäre, würde ich den großen Jungen, der du geworden, und der für mich immer „mein kleiner Camus“ bleiben wird, fest an mich drücken. (...) Der Pädagoge, der seinen Beruf gewissenhaft ausüben will, läßt keine Gelegenheit aus, die Schüler, seine Kinder kennenzulernen, und sie bietet sich ständig. Eine Antwort, eine Geste, eine Haltung sind äußerst aufschlußreich. Ich glaube also, den netten kleinen Kerl, der Du warst, gut zu kennen, und das Kind enthält im Keim oft den Mann, der es werden wird. Deine Freude an der Schule war überall spürbar. Dein Gesicht verriet Optimismus. Und wenn ich Dich beobachtete, habe ich nie etwas von der wirklichen Situation Deiner Familie geahnt. (...)
Fußnote:
(1) Camus, Albert (1995). Der erste Mensch. Reinbek bei Hamburg, S. 376ff.
English version:
International Education Day on 24 January: Albert Camus' Letter to his Teacher
The Teacher's Task: Understanding and Helping
By Dr. Rudolf Hänsel
On 24 January is: “International Day of Education / UN International Day of Education / World Day of Education”. This day of action, first observed in 2019, aims to recognise the role of education in peace and development and as a public good. As an educator and psychologist, I would like to quote on this day the letter of the Nobel Prize winner Albert Camus to his teacher Monsieur Germain on 19 November 1957 and an extract from his teacher's reply on 30 April 1959. Both letters were published in the appendix of Albert Camus' novel “The First Man” (1).
Letter of Albert Camus to his teacher (19 November 1957)
Dear Monsieur Germain, I have allowed the noise that has been around me these days to subside somewhat before addressing you most sincerely. I have been paid far too great an honour which I neither sought nor asked for. But when I received the news, my first thought, after my mother, was of you. Without you, without your loving hand extended to the poor little child that I was, without your instruction and example, none of this would have happened. I don't make much fuss about this kind of tribute. But this is at least an opportunity to tell you what you were and still are to me, and to assure you that your efforts, the work and the generosity you put in are always alive in one of your little pupils who, despite his age, has not ceased to be your grateful disciple. I embrace you with all my heart.
Extract of the Teacher's reply (Algiers, 30 April 1959)
My dear little one, (...). I cannot find an expression for the joy you gave me with your lovely gesture and the way you thanked me. If it were possible, I would hug tightly the big boy you have become and who will always remain for me "my little Camus". (...). The teacher who wants to do his job conscientiously never misses an opportunity to get to know his pupils, his children, and it is constantly offered. A response, a gesture, an attitude are extremely revealing. So I think I know well the nice little fellow you were, and the child often contains in its germ the man it will become. Your joy at school was palpable everywhere. Your face betrayed optimism. And when I watched you, I never suspected anything about the real situation of your family. (...).
Footnote:
(1) Camus, Albert (1995). The first man. Reinbek bei Hamburg, p. 376ff.
Dr. Rudolf Lothar Hänsel ist Schul-Rektor, Erziehungswissenschaftler (Dr. paed.) und Psychologe (Dipl.-Psych.). Nach seinen Universitätsstudien wurde er wissenschaftlicher Lehrer (Professor) in der Erwachsenenbildung: unter anderem Leiter eines freien Schul-Modell-Versuchs und Fortbildner bayerischer Beratungslehrkräfte und Schulpsychologen. Als Pensionär arbeitete er als Psychotherapeut in eigener Praxis. Bei einer Öffentlichen Anhörung zur Jugendkriminalität im Europa-Parlament war er Berichterstatter für Deutschland. In seinen Büchern und Fachartikeln fordert er eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung sowie eine Erziehung zu Gemeinsinn und Frieden. Für seine Verdienste um Serbien bekam er 2021 von den Universitäten Belgrad und Novi Sad den Republik-Preis „Kapitän Misa Anastasijevic“ verliehen.
Dr. Rudolf Lothar Hänsel is a school rector, educationalist (Dr. paed.) and psychologist (Dipl.-Psych.). After his university studies, he became an academic teacher (professor) in adult education: among other things, he was head of an independent school model trial and in-service trainer of Bavarian guidance counsellors and school psychologists. As a retiree, he worked as a psychotherapist in private practice. He was rapporteur for Germany at a public hearing on juvenile delinquency in the European Parliament. In his books and articles, he calls for a conscious ethical-moral education and an education for public spirit and peace. For his services to Serbia, he was awarded the Republic Prize "Captain Misa Anastasijevic" by the Universities of Belgrade and Novi Sad in 2021.
Online-Flyer Nr. 806 vom 01.02.2023