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Literatur
Aus "Liebe in Konstantinopel. Reales und Fiktives aus dem familiären Schatzkästlein"
Staatsbürgerurkunde (1985)
Von Wilma Ruth Albrecht

An einem verregneten Mittwoch im Frühjahr 1985 öffnete Selma kurz vor der Mittagszeit hastig die Flügeltür zum Mannheimer Einwohnermeldeamt, das sich in einem der K-Quadrate gegenüber dem linken Ufer des Neckars befand. Es war viertel vor zwölf. Fast hätte sie vor geschlossener Tür gestanden. Dabei wollte sie doch auf dem Wege zum Amt nur kurz bei ihrer hochbetagten Tante, die in dem städtischen Altenheim in E 5, der Lazarettstraße, wohnte vorbeischauen und „Guten Tag“ sagen.

Die traf sie auch im dunkelblauen Wintermantel aus schwerem Stoff, der den geschrumpften Körper fast nieder zu drücken schien, und mit Pelzhut über dem Faltengesicht zum Ausgehen bereit an. „Du kommst mir gerade recht“, meinte die Greisin. „Ich will nachgucken, ob die schon die Hinterhäuser abgerissen haben und außerdem, wie das jetzt so aussieht.“

Gemeint waren die verschachtelten Wohngebäude, die sich als Seiten- und Querflügel hinter den Hauptgebäuden der Straßenfront tief in die schmalen Parzellen zwängten und über eine mehr oder minder breite Toreinfahrt und einen gepflasterten feuchten Hof mit Trennmauer als Grundstückgrenze zu erreichen waren.

In einem dieser Hinterhofgebäuden in H 7, der Jungbuschstraße, hatte die Tante länger als ein halbes Jahrhundert gewohnt und die buntesten Alltagsstrategien der kleinen Leute mit- und überlebt. Doch mit dieser scheinidyllischen Hinterhofwelt sollte nun Schluss gemacht werden. Sie wurde niedergerissen, um neuer Bebauung Platz zu machen. „Einfamilienhäuser, Reihenhäuser sollen dahin gebaut werden. Das mitten in der Innenstadt, so ein Quatsch“, urteilte die alte Tante und erkannte klar: “Ein altes Armeleuteviertel bleibt ein Armeleuteviertel.“

Der folgende kleine Ausflug in die Vergangenheit erwies sich jedoch für die Greisin nicht nur körperlich als sehr beschwerlich sondern dazu noch als unergiebig. Die Fassaden der Vorderhäuser waren eingerüstet und zugehängt, die Toreinfahrten mit Sperrgittern versehen und die Straße selbst teils aufgerissen. Vergebens schaute sie auch nach alten Bekannten aus, waren doch schon seit Jahren die Namens- und Geschäftsschilder der Ottmanns, Mercators und Simons durch die der Ragamutos, der Paschalidis oder der Ünalans ersetzt. Doch der alten Frau wurde dies erst in dem Moment bewusst, als sie vor dem ehemaligen kleinen gekachelten Milchgeschäft stand, das nun eine türkische Teestube, die nur von Männern besucht war, auswies.

„Lass uns umkehren“, äußerte sie knapp gegenüber der Nichte. Schweren Schritts und – im Verständnis der Nichte - quälend langsam ging es zurück ins Altenheim, das in eine andere Welt zu führen schien, obwohl es nur zwei Straßenecken entfernt lag.

´Glücklicherweìse habe ich das Amt noch während seiner Öffnungszeiten erreicht`, dachte Selma. `Ich hab´s ihm doch versprochen.`

Sie wollte – wie versprochen - die Staatsbürgerurkunde, die ihr Mann vor sechs Wochen beantragt hatte, abholen. Eigentlich war es den beiden ziemlich gleichgültig, ob sie Deutsche, Franzosen, Griechen oder Tschechen waren. Sie lebten nun einmal in diesem Land, der BeErDe, und diese Staatsbürgerurkunde wurde für eine offizielle - nach einer persönlichen Vorstellung als aussichtsreich erscheinende - Bewerbung auf eine Universitätsstelle benötigt. Die Bearbeitungsgebühr von mehreren Zehn-DeeM-Scheinen war auch schon bezahlt worden.

Erfreulicherweise gab es keinen Publikumsandrang. So näherte sie sich, versehen mit der Vollmacht ihres Mannes, dessen und ihrem eigenen Personalausweis einer tresenähnlichen hölzernen Absperrung, die den öffentlichen von dem dahinter liegenden Dienstraum, der mit Schreibtischen und –stühlen, Büroschränken und den entsprechenden technischen Apparaten vollgestopft war, absperrte. Sie stellte sich genau an die Stelle, über der das Plastikschild mit den Großbuchstaben A-F an einer Metallkette baumelte.

Kurz darauf erhob sich ein städtischer Bediensteter mit mittelbrauner Hornbrille im Gesicht, in einen zu dieser Zeit schon lange aus der Mode gekommenen braunen zerknautschen Cordanzug gezwängt, unter dem ein rostrotes Flanellhemd hervorschaute, und näherte sich der Absperrung mit der Frage: „Sie wünschen?“

„Ich möchte die beantragte Staatsbürgerurkunde meines Mannes, der leider verhindert ist, abholen.“

„Name! Wohnort! Ausweis!“ stieß sachlich knapp der Beamtenmund aus. Selma beantworte die Fragen und zeigte den gültigen Personalausweis. Der Beamte nahm die Angaben entgegen und blickte kurz prüfend den Ausweis, um sich mit einen „Einen Augenblick, ich schaue nach“, in einen seitlich gelegenen verglasten Holzverschlag zu verziehen.

Einige Minuten später kam er mit einem stumpfgelben, vom Gummizug gelösten dünnen Aktenumschlag zurück, in dem sich wohl das begehrte Dokument befinden musste. Mit misstrauischem Blick wandte er sich der Frau zu und verkündete knapp: „Dem Begehren wurde nicht stattgegeben, weil er die Voraussetzungen zur Ausstellung einer deutschen Staatsbürgerurkunde nicht erfüllt.“ „Wie bitte?“ meinte Selma völlig verdutzt. „Wieso denn das? Sehen sie doch selbst noch einmal in den Personalausweis meines Mannes.“

Sie schlug ihn auf und zeigte mit dem rot lackierten Nagel des Zeigefinders genau auf die Stelle, wo unter ´Staatsangehörigkeit` klar und deutlich ´deutsch` eingestanzt stand.

„Nun ja, so ganz war mir das bislang auch nicht klar“, äußerte der sichtlich verunsicherte städtische Beamte. „Aber in dem Schreiben der übergeordneten Behörde heißt es als Begründung“ – er nahm ein sichtlich zweifach gefaltetes und nun geglättetes Schreiben aus der Kladde und las vor: „Der Bundespersonalausweis oder der Reisepass sind kein Nachweis über den Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit. Sie begründen lediglich die Vermutung, dass der Ausweisinhaber die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.“

„Das gibt es doch gar nicht. Unglaublich...“, empörte sich Selma. „Mein Mann lebt seit seiner Geburt in Deutschland. Er hat hier Schulen und Universitäten besucht, besitzt das Wahlrecht, das er auch ausübt, ist mit ebenfalls einer Deutschen, nämlich mir, verheiratet und soll dennoch kein Deutscher sein! Wo gibt es denn so etwas?“

„Ja, wenn es aber die Regierung geschrieben hat....“, meinte fast entschuldigend das Gegenüber, „wird es ja wohl stimmen.“ Dann las er weiter: „Der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit wird dem Antragsteller bestätigt, wenn er nachweist oder zumindest glaubhaft macht, dass er und gegebenenfalls die Personen, von denen er seine Staatsangehörigkeit ableitet, spätestens seit dem 1.1.1938 von deutschen Stellen als deutscher Staatsangehöriger behandelt wurden.“ Und erklärend kam es in holprigem Beamtendeutsch daher: „Die Entscheidung stützt sich auf Artikel 116 Grundgesetz und auf das Reichs- und Staatsangehörigengesetz vom 27.7.1913. Danach setzt der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit voraus, dass im Falle des ehelichen Kindes ein Elternteil, im Falle des nichtehelichen Kindes die Mutter Deutsche ist.“

„Ja und? Wo soll da das Problem liegen?“, warf fragend die sichtlich verärgerte Frau ein.

Der Beamte ließ sich jedoch nicht unterbrechen: „Der Antragsteller ist wohl im Deutschen Reich am 4.5.1945 in Apolda geboren und bis zu seiner Volljährigkeit in Hamburg aufgewachsen. Dies begründet jedoch keine deutsche Staatsangehörigkeit, da diese in Deutschland auf dem ius sanguinis beruht. Bei der ehelosen Mutter des Antragsstellers konnte auch nicht zweifelsfrei die deutsche Staatsangehörigkeit nachgewiesen werden. Vielmehr ist diese 1914 in Konstantinopel geboren und aus einer 1912 geschlossenen Mischehe zwischen dem sich in der Zeit von 1910-1915 ebendort aufhaltenden Hamburger Kaufmann Hans A. und der Angehörigen des Osmanischen Reiches Maria Hermine P. hervorgegangen. Die Tatsache, dass beide sich seit 1915 im Deutschen Reich niedergelassen hatten, begründet – wie zuvor ausgeführt – auch keine deutsche Staatsangehörigkeit des Antragstellers. Auch wurde nicht nachgewiesen, dass der Antragsteller seit 1938 von deutschen Stellen als deutscher Staatsbürger behandelt wurde, denn seine Geburtsurkunde wurde von Behörden der US-Militärregierung ausgestellt. In der Bundeswehr hat er auch nicht gedient.“

So spulte der Beamte noch einige Sätze herunter, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass die „Ausstellung einer Staatsbürgerurkunde für den Antragssteller einer Ablehnung unterliegen muss“.

„Mensch Maier, das wird ja immer toller“, entfuhr es der Frau, „Unser Staatsbürgerschaft fußt auf Kaiser- und Nazirecht.“

„Nun aber halblang, sonst sind sie wegen Verunglimpfung unserer Demokratie dran“, wies der Beamte sie zurecht und warf einen Blick auf die über dem Eingangsportal hängende Uhr, deren Zeiger sich langsam auf die Zwölf zu bewegte.

„Kann ich das Schreiben wenigstens mitbekommen?“ erkundigte sich die Frau.

„Nein“, meinte der Beamte kopfschüttelnd, „können Sie nicht, denn es ist an unser Amt adressiert. Ich kann nichts weiteres für Sie tun. Und außerdem schließen wir jetzt“, ermahnte er und beendete das Gespräch.

Zuhause angekommen, war das Erste, was Robert zu hören bekam: „Ich wusste gar nicht, dass deine Oma und deine Mutter Türkinnen sind.“ „So ein Quatsch“, lautete die wirsche Antwort, „meine Oma ist Armenierin. Sie sprach, soweit ich weiß, gar nicht türkisch, sondern englisch, französisch und etwas griechisch, später natürlich auch deutsch. Glücklicherweise verließ sie 1915 mit ihrem einjährigen Baby, meiner späteren Mutter, Konstantinopel. Sie zog dann zu ihren Schwiegereltern nach Hamburg. So konnte sie der so genannten ´Zwangsumsiedlung` und dem grausamen Armeniermorden gerade noch rechtzeitig entkommen.“ Nachdenklich sarkastisch fügte er hinzu: “Dafür musste mein Opa in der Wehrmacht für Kaiser und Vaterland kämpfen.“

Nachdem ihm Selma voller Empörung ihre Erlebnisse auf dem Amt geschildert hatte, knurrte Robert nur: „Im übrigen brauche ich dieses blöde Papier nicht mehr. Der Institutschef der Uni rief vorhin an. Er teilte mir umständlich mit, dass er die ausgeschriebene Stelle nun doch lieber mit einen befreundeten Kollegen besetzen werde, weil dieser besser auf die schwäbische Mentalität der Leute eingehen könne. Er bat um mein Verständnis.“


Wilma Ruth Albrecht, Sprach- und Sozialwissenschaftlerin (Dr. rer.soc., Lic.rer.reg., Stud.Ass.) mit Arbeitsschwerpunkten 19. und 20. Jahrhundert. Sie war von 1972-2007 als Lehrerin, Wissenschaftlerin und Stadt- und Regionalplanerin tätig. Seit 2010 Autorin des Fachjournals "soziologie heute". Letztes Buch ÜBER LEBEN. Roman des Kurzen Jahrhunderts (4 Bände, Verlag freiheitsbaum: Edition Spinoza, 2016/19). Netzseite https://wilmaalbrecht.de, Postkontakt/please, mailto dr.w.ruth.albrecht@web.de



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