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Aktueller Online-Flyer vom 18. November 2024  

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Kultur und Wissen
Zur Debatte: ein Vorstoß in das zentrale Nervensystem der bürgerlichen Gesellschaft
Eine kurze Geschichte des gewöhnlichen Faschismus
Von Günter Rexilius

Vorangestellt sei ein Passus vom Ende des in vielerlei Hinsicht in die Tiefe gehenden Artikels von Günter Rexilius. Er lautet: "Mitte, liberal, sozialdemokratisch, christlich-demokratisch, grün – diese selbstgewählten Etiketten mögen der selbstgerechten Ignoranz gegenüber den Beweggründen und den Folgen des eigenen Handelns genügen, das Grauen, das Elend, die Gewalt, das Leiden dahinter, also die dem bürgerlich-demokratischen System immanenten 'Schadstoffe', verbergen sie vor sich selbst, nicht vor der historischen Wahrheit und nicht vor ihren Opfern... Die Triebkräfte der europäischen Geschichte der letzten Jahrhunderte sind auch die der deutschen Nachkriegsgesellschaft, bis in die aktuelle Gegenwart hinein. In ihnen lebt und wirkt der gewöhnliche Faschismus." Belegt werden - so lesen wir gleich zu Beginn - soll die These: "Die 'anderen' Faschisten sind gar nicht so anders, sondern nur der qualitative Sprung des gewöhnlichen Faschismus, der nicht erst seit einigen Monaten oder Jahren, sondern seit Jahrhunderten in Europa seine Heimat hat, der Grundlage der Existenz und des Funktionierens der bürgerlichen Gesellschaft ist." Es geht um deren "zentrales Nervensystem". Es ist bei weitem nicht nur das rechts, was aktuell als solches deklariert wird. Nun aber der Artikel von Günter Rexilius in Gänze.


Die „Rechtsentwicklung“ der letzten Jahre und Monate ernst zu nehmen muss heißen, nach ihren Wurzeln und Hintergründen zu fragen, ohne sich mit den Narrativen, die der politische und der mediale Mainstream verbreiten, zufrieden zu geben. Nach der Europawahl 2024 beklagten Politiker und viele Medien, auf der politischen Landkarte habe es bedrohliche Verschiebungen nach rechts gegeben, rechtsradikale Parteien würden immer mehr Zulauf bekommen und auch in Deutschland zu einer neuen faschistischen Gefahr werden. Die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ließen die Mahnungen und Klagen lauter und eindringlicher werden. Gefahr für wen, für was? Auf diese Fragen sind die üblichen Antworten zu hören: Die Rechten gefährden das demokratische Gemeinwesen, die verfassungsmäßige Ordnung, das westliche Wertesystem, die Menschenrechte. Die Frage, wie der Erfolg der AfD – und anderer europäischer Parteien, die sich selbst als rechts oder rechtsaußen definieren, hier aber vernachlässig werden – mit gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen, allgemein und im Einzelnen, zusammenhängen könnte, wird selten gestellt, Antworten auf sie bleiben unbefriedigend.

Das Phänomen Rechtslastigkeit scheint irgendwie irgendwoher zu kommen, ein Replikat (ewig-)gestriger nationalsozialistischer oder faschistischer Weltbilder zu sein. Der einfache wissenschaftliche Grundsatz, dass Erscheinungen auf der gesellschaftlichen Oberfläche nur Ergebnisse komplexer und systematischer Ereignisse im Zentrum sein können, scheint außer Kraft gesetzt. Faschisten sind immer die anderen, lautet die Botschaft der Kommentare zu AfD, zu Höcke, zu Weidel, aber auch zu den Wählerinnen und Wählern, die ihre Stimmzettel auf der rechten Seite der politischen Bühne ablegen. Wenn aber viele Millionen in ganz Europa und in Deutschland sich nach rechts orientieren, helfen keine verkürzten Argumente und keine extrapunitiven Anklagen. Die Suche nach den Gründen für die Ansprechbarkeit so vieler Menschen für nationalistisch und autoritär geprägte Parteiprogramme bleibt aus, kaum ein selbstkritisches Wort findet sich in den Stellungnahmen der sogenannten bürgerlichen oder demokratischen Parteien und, nicht weniger bedenklich, in den Analysen und Kommentaren der „Journaille“, wie Karl Kraus die politisch allzu korrekten Medienmacher nannte.

Die These, die in diesem Text belegt werden soll, lautet: Die „anderen“ Faschisten sind gar nicht so anders, sondern nur der qualitative Sprung des gewöhnlichen Faschismus, der nicht erst seit einigen Monaten oder Jahren, sondern seit Jahrhunderten in Europa seine Heimat hat, der Grundlage der Existenz und des Funktionierens der bürgerlichen Gesellschaft ist.

Eine kleine Zeitreise rollt seine Entwicklungsgeschichte auf und hilft, das politische und mediale Lamento über das Erstarken rechter Gruppierungen und Ideologien als Teil eines Verdrängungsprozesses, der es dem Bewusstsein ihrer Mitglieder schwer macht, das faschistische „Nervengeflecht“ der bürgerlichen Gesellschaft historisch und aktuell einzuordnen. Die Reise beginnt in der menschlichen Frühgeschichte, die zwar nur indirekt, aber letztlich doch überzeugend erschlossen werden kann, weil soziale, psychodynamische und existenzielle Notwendigkeiten des Daseins der Gattung homo sapiens andere Deutungsmuster ausschließen; sie wird fortgesetzt mit einer Skizze der Fundamente europäischer Zivilisation, die in der Epoche der sogenannten Aufklärung, explizit dann mit der Französischen Revolution gelegt worden sind; und springt von dort in die rechtslastige Gegenwart. Diese Reise ist nicht als fundierte historische Analyse, sondern als Versuch zu verstehen, das „zentrale Nervensystem“ der bürgerlichen Gesellschaft dem bemühten und redlichen Nachdenken zugänglich zu machen, das ihr Selbstverständnis und ihre Handlungsmodi steuern sollte. Sie trägt seit ihrer „Geburt“ faschistoide Keimzellen in sich, die im Laufe der Jahrhunderte zu immer bedrohlicheren Phänotypen herangewachsen sind: Bedrohlich für die bürgerlichen Machtzentren, vor allem aber eine existenzielle Gefahr für Mensch und Natur.

Vor-Geschichte

Sowohl das natürliche als auch das soziale Umfeld sind untrennbar vom menschlichen Dasein und Überleben, sie sind Teil der menschlichen Grundausstattung. Menschen müssen, was sie zur Befriedigung ihrer körperlichen Bedürfnisse brauchen, der äußeren Natur abringen und sich vor ihren Kapriolen und Bedrohungen schützen. Seit sie den Globus zu bevölkern begonnen haben, sind menschliche Individuen auf Zusammenwirken mit anderen - gattungsgeschichtlich gesehen mit allen anderen - Individuen praktisch angewiesen, tragende Beziehungen zu den anderen sind zudem für ihr seelisches Gleichgewicht und das Wachstum ihres geistigen Potenzials vonnöten. Darüber hinaus haben Menschen schon immer genutzt, was andere, die vor ihnen lebten, zurückgelassen haben, ihre Werkzeuge, ihre Lebensweisen, ihre Kommunikationsformen, die, indem sie angeeignet, zugleich weiterentwickelt werden: Aus dem sozialen Erbe, das sie vorfindet, schafft die menschliche Lebensgemeinschaft ein reichhaltigeres Erbe für die nächsten Generationen.

Das existenzsichernde Zusammenwirken ist sicherlich nicht konfliktfrei, über Hunderttausende von Jahren, aber lösungsorientiert verlaufen, in dem – anfangs noch vor-bewussten – Bewusstsein, nur in gemeinsamer Lebenssicherung, aber auch im verbindenden Genießen ihrer Ergebnisse, existieren zu können. "Wo immer der Wechsel der Jahreszeiten durch Feste und Zeremonien gefeiert wird; wo die Lebenssta¬dien durch Familien- und Gemeinschaftsrituale unterstrichen werden; wo Essen, Trinken und sexuelles Spiel den Mittelpunkt des Lebens bilden; wo Arbeit, selbst Schwerarbeit, selten von Rhythmus, Gesang, menschlicher Kameradschaft und ästhetischem Genuss getrennt sind; wo vitale Aktivität ebenso als Lohn der Arbeit betrachtet wird wie das Produkt; wo weder Macht noch Profit Vorrang vor dem Leben haben; wo Familie, Nachbarn, Freunde alles Teile einer sichtbaren, fühlbaren, unmittelbaren Gemeinschaft sind; wo ein jeder, Mann oder Frau, Aufgaben erfüllen kann, für die auch jeder andere geeignet ist - überall dort bestehen noch wesentliche Elemente der neolithischen Kultur weiter". (1) Eine fast poetische Schilderung der existenziellen Grundlagen, die das Überleben der menschlichen Gattung möglich gemacht haben.

Welche misanthropischen Fantasien immer anderes weismachen wollen: Ohne die kooperative, kollektive, produktive Aneignung der natürlichen und sozialen Voraussetzungen, die das Menschsein definieren, gäbe es uns hier und heute nicht und auch nicht zukünftig. Kompakt formuliert lassen sich aus der Geschichte der menschlichen Gattung Axiome der menschlichen Existenz extrapolieren, ohne die nichts war und nichts werden kann: Die natürlichen materiellen Bedingungen sind die existenzielle Basis alles, auch des menschlichen Lebens; aus ihnen wird die historisch aufgehäufte Erbmasse, Geschichte in ihren vielfältigen Erscheinungsformen geschaffen; die dialektischen Verbindungen zwischen Mitmenschen und zwischen ihnen und den natürlichen und sozialen Voraussetzungen werden durch die tätige Aneignung – die menschliche Praxis – zum Entwicklungsprozess der Gattung und der einzelnen ihr zugehörigen Individuen; schließlich wird das Leben als Totalität, also im Zusammenhang und Zusammenwirken aller Voraussetzungen, füllig, in ihrem komplexen wie im besten Sinne fortschrittlichen Zusammenspiel immer vollkommener.

Irgendwann geschah, was Jean-Jacques Rousseau so formuliert: „Der erste, der ein Stück Feld einzäunte und sich dabei einfallen ließ, zu sagen: ‚dieses ist mein‘, und auch Leute fand, die einfältig genug waren, es ihm zu glauben, - dieser ist der eigentliche Stifter der bürgerlichen Gesellschaft gewesen.“ (2) Wie dieses Geschehen im Einzelnen abgelaufen ist, als schleichender Prozess oder als dramatischer Einschnitt in das Zusammenleben der Menschen, spielt eine nebensächliche Rolle, bedeutsam für die Nachfahren des Schöpfers der bürgerlichen Gesellschaft (3) wurde, dass sie in vielen Varianten ihren Siegeszug über große Teile des Globus antrat. Blickt man in die Geschichte der letzten Jahrtausende, ist mit dem legendären Zaunbauer ein zentrifugaler Konflikt in das Zusammenleben der Menschen getreten: Zwischen dem zur menschlichen Gattung gehörenden kollektiven - materiellen und geistigen - und dem privat angeeigneten Universum hat sich eine im Laufe der Zeit immer größer werdende Kluft aufgetan. Besitzende Minderheiten reklamierten nun ein paradiesisches Leben auf Erden für sich und verteidigten es rigoros gegen den nicht-besitzenden mehrheitlichen Rest, den sie zur Schaffung ihres wohlstandsüberladenen irdischen Garten Eden, ihrer Besitz- und Genussansprüche unterwarfen, entrechteten und missachteten. Dieser Konflikt prägte nahezu alle Varianten des menschlichen Zusammenlebens, von der antiken Sklavenhaltergesellschaft bis zu den monarchistischen und feudalistischen Herrschaftsverhältnissen des Mittelalters, der Renaissance und der Vormoderne – bis zur vermeintlichen Zeitenwende Ende des 18. Jahrhunderts.

1789 – Die Revolution

Die Französische Revolution gilt für viele Historiker und im Allgemeinen nicht nur als europäische, sondern als menschheitsgeschichtliche Zäsur: Das Ende der Barbarei war eingeläutet. Die revolutionäre Selbstvergewisserung der aufständischen Bürger, die sich der Bevormundung durch die Monarchen und der geistigen und ökonomischen Einengung durch den Adel und den Klerus entledigten, orientierte sich an den englischen „Bill of Rights“ von 1689 und dem gleichnamigen Bürgerrechtskatalog der Vereinigten Staaten von Amerika von 1787, ihr Emanzipationsanspruch war universell: Die „Allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ sollte alle Menschen einschließen, allgemeingültig und ohne Ansehen der Person.

Zu diesem Anspruch passte allerdings nicht so recht, dass sich in die – bis heute für sogenannte demokratische Gemeinwesen als beispielhaft und in ihrem Duktus verbindlich geltende – Erklärung exklusive Wendungen eingeschlichen hatten, die sonderbarerweise weder bei Historikern noch bei selbsternannten Demokraten, die sich gerne auf das Fanal der bürgerlichen Revolution berufen, kaum jemals auf großes Interesse gestoßen sind: Der erste - „Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein“ - und der letzte, der 17. Artikel - „Da das Eigentum ein unverletzliches und heiliges Recht ist, kann es niemandem genommen werden, wenn es nicht die gesetzlich festgelegte, öffentliche Notwendigkeit augenscheinlich erfordert und unter der Bedingung einer gerechten und vorherigen Entschädigung“ - bilden einen seltsam relativierenden Rahmen für die allgemeine Gültigkeit der so fundamentalen Rechte. Als das nationalversammelte Bürgertum verabschiedete, was der Marquis de La Fayette zu Papier gebracht hatte, waren die Zäune zwischen den Besitzenden und den Nicht-Besitzenden jedenfalls nicht niedergerissen, sondern unüberwindbar geworden: Die explizite Rechtfertigung des Privateigentums erklärte Zweifel an ihm und seiner Rechtmäßigkeit zum Sakrileg. Die naheliegenden Fragen wurden nicht gestellt, obwohl die Spaltung im bürgerlich-demokratischen Gesellschaftsgefüge im Laufe der Zeit immer aufdringlicher und damit unübersehbarer wurde: Wie sind die sozialen Unterschiede in der bürgerlichen Gesellschaft zu begründen? Wie sind sie mit den wichtigsten Antriebsmodulen für den revolutionären Befreiungsschlag der Bürger gegen König und Adel, mit Freiheit und Gleichheit und Geschwisterlichkeit, zu vereinbaren?

Sie hängen zweifellos mit der Festschreibung des Privateigentums zusammen, das den besitzenden Bürgern schon mit der Institutionalisierung der menschenrechtlichen Grundlagen ihres Gesellschaftskonzepts heilig geworden zu sein scheint, wie den Hindus ihre Kühe. Die Gewichtigkeit und Unantastbarkeit des Eigentums verlangten nach seinem Schutz vor den Nicht-Eigentümern, der zur impliziten Staatsräson wurde. Die bürgerliche Demokratie mit ihren ab- und ausgrenzenden Gesetzen und Verfahrensregeln, normativen Inszenierungen und, wenn nötig, auch gewaltförmigen Interventionen, die zum staatlichen Gewaltmonopol erklärt wurden, schuf optimale Bedingungen für das akkumulierende Streben (4). Demokratische Institutionen, definitionsgemäß für den Schutz der Rechte aller Staatsbürger geschaffen, dienten praktisch vorrangig der Absicht, Rahmenbedingungen zur Vermehrung des privaten Eigentums und zum Schutz der Eigentümer zu garantieren, deren Unabdingbarkeit fraglos geworden war. Mithilfe einer schon damals sehr wirkungsvollen Propaganda zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung (5) konnten die ökonomisch und politisch aktiven Teile des Bürgertums den Eindruck verbreiten, die Revolution habe ihre hehren Ziele, das menschenrechtsbasierte Zusammenleben aller Menschen und die Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse, erreicht. Er verdeckte, beharrlich in Köpfe und Seelen transportiert, die nach-revolutionäre Wahrheit: Die Bürgerrechte bezogen sich so wenig auf alle Menschen, wie sie in der demokratischen Volksversammlung repräsentiert waren.

Nach außen versuchten die Bürger, ihre besitzanzeigenden Insignien und ihre besitzvermehrenden Strategien als angeblich für alle segensreiche fortschrittliche Errungenschaften einem großen Teil der Völker außerhalb Europas aufzuzwingen. Ihre Marschroute wurde ein menschen- und naturzerstörender Imperialismus, der vor allem auf der Südhalbkugel des Planeten wütete. Das in ihm verborgene, ihn geradezu antreibende rassistische Menschenbild wurde gerechtfertigt, die Angemessenheit der Eroberung und Ausraubung der Menschen, die auf anderen Kontinenten lebten, mit Ideen begründet, denen Vordenker der europäischen Aufklärung wie Hobbes, Locke und sogar Kant (6) in angeblich aufklärerischen Ideologiegebäuden Legitimation verschafften. Deren gegenaufklärerischer Gehalt kulminierte im liberalen Selbstverständnis:

Die natürliche Basis jedes Privateigentums bilden standesgemäße Geburt und durchsetzungsfähiger Charakter (7), also praktisch unbezweifelbare, weil von der unbestechlichen Natur – im Zweifelsfalle auch von Gott – geschenkte Vorteile und Vorzüge. Aus diesem Selbstverständnis resultierte, als logische Folge der ab- und ausgrenzenden Begründung der natürlichen Eigentumsverhältnisse, die Gewissheit, dass die Verwertung von nicht-bürgerlichen Menschen, vor Ort oder in der Ferne, und die gewaltsame Aneignung fremder Besitztümer, Kulturen und Geschichte – ihre Vernichtung inklusive -, existenzielle Notwendigkeiten der bürgerlichen Lebensgestaltung und mithin legitim sind. Die Tatsache, dass Elend der einen als Basis für Wohlstand der anderen in der Menschenrechtserklärung von 1789 zwar nicht ihre Wurzeln hat, aber von ihr als universell legitimiert wurde, spielt für das bürgerliche Welt- und Gesellschaftsbild keine Rolle: Mit ihrer philosophischen Rechtfertigung und ihrer praktischen Umsetzung begann der Prozess, der die realitätsverzerrende Bigotterie in Denken und im Alltag der westlichen Welt einzementiert hat. Sie hat sich als Epi-Zentrum der bürgerlichen Selbsttäuschung etabliert, der Verleugnung der kolonialistischen, imperialistischen, rassistischen Fundamente ihrer Gemeinwesen. Der Zusammenhang zwischen der Vernutzung menschlichen Lebens im Süden und vorgeblich menschenrechtsbasiertem Zusammenleben im Norden wird vom bürgerlichen Bewusstsein und Selbstbewusstsein konsequent und fast lückenlos abgespalten. In die alltägliche Geschäftigkeit und Konsumfülle des Lebens dringen deren makabre Grundlagen, die für einen großen Teil der Menschheit bittere Alltagserfahrung sind, nicht vor.

Mit dem republikanischen Gesellschaftsentwurf haben seine Protagonisten 1789 ein Modell, in dem jede systemische Veränderung und damit die Fähigkeit zur Selbstkritik verloren gegangen ist. In ihrer Selbstbezogenheit und ihren Genussmodulen gefangen begreifen sie die moralische Enge und die soziale Brisanz ihres Gesellschaftskonzepts nicht: Die Unfähigkeit, über seine politisch-ökonomische Vernichtungslogik nachzudenken, sie stattdessen als quasi-religiösen Zwang missionarisch für alle Menschen definieren zu wollen und sie, wie einst die Kreuzzüge den christlichen Glauben, auch noch in den letzten Winkel der Welt tragen zu wollen, zeugt nicht von konstruktiver Weitsicht, sondern von selbstgerechter Einfalt. Von quasi-historischer Warte her betrachtet sind Bürgerliche Demokratie, Imperialismus und Rassismus die latente, aber umso wirksamere „Zauberformel“, zu der die emanzipatorischen Ansprüche der französischen Revolution sich verdichteten. (8) Sie steuert nicht nur seither den so brachialen wie desaströsen Zugriff des eigentumsversessenen europäischen Bürgertums auf den Planeten Erde: Mit ihr setzt sich die uralte Geschichte der Ungleichheit und ihrer inhumanen Folgen für die meisten Menschen nahtlos fort, mit ihr steigert sie sich zum Verhängnis zunächst der europäischen, in den letzten zwei Jahrhunderten der Weltgeschichte – zum Grundübel des Anthropozän.

In den Mechanismen der Sicherung bürgerlicher Existenz verbirgt sich offensichtlich die historisch-praktische Antwort auf die Frage, ob sie denn tatsächlich den Lebensnerv der menschlichen Gattung trifft, ob die bürgerlichen identisch mit den menschlichen Lebensbedürfnissen sind. Der wirklichkeitssuchende Blick in die Abgründe der bürgerlichen Demokratie offenbart, dass sie nicht das ideale Gesellschaftsmodell, „die beste aller Formen des menschlichen Zusammenlebens“ für den Homo sapiens bzw. seinen modernen, aufgeklärten, zivilisierten Nachfahren des 20. Jahrhunderts ist, wie ihre Apologeten behaupten. Die Archäologie des Wissens fördert zutage, dass der eigentumsversessene Zaunbauer das Narrativ schuf, dem die Französische Revolution ihren bigotten Segen erteilte: Das Privateigentum, die Abschaffung kollektiven Sicherns und Feierns des Lebens, ist das Wurzelwerk des Faschismus. Beider Wesenskern ist, dass die besitzenden Macht-Menschen den Nicht-Besitzenden, den Macht-losen also, kein menschenwürdiges Leben zugestehen bzw. es gleich ganz auslöschen. (9) Historische Redlichkeit zeigt bürgerliche Bemächtigung als Falschmünzerei, deren politische Währung der Missbrauch des demokratischen Konzepts menschlichen Zusammenlebens ist, deren moralische Währung die Verschleierung ihrer enthumanisierenden, antidemokratischen und imperialistischen, also in ihrer Substanz schlicht faschistischen Grundlagen ist. Welche Begründungsmuster immer ihre Taten beschönigen oder rechtfertigen sollen, ihre faschistische Kernsubstanz ist unübersehbar, dieser gewöhnliche Faschismus hat in der bürgerlich-demokratischen Lebensweise seine perfekte Passform erreicht. (10)

Zeitlos - Das Martyrium

Die vom bürgerlichen Wohlstand Ausgeschlossenen waren von jeher im demokratisch-parlamentarischen Raum lediglich geduldet, ohne dass sie jemals die Möglichkeit gehabt hätten, auf die eigentums- und damit machtfundierten Planungs- und Entscheidungsprozesse nachhaltigen Einfluss zu nehmen. Die gesetzlichen, die institutionellen und die gesellschaftliche Teilhabe definierenden Schutzwälle grenzen die ausgebeuteten – also Mehrwert, sprich: den gesellschaftlichen Reichtum schaffenden - Arbeitenden und die Dienstleistenden, das Lumpenproletariat und die Reservearmee - die „Erniedrigten und Beleidigten“, die Dostojewski in seinem grandiosen Roman sichtbar macht (11) – auf vielfältige Weise aus. Hinter den sprichwörtlichen Zäunen eingepfercht, werden ihnen im günstigsten Falle gerade so viele Scherflein des verfügbaren Reichtums zugestanden, wie zur Regeneration für den nächsten Tag nötig ist, um ihre Arbeitskraft – die einzige Ware, die sie naturgemäß anzubieten haben, so brachte Karl Marx es auf den entscheidenden Punkt (12) - zu verkaufen. Armut, Verelendung, Ausgrenzung, Abschiebung in Räume der Unsichtbarkeit eines großen Teils der Bevölkerung gehören zum internen Gefüge bürgerlicher Gesellschaften, wie auch ihre Pendants, der Reichtum, die Privilegien von Bildung, Kultur und Freizeitgestaltung, die von ihren produktiven und dienenden Teilen zwar geschaffen, die ihnen aber systematisch und gezielt vorenthalten werden.

Für die eigentliche Basis des bürgerlichen Wohlstands in Europa sorgte aber nicht nur die Arbeiterklasse dort, sondern weitaus nachhaltiger die Verfügung über Menschen in den mit überlegener militärischer Gewalt eroberten und annektierten Kolonien. Sie wurden in ihren enteigneten Heimatländern als Sklaven missbraucht oder, falls sie die Transporte auf Sklavenschiffen überlebten, in der „neuen Welt“ zu Millionen wie Vieh auf Auktionen versteigert. (13) Der Phantasie der Reichtum anhäufenden – und ihn konsumierenden – machthabenden Minderheiten im „zivilisierten“ Europa entsprangen immer neue monströse Formen, Menschen auszubeuten, auszunutzen, auszusaugen, ganze Völker und Landstriche auszuplündern. Sollte jemals versucht worden sein, das Ausmaß der Raubzüge, der Gaunereien seit Ende des 15. Jahrhunderts in Zahlen zu fassen, es müsste eine ungeheuerliche, eine unvorstellbare Summe sein, in der die nicht weniger dramatischen psychischen, sozialen, kulturellen Kosten, die den Menschen, den Völkern auf der Südhalbkugel von den europäischen Räubern und Mördern aufgebürdet worden sind, gar nicht enthalten sind, weil es für sie keine berechenbaren Währungen gibt. Diese Jahrhunderte gehören zu den schwärzesten Kapiteln der Menschheit, auch wenn sie in der europäischen Geschichtsschreibung entweder als ökonomische, technologische, wissenschaftliche, kulturelle Erfolgsgeschichte oder als Sieg des zivilisierten Teiles der Menschheit über den barbarischen gefeiert werden. Die obszönen Lebensrealitäten der meisten Menschen, des menschlichen Restmülls, lagen und liegen der Vermehrung des Eigentums der bürgerlichen Profiteure, damit auch den vergleichsweise erträglichen Lebensbedingungen selbst der Ausgebeuteten und Verarmten, der prekär Dahinvegetierenden in bürgerlichen Gesellschaften, zugrunde.

Die Opfer der entwürdigenden Auspressung von Lebensenergie werden heute noch, bis hin zur Entwendung ihrer Ausweispapiere, entpersonalisiert, ihre Identität wird ihnen gestohlen, als Kreaturen mit menschlichen Bedürfnissen, mit sozialen Ansprüchen, mit seelischen Empfindungen oder gar als Adressaten besonderer Fürsorge in besonders bedrohlichen Lebenslagen kommen sie im bürgerlichen Alltag nicht vor. Sie zählen nicht als Subjekte ihrer Geschichte, also als Mit-Menschen. Wenn sie den dank ihres Gewaltpotenzials übermächtigen Peinigern entfliehen wollen, egal aus welchem Teil der Welt, enden viele von ihnen im Massengrab Mittelmeer, verdursten oder verhungern in Wüsten, verenden in Stacheldrahtzäunen, die die europäischen Herrenvölker um ihren Kontinent errichtet haben, als eigentlich überflüssige, allenfalls nutzbare No-Names eines entmenschlichten Daseins. Diejenigen, die Moneten, Macht und Militär besitzen, befördern Zehntausende auf den Meeresgrund, ziehen Profit noch aus den Pestizid-Krüppeln in Bangladesch und in Marokko, bereichern sich an Minderjährigen ohne Kindheit und Zukunft, (14) haben aktuell fast 120 Millionen Flüchtende auf dem Globus heimatlos gemacht (15), produzieren jedes Jahr Milliardengewinne durch Hunderttausende Kriegsopfer weltweit, bescheren den Hungertoten in Gaza und anderswo ein qualvolles Schicksal.

Der Rassismus, dem sich dieses Elend und dieses Leiden verdanken, belegt empirisch, dass es ein „Ende der Kolonialzeit“ – von Historikern nach dem 2. Weltkrieg zeitlich verortet – nicht wirklich gegeben hat,(16) sie ging nahtlos über in die neo-kolonialistische Ausraubung des globalen Südens durch den globalen Norden. Absurd an dieser Geschichte ist nicht, dass sie noch im Jahre 2024 so zutreffend ist, wie sie es 1492 war, als Christoph Columbus aufbrach, um die Neue Welt zu entdecken, sondern dass ihre Wahrheit erst im 20. Und 21. Jahrhundert wirklich zu einer geworden ist, als der europäische und der nordamerikanische Kontinent die kolonialistisch-imperialistischen Feldzüge gen Süden explizit zu einem tragenden Pfeiler ihrer politisch-ökonomischen Existenz haben werden lassen, wo sie ihr rassistisches Weltbild unbeirrt weiter ganz praktisch bestätigen. Auch wenn im nördlichen Alltag wie in dem ihm zugrundeliegenden politischen und ökonomischen System diese Wahrheit hinter Floskeln und Phrasen und anderen beschönigenden und verdrängenden Worten verschwindet, tritt sie täglich in vielfacher Weise zutage. Noch im 21. Jahrhundert werden unzählige Menschen in vielen südlichen Ländern, aber auch als un- oder unterbezahlte Plantagenarbeiter in Süd- und Osteuropa und auch bei uns als Zwangsprosituierte, als heimatlose LKW-Fahrer, als Dreckentferner auf Straßen, in Restaurants, in Privatwohnungen, als Minen- und TextilarbeiterInnen in Afrika und Asien in materiellen wie in immateriellen Käfigen als (Quasi-)Sklaven gehalten. (17)

Die meisten Kriege seit dem Ende des 2. Weltkrieges verfolgen, trotz Gründung der UN und ihrer Menschenrechtscharta und anderer völker- und menschenrechtsbasierter Rahmenbedingungen, (18) dienen also, auch wenn sie als „geopolitisch“ oder „gegen den Terror“ begründet oder wie immer etikettiert werden, der Sicherung, sprich: dem angeblich legalen, meistens aber illegalen Raub von Ressourcen, der Expropriation der einheimischen Bevölkerungen oder ihrem Missbrauch als Abnehmer des Wohlstandsmülls. (19) Diese Tatsachen verlieren sich in den Abgründen des politischen Gewohnheitsrechts und der ökonomischen Wachstumshybris als Ausdruck des nach wie vor rassistisch unterfütterten Prinzips nord-westlicher Politik und Ökonomie, praktiziert unter dem Etikett der bürgerlichen Demokratie. Wenn Lithium und Kobalt oder grüner Wasserstoff importiert werden sollen, wenn die Meere für die Versorgung in Europa leergefischt und damit den Menschen in Afrika und anderswo die Nahrungsquellen geraubt werden, wenn irgendwo auf der Südhalbkugel marodierende Konzerne, denen einheimische korrupte politische Entscheidungsträger längst hörig sind, Menschen und Umwelt zerstören, bis hin zu den Meeresgründen in mehreren Tausend Metern Tiefe, mögen so verharmlosende Begriffe wie „Handelsverträge“ oder „Joint-Ventures“ im Polit-Talk dominieren: Hinter ihnen lauern die Tatsachen, die das Leben von Millionen der Menschen vor Ort mit Not und Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit beherrschen, denen sie nur auf die Gefahr hin entfliehen können, Opfer der im Hintergrund lauernden - politisch gewollten - militärischen Gewalt der Nutznießer im Norden zu werden. (20)

1918 - Die Republik

1848 führten die Impulse der französischen Revolution in Deutschland zur Einberufung der Paulskirchenversammlung, dem ersten deutschen Nationalparlament, das die Bildung einer provisorischen Zentralregierung das Ende der Kleinstaaterei einläutete. (21) Am 9. November 1918 folgte, vielleicht als wichtigstes Ergebnis der deutschen Niederlage im ersten Weltkrieg, die Gründung der ersten deutschen Republik. Während noch 1874 mit den Sozialistengesetzen Bismarcks sozialdemokratische und kommunistische Bestrebungen gegen die exzessive Ausbeutung und Pauperisierung eines großen Teiles der Bevölkerung ausgebremst werden konnten, schien der republikanische Umschwung eine historische Wende einzuläuten: Nicht nur erhofften große Teile des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums auf eine umfassende Erholung nach dem für die meisten Menschen in Deutschland – und in Europa - verheerenden Weltkrieg, die Vertreter des Proletariats erblickten die historische Chance, Sand in das Getriebe der die arbeitenden Menschen aussaugenden kapitalistische Maschinerie zu werfen und sie zum Stillstand zu bringen. Die Kommunistische Internationale, eine politisch-programmatisch, aber auch durch solidarischen Zusammenhalt starke Arbeiterbewegung, Arbeiter- und Soldatenräte, die ernsthaft und entschlossen eine Räterepublik anstrebten in dem Bewusstsein, „wenn Dein starker Arm es will, stehen alle Räder still“, nährten die Sehnsüchte vieler Menschen nach einer anderen, nicht-bürgerlichen und nicht-kapitalistischen Gesellschaft. Die revolutionäre Vision, allen Menschen in der Gesellschaft ein auskömmliches Zuhause, eine menschenwürdige Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum möglich zu machen, nun endlich wirklich werden zu lassen, spornte viele Menschen an, aktiv die sozialen und politischen Verhältnisse mitzugestalten. Die Französische Revolution schien - nun in Deutschland – zumindest in ihrem sozial-gerechten Elan doch noch ihren Siegeszug antreten zu können. (22)

So sehr der republikanische Umschwung in der deutschen Gesellschaft bis heute gefeiert wird, so sehr reproduzierten und manifestierten sich in ihm mit rasantem Tempo die beharrenden, reformistischen und repressiven Triebkräfte bürgerlich-demokratischer Gesellschaften, deren konterrevolutionäres Potenzial ihre Antworten auf das Erstarken antikapitalistischer Organisationen gab. Die Bremskraft der Fraktionen des Bürgertums, die den profitablen und wohlstandsspendenden systemischen Rahmen nicht antasten wollten, brachte die aufrührerischen sozial-politischen Bewegungen ins Stocken. Politische Finten und Gewaltbereitschaft der bürgerlichen Machtzentren kondensierten zu einem unüberwindbaren Hindernis, das Bollwerk der herrschenden Interessengruppen verfügte zudem über eine mächtige mediale Propagandaindustrie. An diesem Machtgefüge zerschellten alle radikalen Veränderungsversuche, die reiche und mächtige Klasse der Produktions- und Handels-Kapitalisten konnte, wie schon in den Jahrzehnten seit der Ausrufung der Französischen Republik, auf die für alle Beteiligten gewinnträchtigen Koalitionen mit den Wohlstands- und Bildungsbürgern, mit dem Militär und mit dem Klerus zählen, die jeden antikapitalistischen Umsturzversuch als Gefahr für ihre eigenen Pfründe, ihre Existenzgrundlagen, ablehnten. Letztlich sollte, so leibt und lebt das bürgerlich-demokratische Gesellschaftsmodell, seine Basis, das Privateigentum als Kapital, als Produktionsmittel, als Besitz an Grund und Boden, als Immobilienbesitz, als Zins und Zinseszins und nicht zuletzt als Aneignung der Arbeitskraft, die zu Dumpingpreisen käuflich erworben werden konnte, um Maschinen zu bedienen und Produktionsprozesse in Bewegung zu halten, nicht angetastet werden.

Wenn Veränderungen angedacht und umgesetzt wurden, dienten sie letztlich der Absicherung der Eigentumsvielfalt, ihres Bestandes und Ihrer Vermehrung. Mit allen verfügbaren Mitteln versuchte das herrschende Bürgertum jeden systemtranszendierenden Versuch einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums abzuwehren, auszugrenzen oder niederzuschlagen. Die aus Angst vor der linksradikalen Konkurrenz minutenschnellere Ausrufung der Republik durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann im November 1918, um den Kommunisten Karl Liebknecht auszubooten und damit die Machtübernahme oder auch nur -beteiligung der Arbeiterklasse zu verhindern, ist nur ein besonders hervorstechendes Beispiel. Die Verteidiger der bürgerlichen Machtansprüche schreckten auch vor tödlicher Gewalt nicht zurück, wenn der Widerstand zu aufdringlich wurde, wie der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zeigt, der ihre Entschlossenheit markierte, soziale oder Klassenunterschiede, ihre Ursachen und ihre Folgen, also den gesellschaftlichen Status quo, nicht antasten zu lassen. (23) Unabhängig davon, ob der sozialdemokratische Reichswehrminister Noske nun direkt oder indirekt an der Beseitigung der kommunistischen Konkurrenz beteiligt war oder nicht, hatte das Beharren der Sozialdemokraten auf ihrem absurden, weil sich selbst widersprechendes Konzept, ein sozial ausgewogenes, humanes kapitalistisches Gesellschaftssystem zu schaffen, doppelte dramatische Folgen: Seit 1919 ist ihr  systemstabilisierender Taschenspielertrick zu einer wirkmächtigen methodischen Finesse der bürgerlichen Demokratie geworden, mit der die ausgebeuteten, verarmten, ausgegrenzten und entwürdigten Menschen den ökonomischen Profiteuren ausgeliefert wurden und werden; (24) und es trug durch die antikommunistische Spaltung der Arbeiterklasse zur Machtergreifung der Nationalsozialisten entscheidend bei.

1933 – Die Klimax

Zu den vielen Facetten des geschichtlichen Verlaufs seit 1789 gehören die „Stammzellen“ des Horrors, der sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 verbindet: Mit ihr entfalten sich die verborgenen, aber wirkmächtigen Triebkräfte des bürgerlichen Spektakels, das mit der französischen Revolution begonnen hatte und schließlich im Holocaust und in seinen Ablegern, dem systematischen Massenmord an den Juden und anderen ausgegrenzten Menschengruppen, gipfelte. Was in diesen Jahren geschah, hatte eine erschreckende Folgerichtigkeit: Die zweihundertfünfzigjährige europäische Ent-Zivilisierung, im Selbstverständnis ihrer Macher ein Prozess ihres Schaffens von scheinbar grenzenlosem ökonomischem, materiellem, technologischem, wissenschaftlichem und kulturellem Reichtum, strebte ihrem exzessiven Höhepunkt zu. Wie ein unheilvolles Monster drängt sich die Frage geradezu auf: Sind Verkrüppeln, Töten oder Verrecken als gleichgültige Begleiterscheinungen im profitheischenden Ausbeutungs- und Verwertungsprozess einerseits und gezieltes Töten von Millionen in Vernichtungslagern andererseits, nicht siamesische Zwillinge der rassistischen Aussonderung? Welche Argumente könnten diese Leidensdimensionen und Leichenberge von der faschistischen Ausrottung der „Lebensunwerten“, bis hin zur Euthanasie als ihre konsequente Zuspitzung, unterscheiden? Lässt sich praktisch zeigen und theoretisch überzeugend begründen, dass die dem bürgerlich-kapitalistischen Martyrium zum Opfer Fallenden von ihren Peinigern und Sklavenhaltern als lebens-wertes Leben betrachtet werden? Oder fallen sie nicht doch in die Ausrottungs-Rubrik „weg damit“, (25) es sei denn, sie sind noch irgendwie auspressbar oder von Nutzen, und seien es nur ihre von ätzenden Chemikalien zerfressenen Füße und Arme oder ihre Arbeitskraft bis zu den letzten Atemzügen ihrer von Giftschwaden zerstörten Lungen? Machen trotz all dieser ungeheuerlichen Auswüchse des bürgerlich-ökonomischen, also eigentums- und kapitalgesteuerten „Anschaffens“, trotz systematischer Zerstörung von Menschenleben und Vernichtung von Natur, die bei Feierlichkeiten zu Jahrestagen der Französischen Revolution oder zu anderen von der eigenen Größe und moralischen Integrität bürgerlich-demokratischer Gemeinwesen geprägten Selbstbeweihräucherungsritualen in humanistisch eingefärbte Phrasen verwandelt werden, ihre Opfer zu gleichwertigen Geschöpfen? Sind Vergasung und Verbrennung mehr als Perfektionierung, als prometheische Zuspitzungen jener bürgerlichen Alltäglichkeit, deren Fundamente mit Leiden und Leichen gepflastert sind?

Nein, und dieses Nein lässt jedes Lügen- und Selbstbetrugsgebäude, das die jahrhundertelangen Verwüstungsorgien der bürgerlich-demokratischen Invasoren irgendwie rechtfertigen will, zusammenkrachen: Das imperialistische Eroberungs- und Ausraubungskonzept, seine kolonialistischen Erscheinungsformen und das rassistische Weltbild als ihr psycho-sozialer Antrieb, erfuhren zwischen 1933 und 1945 eine Zuspitzung mit brachialen Folgen. Das okkupierende Integral war zu einer solchen Selbstverständlichkeit als Grundlage des bürgerlichen Wohlstands geronnen, dass seine Kondensation in expliziten Rassentheorien nicht einmal eine Grenzlinie überschreiten musste. Ihre praktische Umsetzung, die Auslöschung des jüdischen Volkes und all jener, die nicht nutzbar, nicht ausbeutbar oder schlicht nicht bereit waren, sich dieser scheinwissenschaftlichen Rechtfertigung der Unmenschlichkeit anzuschließen, trafen im bürgerlich-selbstbezogenen Verständnis von Geschichte und Gesellschaft auf einen vorbereiteten Resonanzboden: Die Nationalsozialisten trieben auf die Spitze, was als Prinzip der bürgerlichen Reichtums- und Eigentumsvermehrung längst nicht mehr hinterfragt wurde: Ausbeutung möglichst vieler Menschen bis zum letzten Atemzug, Verwendung der rassistisch Ausgelagerten als Arbeitssklaven, solange noch ein Funken Lebenskraft vorhanden war, Funktionalisierung als Kapos zur Einsparung von Löhnen, Quälen und Vernutzen von Kranken für wissenschaftliche Experimente, um „kostbare“ arisch-bürgerliche Leben zu schonen, und schließlich Resteverwertung, ihrer Goldzähne, ihrer Haare, ihrer metallenen Prothesen, um auch noch den letzten Pfennig – oder Centime oder Cent – herausquetschen und verbuchen zu können.

Die Nationalsozialisten machten sich, so das gerne kolportierte Narrativ, die bürgerlich-kapitalistischen Kräfte zunutze, dessen eher verschwiegene tiefere Wahrheit ist, dass nicht nur Krupp, Thyssen und andere Großkapitalisten, sondern die meisten anderen durchaus lukrativ Beteiligten sich nicht lange bitten ließen. Es waren nicht „die Faschisten“ oder „die Nazis“, die nun begannen, ihre Gräueltaten zu verrichten, es war die – im weiteren Sinne europäische - bürgerliche Gesellschaft, deren Konzept des Zusammenspiels von Ökonomie, Politik, Militär und Ideologie sich zu einem Schreckensszenario verdichtete. In Deutschland und in Italien lagerten die willigen Gehilfen, um das bürgerliche Credo auf die Spitze zu treiben, erkenntnistheoretisch lässt sich auch sagen: auf seinen Begriff zu bringen. Über das Programm zur Ausrottung der Juden hinaus wurden andere im Weltbild der Nazis überflüssige oder entartete oder dem Säuberungsprozess von nicht-arischen Menschen hinderliche Gruppen in das Räderwerk der Vernichtung geworfen: Sinti und Roma, Kommunisten und Sozialisten, polnische und russische Slawen, körperlich und geistig behinderte Menschen, Homosexuelle, aber auch religiöse Gruppen wie die Zeugen Jehovas. Der von den ihr Diebesgut akkumulierenden Bürgern über fünf Jahrhunderte methodisch verfeinerte rassistische, fast weltweite Vernichtungsfeldzug hatte seinen perfektionierten Kulminationspunkt erreicht: Eine neue bis dahin kaum vorstellbare „Qualität“ der gezielten und gewollten Auslöschung von Menschenleben, der kolonialistisch-rassistischen aber nicht wesensfremd. (26)

Für die systematisch geplante und fast gelungene Vernichtung der jüdischen Rasse und den ihr zugrundeliegenden Antisemitismus gibt es viele historische Erklärungen, von denen die meisten sicherlich ihre Berechtigung haben. Von der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft her gesehen fällt auf, dass die geschäftlich erfolgreichen Juden die bürgerlich-demokratische Handlungsbasis, ihre politisch-ökonomisch-militärische Logik, in gewisser Weise bloßstellten: Sie hatten einen ökonomischen Status erworben, dessen Ursprünge weit hinter die Revolution von 1789 zurückreichte, sie waren ohne Mord und Totschlag und Zerstörung von Natur und Körpern und Seelen zu Wohlstand gekommen. Für den christlich fundierten Antisemitismus schien die europäische Aufklärung zunächst keinen Platz zu haben, er wurde für die produktiv oder handelnd akkumulierenden Bürger aber letztlich doch immer wieder hilfreich, um unliebsame ökonomische Konkurrenz auszubooten, wenn sie nicht sogar für die eigenen Interessen nützlich war. Einerseits trug der wirtschaftliche Erfolg jüdischer Kapitalisten und ihrer Familien zum gesellschaftlichen Reichtum bei, andererseits wurden über Jahrhunderte verfestigte Vorurteile gegen sie immer wieder virulent, wenn es darum ging, Schuldige für Katastrophen oder Misserfolge zu finden. Rassentheoretische „Beweise“ für die Minderwertigkeit der jüdischen Menschen waren zwar in ihrer wissenschaftlichen Armseligkeit so wenig überzeugend, wie die angeblichen Nachweise der Minderwertigkeit afrikanischer Volksstämme wie der Massai oder der Bantu oder der Nama. Aber wie sie Völkermorde und kolonialistische Massaker an Hunderttausenden in Afrika rechtfertigen halfen, wenn diese nicht hinreichend verwertbar waren oder sich gegen ihre Unterjochung zur Wehr setzten, so lieferten sie den Nationalsozialisten und ihren zahllosen Mitläufern die „wissenschaftliche“ Legitimation für die Massenvernichtung jüdischer Menschen und indirekt dafür, die von den Aktiven und Erfolgreichen unter ihnen angehäuften Reichtümer zu konfiszieren. Es ist nicht bekannt, dass die deutsche Bevölkerung, die ökonomisch Profitierenden wie die Nachbarn der jüdischen Mitbewohner, das Eigentum und die Vermögen ihrer jüdischen Mitbürger, nachdem sie abtransportiert worden waren, verschmähten. Raub, Mord und Totschlag, Verfügung über Menschen bis zum letzten Atemzug und Blutstropfen als Fundamente für den Wohlstand bürgerlicher Gesellschaften waren über Jahrhunderte hin so selbstverständlich, so fraglos geworden, dass sie einen fruchtbaren Boden für so absurde wie wirkungsvolle rassentheoretische Begründungen lieferten, um jüdisches als nicht lebenswertes Leben endgültig auszulöschen. (27,28)

Nach 1945 – Zerstobene Hoffnungen

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges beabsichtigten die Alliierten mit den Nürnberger Prozessen gegen die deutschen Kriegs- und Menschenrechtsverbrecher wie Maßstäbe für Gerechtigkeit und Achtung vor der Unverletzlichkeit nicht nur der menschlichen Würde, sondern des menschlichen Lebens zu implementieren, die für alle Menschen künftiger Generationen gelten und ein faschistisches Déjà-vu ausschließen sollten. (29) Eine – nach der französischen Revolution und der Weimarer Republik – dritte, nach dem Grauen der Jahre zuvor und den notwendigen Lehren aus ihm nun wirklich menschenrechtsbasierte historische Zäsur schien unausweichlich. Der politische Eckpfeiler bürgerlicher Gesellschaften, die sogenannte repräsentative Demokratie, war für das aus den Trümmern des 2. Weltkrieges zu erbauende neue Deutschland alternativlos, nicht nur, weil die Siegermächte es erzwangen, sondern weil es garantieren sollte, dass nicht wieder eine kleine fanatische Minderheit - so die gängige und offizielle Deutung der Naziherrschaft national und international – der Mehrheit des Volkes ihr Gesellschaftsmodell überstülpt. Allerdings fand das bürgerlich-demokratische System nach kurzer Zeit zu seinen Wurzeln zurück, seine Dramaturgen demonstrierten, dass „repräsentativ“ gerade nicht eine „res publica“ im Sinne eines umfassenden und übergreifenden gesellschaftlichen Miteinanders aller Menschen meint. Im neu geschaffenen Parlament saßen – gemäß parlamentarischer Tradition - auf der linken Seite jene, die ernsthaft und entschlossen eine neue, eine gerechte und friedliche Gesellschaft schaffen, die Zäune zwischen den Besitzenden und ihren armseligen Mitmenschen nicht nur durchlässig machen, sondern einreißen wollten. Um ein würdevolles Leben für alle Menschen zu verwirklichen, wie es der erste Satz der neuen Verfassung verlangte, vertraten sie ihre Visionen von unterschiedsloser Teilhabe an gesellschaftlicher Gestaltung, konsequent und leidenschaftlich.

Kurz nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland erhielten sie die Quittung für ihr Ansinnen, einem System die Zukunft zu verstellen, das innerhalb eines Jahrhunderts viele Völker in einen ersten Weltkrieg gestürzt und vor allem in Europa in einem zweiten Krieg rassistisch-mörderisch gewütet hatte: Mit dem KPD-Verbot im Jahre 1956 begannen die politischen Steuerleute des deutschen Nachkriegsstaates ihren ideologischen Kurs festzulegen. Eine demokratische Schamgrenze war überschritten, fortan war es politisch korrekt, also bürgerlich-demokratisch angemessen, alle, die ähnliche Vorstellungen wie ihre kommunistischen Gefährten hatten, des gesellschaftlichen Feldes zu verweisen, sie zu diskreditieren, zu diskriminieren oder, wenn sie unbeeindruckt blieben, formal zu disziplinieren: Wer mehr oder weniger entschieden den kapitalistischen Wolf im bürgerlich-demokratischen Schafspelz entlarvte oder gar attackierte, musste mit Repression, Verfolgung und Ausgrenzung rechnen. (30) Die übriggebliebenen linken „Schmuddelkinder“ wurden als Nachfolger der abgeschafften organisierten Linksradikalen (31) propagandistisch exkommuniziert oder politisch oder gerne auch juristisch verfolgt, falls sie dennoch zu aufdringlich erschienen, weil sie mit ihren Forderungen nach Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, nach Vermögens-, Erbschafts- und Einkommenssteuer, nach Realisierung der verfassungsfixierten Grundrechte wie Asyl, würdevolles Leben, Meinungsfreiheit aufzeigten, dass die Erzählung von einem gerechten, friedlichen, menschenrechtsaffinen Gemeinwesen ein Trugbild war. Wenige Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland konnten Beteiligte oder Beobachter wissen, dass die bürgerlich-reduzierte Version von Demokratie und Menschenrechten eine spezifisch deutsche Auferstehung gefeiert hatte. (32)

Die rechten Bewegungsräume hingegen verloren ihre Konturen: Viele überlebende Nazis wurden reaktiviert, schlüpften klandestin in passende Rollen und nahmen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen prägenden Einfluss auf die Gestaltung des neuen deutschen Staates (33). Teilweise in hohen politischen und Verwaltungs-Ämtern tätig, wurden sie gelegentlich wegen ihrer Nazi-Vergangenheit im „Dritten Reich“ kritisiert, blieben aber überwiegend in Amt und Würden und wurden häufig von politischen Kumpanen in einflussreichen Positionen vor Verfolgung geschützt, ihre Gegner diffamiert und bedroht. (34) Als durchaus einflussreiche Bauhelfer der neuen Republik vermochten viele faschistische Wendehälse, (35) ihr verbrecherisches Vorleben zu verbergen, sie wurden Teil der gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen. Um die faschistische Erbmasse nicht zu gefährden, von ihr aber nicht „angebräunt“ zu werden, begannen die bürgerlichen Repräsentanten schon bald ein Gerangel um die Plätze in der Mitte des „Hohen Hauses“ wie in der Gesellschaft: Da die alt-neuen Nazis und ihre Protektoren selbstverständlich nicht „rechts“, also antidemokratisch und faschismusverdächtig sein wollten, wurde die Mitte zu ihrer Schlüsselposition, wo sie ihre politischen, ökonomischen und militärischen Machtzentren erfolgreich etablierten. „Die Mitte“ formte sich nicht nur zum politischen Wohlfühlort derjenigen, die der deutschen Gesellschaft seit 75 Jahren ihren Stempel aufdrücken, sie ist und bleibt der perfekte Zufluchtsort der bürgerlich-demokratischen Gefolgschaft und Depot für den historischen Ballast, den sie seit Jahrhunderten aufgehäuft hat. Sie ist zu einer magischen Metapher geworden: Wer politischen Einfluss gewinnen oder auf politische Pfründe zugreifen will, die Tür und Tor zu Macht und Machtmissbrauch öffnen, definiert sich als der gesellschaftlichen Mitte zugehörig. (36)

Nach 1945 – Das Kontinuum

Dennoch hatte der Wunsch, einen nicht nur politischen, sondern einen gesellschaftlichen Neuanfang zu wagen, eine nicht nur rund-, sondern von innen her erneuerte Gesellschaft aufzubauen, zunächst viele Anhänger. Das Ahlener Programm der CDU von 1947, entstanden unter der Federführung von Karl Arnold, (37) ließ an diesem Vorhaben keine Zweifel: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“ (38)

Kurz und bündig: Ein Strohfeuer schöner Worte, die nach wenigen Monaten überholt waren. Die Unterstützung für den Aufbau der deutschen Wirtschaft – unter anderem durch den Marshall-Plan -, die an sie geknüpften Bedingungen des angeblich freien Handels und der beginnende Kalte Krieg endeten im Abschied der deutschen Regierung unter Konrad Adenauer von jeder auch nur sozialistisch angehauchten Idee. Obwohl viele noch von Krieg, Zerstörung und Massenmord fassungslose Menschen in Deutschland sich der Tatsache bewusst waren, das „kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“, wurde eben dieses Volk nach wenigen hoffnungsschwangeren Jahren wieder auf eben dieses „kapitalistische Gewinn- und Machtstreben“ eingeschworen. Mit dem so verführerischen wie verlogenen Etikett „Soziale Marktwirtschaft“ versehen, schien es einige Jahre lang als „Wirtschaftswunder“ den Schrecken sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit verloren zu haben, galten verelendende Ausbeutung und massenhafte Armut als überwunden. Ein trügerischer Schein, wie sich alsbald herausstellte, als sich die ersten – für Experten erwartbaren, weil für kapitalistische Ökonomie systemtypischen - Wirtschaftskrisen einstellten und recht schnell deutlich wurde, dass aus ihnen die besitzende Minderheit als Gewinner und die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung als Verlierer hervorgingen, in Arbeitslosigkeit und Armut befördert, ganz so, wie es der sozial-ökonomischen Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft entspricht.

„Eigentum verpflichtet“ zwar (39) als Verfassungsauftrag, egal ob als Besitz von Produktionsmitteln oder Immobilien oder Grund und Boden oder als aufgehäufter Reichtum, aber die optimistische Formulierung, den sozialistischen Aktivisten im Parlamentarischen Rat zu verdanken, erwies sich als „Falschmeldung“. Der zweite Absatz des § 14 des Grundgesetzes war schnell vergessen (40), der erste hingegen wurde zur politischen Handlungsmaxime: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet“, die Privatisierung von gemeinschaftlich Geschaffenem wurde nicht infrage gestellt, sondern praktisch-politisch zum doch wieder kapitalistischen Mantra verdichtet, zur „Verpflichtung“, das Privateigentum vor unerwünschten Zugriffen zu schützen und es - grenzenlos im Wortsinne - zu vermehren. Die verfassungsgemäße Ungleichverteilung von Eigentum und Reichtum schuf eine im Laufe der Jahrzehnte immer größer werdende Kluft zwischen reichen und armen Menschen. Armut als Dauerzustand versperrt einem großen Teil der Menschen den Zugang zu Bildung, zu Kultur, zu allen Formen gesellschaftlicher Teilhabe und damit zur Einflussnahme auf die Gestaltung des Zusammenlebens, sie beschert Millionen Kindern lebenslange Perspektivlosigkeit – in einem Land, das mit der Idee sozialer Gerechtigkeit starten wollte und in der Ausgrenzung und Entwürdigung vieler in ihm lebender Menschen gelandet ist. (41)

Nicht nur der ungleichgewichtige Umgang mit Menschenrechten und mit Menschenwürde, wie sie im Paragrafen 1 der Verfassung verankert worden war, ähnelte dem französischen Modell des 18. Jahrhunderts, sondern auch das Fundament des bürgerlichen Wohlstands blieb in Deutschland erhalten und wurde verfestigt: Der ökonomische Eckpfeiler von Akkumulation und Wohlstand, die übergriffige Aneignung fremder Reichtümer, mit rassistischer Selbstverständlichkeit zusammengeraubt, (42) wurde nicht nur, wie für das bürgerliche Weltbild gewohnt, aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung verdrängt, er wurde gefeiert als „deutsches“ Wirtschaftswunder. Als in den siebziger Jahren der Neo-Liberalismus, in Chicago als methodische Integration von Ökonomie, Politik, Militär und Propaganda konstruiert, (43) den „Markt“ zum Subjekt der Geschichte und sein asoziales und gewaltbeherrschtes Handlungskonzept zum Glücksversprechen für alle Menschen erklärte, wurde er nicht zuletzt von seinen deutschen Profiteuren befeuert: (44)

Sie trugen maßgeblich dazu bei, dass er sich, unter exzessiver Nutzung der kolonialistischen, militaristischen, rassistischen Ausbeutungs- und Ausrottungsintegrale, wie ein tödliches Virus global ausbreiten konnte (45). Die neoliberalen Protagonisten garnieren ihr zerstörerisches Wirken gerne mit den sogenannten „westlichen Werten“ Demokratie, Humanität, Menschenrechte, Freiheit, als zeitgenössische Varianten all dessen, was für bürgerlich-demokratische Zustände typisch ist. Sie werden bei jeder passenden – alltäglichen oder feierlichen – Gelegenheit kolportiert, der zu ihnen antagonistischen Wirklichkeit als bewusstseinslähmender und -verwirrender Schleier übergeworfen: Nicht nur sind deutsche Politik und deutsches Kapital und deutsches Militär teils direkt, teils indirekt an der Verwüstung von Landschaften und der Ausbeutung und Auslöschung von Menschenleben beteiligt, sondern in ihnen hat sich dieses so gewalttätige und bigotte Muster bürgerlicher Herrschaftssysteme hartnäckig festgesetzt. (46) Wenn deutsche Politiker sich bis heute weigern, um nur ein aktuell virulentes Beispiel zu nennen, Nama und Herero für den Völkermord an ihren Vorfahren, (47) für die vom deutschen Herrenvolk verübten kolonialistischen Gräuel endlich auch nur annähernd angemessen zu entschädigen, (48) wird hinter ihren wortgewandten und diplomatisch geschickt verpackten Abwehrmechanismen das kolonialistische und faschistoide Flimmern in ihren Gedanken und Gefühlen sichtbar. (49)

Die nachkriegsdeutsche Entwicklung erscheint wie eine zeitgenössische Kopie des so ernüchternden wie erschreckenden Resümees über die bürgerlich-demokratischen Gesellschaft französisch-revolutionärer Prägung. Spielten die deutschen politisch-ökonomischen Machtzentren zunächst die Rolle von Musterschülern, haben sie aktuell mehr und mehr die Rolle der Hauptakteure einer für einen großen Teil der Menschheit bedrohlichen Konfrontations- und Extraktionspolitik übernommen. (50) Der deutsche Staat, die deutsche Gesellschaft, haben sich positioniert, ihren Platz in der „Weltgemeinschaft“ gesucht und gefunden. Aus dem kolonialistischen, imperialistischen bürgerlichen Erbe mit rassistischer Kernsubstanz ist das neo-kolonialistische, neo-liberale Selbstverständnis mit rassistischer Kernsubstanz geworden, dessen Durchsetzung mit friedlichen, falls die nicht „fruchten“, mit unfriedlichen Mitteln den mitteleuropäischen Alltag kennzeichnet. Deutschland ist, darauf sind seine politischen und ökonomischen Schlüsselfiguren, wie sie gerne und oft betonen, stolz, in der Spur, die das bürgerlich-demokratische System in seiner neoliberalen, „wertorientierten“ Gestalt über den Globus zieht, und sie machen kein Hehl mehr daraus, dass sie seine Methode verstanden haben: Ausbeutung und Ausplünderung, Aufrüstung und Drohgebären und, wenn für die Durchsetzung der eigenen Interessen nötig: Krieg. (51)

Die Mitte – Perfektion der Verdrängung

Es bleibt ein Rest an Unsicherheit: Spricht die Abgrenzung der politischen Repräsentanten und der meinungsmachenden Medien nach rechts, wenn sie sich für Demokratie und Menschenrechte und den Erhalt der „verfassungsmäßigen Ordnung“ einsetzen, wenn sie unisono „Brandmauern“ nach rechts errichten, nicht doch dafür, dass ihre Interpretation und Umsetzung des bürgerlich-demokratischen Konzepts sich von dessen problematischen Anteilen distanziert hat? Kommen die „westlichen Werte“ in Teilen der gegenwärtigen – deutschen – Gesellschaft ohne ihren rassistischen, kolonialistischen, imperialistischen Ballast aus? Wird die vorsichtige Hoffnung hinter diesen Fragen nicht durch die Tatsache genährt, dass in den letzten Monaten Hunderttausende auf die Straßen gingen, um „gegen rechts“ zu demonstrieren, um sich der von Rechten ausgekungelten „Remigration“ und der „Bedrohung des sozialen Friedens“ durch sie zu widersetzen? (52)

Die Abwehrkräfte kommen, so erklären die Protestierenden und sich Abgrenzenden, aus der gesellschaftlichen Mitte, in der die bürgerlich-demokratische Spur durch die Geschichte der letzten Jahrhunderte nach Meinung derjenigen verläuft, die sich nach wie vor auf ihr bewegen. Sie behaupten ihre Position im Zentrum der Gesellschaft mit Ausdauer und Leidenschaft, (53) auf eine Strategie der Abgrenzung nach links und nach rechts vertrauend, die – historisch seit dem Aufstand der französischen Bürger erprobt – erfolgreich und deshalb unersetzlich ist. Mit ihr konnte in den ersten zwei Jahrzehnten des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland die klammheimliche Integration des Nazi-Erbes als eine der Triebkräfte des heranwachsenden Staates kaschiert werden, in den Jahrzehnten danach wurde ihr Einsatz diffiziler und mühseliger: Das vorgeblich demokratische, gerechte und friedliche Gemeinwesen geriet immer offensichtlicher in Widerspruch zu den Einschränkungen von Meinungs- und Versammlungsfreiheit, (54) zu der sozialen Ausgrenzung von größer werdenden Teilen der Bevölkerung und zu der Entschlossenheit, doch wieder Krieg als Mittel der Politik zu akzeptieren und sich indirekt über Waffenexporte oder direkt über Einsätze der Bundeswehr zu beteiligen. Notorische Erklärungen, auf jeden Fall eine „Politik der Mitte“ (55) zu machen, konnten dieses Dilemma nur noch mühsam verdecken, aber offensive Abgrenzungsmanöver (56) sollten jeden Verdacht, es könnte mit einer „Ausfaserung“ nach rechts zusammenhängen, verdrängen: Die Linken sind zwar „aus dem Rennen“, (57) aber die rechts Platzierten, die ihr rassistisches, „das Fremde“ und „Unzivilisierte“ ab- und ausgrenzende Weltbild nicht verbergen, bieten sich als Feindbilder, von denen die „guten Demokraten“ sich zweifellos distanzieren müssen, an. Sie werden des „Populismus“ (58) bezichtigt, wenn sie versuchen, die menschlichen Kollateralopfer bürgerlicher Macht- und Profitkalküle für ihre eigenen politischen Visionen zu gewinnen, oder sie werden als Neo-Nazis gruppiert und polizeilich und juristisch verfolgt, wenn sie ihre eigenen Vorstellungen mit angedrohter oder manifester Gewalt gegen den Staat durchsetzen wollen. Die Reaktionen nach der Europawahl 2024 und den Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern greifen auf, was als Abwehr gegen die Nachfolger oder Nachahmer der alten Nazis erprobt, wenn auch nur bedingt erfolgreich war: Zwar konnten NPD oder andere rechtsradikale oder rechtslastige Gruppierungen in der politischen Landschaft nicht nachhaltig Fuß fassen, boten sich aber als Objekte für demonstrative Grenzziehungen nach rechts an. (59) Immerhin wurde ein NPD-Verbotsverfahren eingeleitet, der NSU exekutiv verfolgt und juristisch belangt, so dass der Eindruck entstehen konnte, es sei zumindest den politischen Mandatsträgern ernst mit der Absicht, das Staatsgebilde vor Bedrohungen von rechts zu schützen. (60)

Um die breite Front der Proteste gegen das Erstarken rechter Kräfte hinreichend einschätzen zu können, muss das Profil der gesellschaftlichen Mitte näher bestimmt werden. Die Tatsache, dass die Grundlagen der bürgerlichen Existenz seit 250 Jahren annähernd stabil geblieben sind, ist nicht nur ihrer militärisch-kriegerischen Absicherung zu verdanken, vielmehr stützt sie sich auf durchaus eigennützige Teile der Gesellschaft, auf Gruppen, Institutionen, Funktionäre, Agenten, die in-mitten des bürgerlichen Gesellschaftskörpers aktiv sind, um seine ideologische, aber auch seine systemische Funktionsfähigkeit sicherzustellen. Sie sind so etwas wie die Rück-Versicherer des bürgerlich-demokratischen Grundmusters, dessen herrschende Gruppen eine ganze Armada von Maschinisten und Reparaturkolonnen, aber auch Propagandisten in Dienst nehmen: (61) Sozialwissenschaftler und Philosophen, Psychotherapeuten und Sozialarbeiter, Rechtswissenschaftler- und -praktiker, Lehrer und Hochschullehrer, Medienschaffende und Journalisten werden als – teilweise akademische - „Hilfstruppen“ für ihre „Anpassungsrituale“ und „Domestizierungsprojekte“ (62) mit kleinerer oder auch größerer Teilhabe am ganz großen Eigentum und Reichtum entlohnt. Sie gehören, solange sie das staatliche Gewaltmonopol nicht herausfordern, zu den effektivsten Wohlstands- und Ausbeutungsbewahrern, sind verlässliche Partner der gesellschaftlichen Machtzentren, deren „Befriedungsverbrechen“ (63), so nennt Franco Basaglia ihre Kollaboration, dafür sorgen, dass die gesellschaftlichen Prozesse möglichst störungsfrei ablaufen und unvermeidliche Schäden an Körpern und Seelen hinreichend repariert werden, damit die wertschaffend-dienstleistend Tätigen ihre Aufgaben weiterhin erfüllen können. Noam Chomsky spricht von den „neuen Mandarinen“, (64) die eine subalterne Herrschaftsschicht bilden, deren Aufgabe darin besteht, von der Tatsache der fragwürdigen Grundlagen bürgerlichen Daseins - und von ihrer eigenen Partizipation – abzulenken und ihre Gefährdung zu verhindern. Für die systemischen Opfer sind die Wissenden keine Verbündeten, weil sie mit ihrem Herrschafts-Wissen zur Aufrechthaltung des bürgerlich-demokratischen Status quo beitragen, weil sie Armut und Elend und ihre rassistisch-kolonialistischen Grundlagen stabilisieren. (65) Aus dieser doppelten Mitte heraus, den politisch-ökonomischen Machtzentren und der wohlsituierten Dienstbarkeit, formiert sich die demonstrative Abwehr gegen die rechten „Landgewinne“.

Gegen welche rechten Äußerungen, Positionen oder Zielprojektionen richten sich die Protestierenden und welche faktischen, sachlichen, substanziellen Argumente und Handlungsmuster setzen sie dagegen? Ein Schwerpunkt der Abgrenzungsbemühungen ist die Asylpolitik: Rechtradikale betonen, „das Volk“ müsse vor fremden Einflüssen geschützt (66) und, falls die schon „eingedrungen“ sind, müssten Migranten „remigriert“ werden, eine Schlüsselvokabel für die Proteste gegen sie. Aus der gesellschaftlichen Mitte heißt es hingegen, „Schutzmaßnahmen“ müssten ergriffen werden, um die „wehrhafte Demokratie“ gegen gewalttätige geflüchtete Migranten oder Asylbewerber zu wappnen; konkret wird das Asylrecht bis zu Unkenntlichkeit und Rechtswidrigkeit (67) beschnitten, die Rückführungs- und Abwehrgewalt gegen Flüchtlinge haben es auf einen verbalen Kokon ohne jeden humanen Inhalt „eingedampft“, die verbalen Formeln ähneln – manchmal wortgleich - „rechten“ Forderungen. Schlicht formuliert geschieht „Remigration“ auf gutbürgerliche Art: repressive, in ihrem Kern rassistische Parolen und Maßnahmen gegen geflüchtete, traumatisierte, vertriebene Menschen, mühsam als „neue Asylpolitik“ verbrämt, in ihrer Substanz nicht mehr zu unterscheiden von den Vorstellungen irgendwelcher rechter Phantasten. (68) Die verkünden ohne verbale Zurückhaltung, den „Volkskörper reinblütig“ erhalten zu wollen - in der gesellschaftlichen Mitte beschwören Aktive eine deutsche „Leitkultur“, rein und akkurat von fremden Einflüssen gesäubert und für die Integration zwar nicht in das Volk, aber doch in die Gesellschaft verbindlich.

Ein anderer Schwerpunkt der Proteste ist der „rechte Populismus“, etwa wenn die rechten Handlungsmuster praktische „Volksnähe“ herstellen und mehr und mehr Menschen davon überzeugen, sie zu wählen. Der „Zusammenschluss der demokratischen Kräfte“ müsse ihn entlarven, weshalb die politisch verantwortlichen Repräsentanten der gesellschaftlichen Mitte ausdauernd betonen, dass sie ihre soziale Empathie und ihr Ringen um einen fürsorgenden Sozialstaat als eine Pflicht verstehen, die ihnen besonders am Herzen liegt, ihren demokratischen, sozialen und friedlichen Zielsetzungen folgend. Praktisch aber verschärfen sie Armut und Elend für Millionen von Menschen spürbar, für aufmerksame Beobachter unübersehbar, und geben Parolen wie „keine Sozialleistungen für Sozialschmarotzer“ aus, sie wollen nach ihren Standards nicht-asylberechtigten Geflüchteten keine Unterstützung mehr gewähren, sie also Hunger und Durst und Obdachlosigkeit aussetzen, (69) hecken Strafen gegen „nicht folgsame“ Bürgergeldempfänger (70) aus und feilschen um ein paar Euro Unterstützung für im materiellen, kulturellen und sozialen Elend alleinerziehende Mütter und ihre Kinder oder für eine Kindergrundsicherung. Die politisch verantwortlichen, moralisch integer erscheinenden Bürger nutzen intensiv und extensiv ihr eigenes mittiges, in seinem Kern und seiner Zielrichtung populistische Methodeninventar, indem sie ihr Ausbeutungs-, Vernutzungs- und Ausgrenzungsprofil gegen Menschen und Natur zum Inbegriff von „Menschenrechten“ erklären, die sie zugleich mit diesen und vielen anderen repressiven und ausgrenzenden Maßnahmen praktisch außer Kraft setzen. Während die vom „Volk“ gewählten Repräsentanten immer neue Schikanen gegen arme und verelendete Menschen erfinden, nutzen ihre Kollegen auf der rechten Seite des parlamentarischen Settings den milliardenverschlingenden Irrsinn von Aufrüstung und Kriegstreiberei als Hintergründe des asozialen Affronts, um sich und ihr national-sozialistisches Angebot als – populistisches? - Kontrastprogramm zu den politisch-ökonomisch Mächtigen (71) anzubieten.

Rechts oder mittig – das Etikett „populistisch“ passt hier wie dort. Die Rechten wollen Ansprüche auf Wohlstand und Nutzung von Rechtsnormen, falls sie überhaupt legitim sein sollten, nur den Herren der Welt zugestehen, die bürgerlich-demokratischen Vertreter der Mitte setzen dieses Modell der Spaltung der Gesellschaft ganz praktisch um. Ihr Narrativ, in den mittleren gesellschaftlichen Gruppen verwurzelt, verbaut ihnen offensichtlich den gedanklichen, gefühlsmäßigen und praktischen Zugang zur desaströsen Wirklichkeit des bürgerlichen Daseins, obwohl die sich praktisch-politisch in Wahrnehmung und Bewusstsein drängt, falls deren Klarheit nicht den wohlstandsabhängigen Verdrängungsmechanismen, die in den (72) Parolen und Aktionen von Demonstrierenden zum Ausdruck kommen, zum Opfer fallen: Dann erleben sie sich selbst als „Retter der Demokratie“, statt deren fragwürdige Substanz, von der sie selbst zehren, infrage zu stellen und zu erkennen, dass die abgrenzenden Bemühungen nach rechts von politischen, ökonomischen und militärischen Entscheidungen und Maßnahmen ad absurdum geführt werden, die sich in ihrer verbalen Verpackung, aber nicht in ihrem praktisch-politischen Duktus von dem unterscheiden, was die Rechten oder Rechtsradikalen „ungeschminkt“ von sich geben.

Das Zuhause des gewöhnlichen Faschismus

Zur Banalität des bürgerlich-demokratischen Gesellschaftsmodells gehört, dass Schlagbäume nach links errichtet werden, während nach rechts der freie Grenzverkehr politisch-propagandistisch zwar tabuisiert, ideologisch und schließlich auch praktisch aber zum politischen Alltag gehört. Bei genauem Hinhören und Hinsehen erweisen sich die Grenzen zwischen den mittigen und den rechten politischen Denk- und Handlungsfeldern als fließend: Den bürgerlichen Machtzentralen in der gesellschaftlichen Mitte, die gerne als  „lupenreine Demokraten“ auftreten, ist Volksherrschaft (73) als eigentliches demokratisches Konzept genauso ein Alptraum - und das Reden über sie als Grundlage des demokratischen Gemeinwesens probates Mittel zum Zweck - wie ihren angeblichen Kontrahenten mit der rechten Schlagseite und dem „Volk“ als griffiges Schlagwort. (74) Auch wenn die in der Mitte etablierten Verteidiger des bürgerlich-demokratischen Status quo lautstark auf Abgrenzung nach rechts bestehen und sie als unüberwindbare „Brandmauer“ preisen, ist sie in ihrer Substanz brüchig. Das Beharren auf wehrhafter Demokratie und humanistischem Handeln soll die Fiktion der Mitte aufrechterhalten, wird von Rechten als demokratiefern aufgedeckt, indem sie ihre praktische Umsetzung auf die Spitze treiben: Was von rechts zu hören und zu sehen ist, erscheint oft als die entlarvende Karikatur des bürgerlich-demokratischen Selbstbetrugs – oder Betrugs.

Die politisch und medial aufgeschreckte Empörung, wenn in der Mitte befindlichen Akteure gelegentlich – und immer häufiger – ihre Fühler nach rechts ausstrecken, widerspricht den Klagelauten über die Rechtsentwicklung nicht: Ihre Entourage fürchtete schon immer, dass die faschistoiden Wurzeln ihrer Pfründe freigelegt werden könnten, aus keinem anderen Grunde klagen die Profiteure der Ausbeutung und des Elends am lautesten über den Aufwind der Rechten in Deutschland, in Europa. Deren Kalkül und Erfolg scheint die seit Jahrhunderten funktionierende Matrix von Macht und Profit zu bedrohen. Wie in allen bürgerlichen Demokratien haben sich auch in Deutschland die besonders Eigentums-Starken und in seiner Vermehrung besonders Skrupellosen zunächst auf der Startrampe, dann im politisch-ökonomischen Zentrum des Nachkriegsstaates zusammengetan, um ihren Wohlstand auf jede erdenkliche Weise zu vergrößern, geldbeutel-, bildungs- und seilschaftengestützt. Ihr Geschäftsmodell funktioniert nach wie vor nur dann, wenn sowohl der Schutz des privaten Eigentums, des Reichtums, des Wohlstands der Bewohner der Nordhalbkugel, dessen Quellen sie offensiv verbergen, als auch seine übergriffige Vermehrung, die Quelle aller bürgerlich-demokratischen Übel, als das höchste staatlich zu schützende Gut unantastbar bleiben, keine Zweifel dulden und jedes Mittel Recht ist, sie zu schützen – als deutsches Kapital, deutschen Wohlstand, deutsche technologische Überlegenheit, deutsches Kulturgut usw.: das faschistische Vibrieren zwischen der scheinbaren „Frontlinie“ nach rechts wird spürbar. (75)

Der Blick zurück in die Geschichte der Menschheit und in die der letzten Jahrhunderte und in die der letzten Jahrzehnte deckt auf, dass die eigentliche Bedrohung für die meisten Menschen und für das globale Überleben das rassistisch-kolonialistische Ausbeutungs- und Ausraubungssystem ist, nicht seine rechtsradikale Wucherung. Seine Antreiber und Nutznießer versuchen mit großen Gesten und Worten die Tatsache zu verdecken, dass ganz allgemein die Substanz des bürgerlich-demokratischen Grundmusters, sein „faschistoides Nervengeflecht“, aus dem gewöhnlichen Denken und Fühlen und Handeln nicht verschwunden sind, aber ihre Glaubwürdigkeit haben sie selbst zu einem Torso werden lassen. Das Verhältnis der gutbürgerlichen Mitte zu den rechtsdrehenden Teilen der Gesellschaft hat etwas Mystisches: Die faschistischen Restbestände der deutschen Nachkriegsgesellschaft huschten wie Geister durch ihre Geschichte, mit jedem Jahr scheinbar unbedeutender und doch immer besser genährt durch ihr polit-ökonomisches Pflegepersonal.

In den letzten Jahren konnten sie sich mit der Alternative für Deutschland (AfD) eine sicht-, hör- und greifbare Gestalt geben, die drastisch und polternd das bürgerlich-demokratische Kartenhaus ins Wanken bringt. Sie scheint für viele leidende und ausgegrenzte Menschen tatsächlich eine „Alternative“ zu sein, deshalb darf die Gefahr, die von der AfD als eine zugespitzte Erscheinungsform, als ein wucherndes Symptom des bürgerlich-demokratischen Systems, ausgeht, nicht unterschätzt werden, aber der Kampf gegen sie ersetzt nicht die notwendige Überwindung dieses Systems: Solange es von den meisten Menschen als Basis des scheinbar unverzichtbaren Wohlstands begriffen, die Notwendigkeit seiner Transformation gerade in der gesellschaftlichen Mitte zu wenig zur Kenntnis genommen wird, einschließlich der „kritischen Intellektuellen“, der Friedensbewegten, der akademischen Funktionseliten und derjenigen, die gerne von gerechter und friedlicher Gesellschaft sprechen - bleibt sein faschistischer Kern so gewöhnlich, so alltäglich, so banal.

Mitte, liberal, sozialdemokratisch, christlich-demokratisch, grün – diese selbstgewählten Etiketten mögen der selbstgerechten Ignoranz gegenüber den Beweggründen und den Folgen des eigenen Handelns genügen, das Grauen, das Elend, die Gewalt, das Leiden dahinter, also die dem bürgerlich-demokratischen System immanenten „Schadstoffe“, verbergen sie vor sich selbst, nicht vor der historischen Wahrheit und nicht vor ihren Opfern. Für die Eingangsthese wiegt die Last des historischen Geschehens schwer: Die Triebkräfte der europäischen Geschichte der letzten Jahrhunderte sind auch die der deutschen Nachkriegsgesellschaft, bis in die aktuelle Gegenwart hinein. In ihnen lebt und wirkt der gewöhnliche Faschismus.

Nachlese

Die Überlegungen zur faschistoiden „gang und gäben Denkform“ (76) mit ihren universellen praktischen Folgen werfen möglicherweise mehr Fragen auf, als sie beantworten können. Drei vorauseilende Antworten versuchen, die bedrückende Bestandsaufnahme nicht ohne auf eine bessere Zukunft, ein besseres Leben für alle Menschen (77) münden kann.

1. In der Nachkriegszeit haben sich die Vertreter reaktionärer Interessen in Deutschland zwar durchgesetzt, aber es gab zugleich eine intensive gesellschaftliche Diskussion mit dem Ziel, die Aufarbeitung der faschistischen Epoche zu einer umfassenden Aufgabe sowohl der politische Verantwortlichen als auch der Zivilgesellschaft zu machen, um zu verhindern, dass sie jemals eine Renaissance erfahren kann. Theodor W. Adorno hat prägende Gedanken zur Debatte beigetragen. „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung,“ (78) mit ihr überantwortet er – ähnlich Alexander und Margarete Mitscherlich (79) und viele andere - die Aufarbeitung der Geschehnisse in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und die Prophylaxe ihrer Wiederholung den Menschen als historischen Subjekten, entlastet die Gesellschaft als strukturelles Subjekt dennoch nicht: Er weiß, dass „die Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Gestalt – und wohl seit Jahrtausenden – [...] nicht, wie seit Aristoteles ideologisch unterstellt wurde, auf Anziehung, auf Attraktion [beruht], sondern auf der Verfolgung des je eigenen Interesses gegen die Interessen aller anderen. Das hat im Charakter der Menschen bis in ihr Innerstes hinein sich niedergeschlagen.“ (80,81) Ganz im Sinne von Rousseau beschreibt Adorno mit wenigen treffenden Worten die Folgen des Privateigentums für das individuelle Fühlen und Denken und für das Miteinander der Menschen, das zum Gegeneinander wird.

Den analytisch wie prophylaktisch entscheidenden Schritt geht Adorno nicht, den Niederschlag des Eigeninteresses – oder: der Verteidigung des Privateigentums - im faschistoiden Nervengeflecht des bürgerlich-demokratischen Gesellschaftsentwurfs erkennt er aber nicht. Für einen so scharfsinnigen Beobachter und dialektischen Analytiker der Gesellschaft und ihrer Entwicklungsprozesse, der dieses Zusammenhänge an vielen anderen Stellen seines Wirkens systematisch aufdeckt, (82) bleibt erstaunlich, dass er diese in Jahrhunderten verfestigte Vorstufe der faschistischen Eruption, in der sie schon angelegt war und aus der heraus sie zu ihrem qualitativen Sprung ansetzte, in einem seiner wirkmächtigsten Texte übersieht. Weil er das Gewöhnliche im Ungeheuerlichen nicht aufdeckte, eignete „Erziehung nach Auschwitz“ sich als programmatische Verdunklungsfloskel, mit der die bürgerlich-nutznießenden Teile Gesellschaft sich entlasten und von ihrer Rückkehr zu den gewöhnlichen politisch-ökonomisch-militärischen Bedingungen ablenken konnte. Ähnlich nutzbar erwies sich die Vorstellung vom „Zivlisationsbruch“ (83), als den Dan Diner den Holocaust historisch einordnete und die unter anderem von Jürgen Habermas vertieft wurde (84). In bester aufklärerischer Absicht und mit wissenschaftlicher Redlichkeit haben sie der Bequemlichkeit des Denkens ganzer Generationen von politischen, pädagogischen, wissenschaftlichen Nach-Denkern Vorschub geleistet, statt sie mit der Autorität ihres Wissens und ihrer Erkenntnismöglichkeiten zu zwingen, den Grundlagen des gewöhnlichen Faschismus zuliebe zu rücken und zu erkennen, dass ihre eigene Existenz auf ihnen fußt. Und doch bleibt die Hoffnung, dass die jungen Menschen, die nachfolgenden Generationen, vielleicht nicht als Ergebnis einer bigotten Erziehung zum Frieden, sondern weil sie deren Widersprüche erkennen und in eigenes, friedliches und gerechtes Handeln umsetzen.

2. Wer denen, die sich in den ökonomischen und politischen Machtzentren festgesetzt haben, „am Zeug flicken“ will, braucht „eigene Motive, um mit den Unterdrückten zu kämpfen“. (85) Für die fehlen die inneren Räume und die treibenden Impulse, wenn man doch irgendwo irgendwie am gesellschaftlichen Reichtum partizipiert, nach seinen Wurzeln nicht fragt und über den eigenen Wohlstands- und Genusshorizont nicht hinausblickt, hinter dem das Elend jenseits des Äquators verschwindet und die „relative Armut“ vor der eigenen Haustür mit probaten politischen und ideologischen Mitteln ins gesellschaftliche Abseits entsorgt  und exkommuniziert werden kann, wie auch das unsägliche Flüchtlingselend und die Tatsache, dass ihm gerne mit Mitteln militärischer und abstoßender Gewalt abgeholfen wird.

Dennoch liegen die Motivationsquellen nicht nur auf der Straße, sondern können Bücherregalen entnommen und als politische Bewegungsformen weltweit betrachtet werden. Zu ihnen gehören – exemplarisch ausgewählt - die Analysen von Marx & Engels zur Entstehung und den Folgen kapitalistischer Produktion, der Nachweis des Zusammenhangs von autoritärem Charakter und Faschismus durch Adorno & Horkheimer, die Hinweise von Sartre auf die Zerstörung sozialer und seelischer Dynamik durch die Kolonisation und Frantz Fanons Kampf gegen sie als Psychiater und als revolutionärer Akteur, die beide in „Die Verdammten dieser Erde“ äußern, die Aufdeckung der „Offenen Adern Lateinamerikas“ durch Eduardo Galeano und der Einsatz für ihre Opfer durch Bischof Romero und Paolo Freire, das  Aufdecken der Befriedungsverbrechen der – intellektuellen - Mitte durch Franco Basaglia und Noam Chomsky, und aktuell die Autoren, die von „Neo-Kolonialismus und Extraktivismus“ (86) sprechen, die kolonialistische „Externalisierung unseres Wohlstandsmülls“ anprangern oder unsere „imperiale Lebensweise“ aufdecken. (87)

Sie alle haben mehr oder weniger explizit die privateigentums- und profitorientierte, ausbeuterische und rassistische, das heißt die faschistoide Grundsubstanz der bürgerlichen Demokratie beschrieben, auch wenn sie die nicht als solche benennen. Unmissverständlich hat Pier Paolo Pasolini auf den Kern des nord-westlichen Wohlstands und seine südlichen Wurzeln gezielt, als er den bürgerlichen Konsumismus mit Faschismus gleichsetzte. (88) Sein Hieb gegen das Mensch und Natur zerstörende System transportiert die Botschaft: Erst wenn die Privatisierung des kollektiv geschaffenen, gesellschaftlichen Reichtums als in ihrem Kern faschistisch denunziert wird, werden Alternativen erkennbar und möglich.

3. Auch das bürgerlich-demokratische System trägt seine Widersprüche in sich: Es gibt Widerstand, Protest, Kritik an diesem Elend, an diesem Siegeszug der Inhumanität, an der Vernichtung menschlichen Lebens, an der Blut- und Leidensspur, auf der die europäischen Gesellschaften seit Jahrhunderten wandeln. Sozialistische und kommunistische Aufstände, Revolten, Revolutionen, die historisch belegt sind, eint der Versuch ihrer Protagonisten, den Rousseauschen Zaun niederzureißen und aus der realen Utopie der fernen Vorfahren eine hoffnungsvolle Zukunft für alle Menschen werden zu lassen, in der „Menschenrechte“, „Würde des Menschen“ und „Demokratie“ – das gemeinsame Gestalten des Zusammenlebens – fixe Koordinaten sind. (89) Sie wollten und wollen dafür sorgen, dass der Ursprungszustand des kollektiven Schaffens und Genießens eine zeitgenössische Renaissance erfährt, also das Privateigentum abgeschafft und umverteilt wird, damit alle Menschen ihre Zeit auf Erden menschenwürdig verbringen können. Ihr Widerstand verlangt die Überwindung neoliberaler, rassistischer, kolonialistischer, antidemokratischer, also in ihrer Summe faschistischer Zustände, er ist empathisch und solidarisch, also unerbittlich in der humanistischen Kritik menschenfeindlicher Lebensverhältnisse. Revolutionäres Fühlen empfindet mit den Menschen, die leiden, spürt manchmal physisch den Schmerz der anderen, wie traurig sie sind und wie hoffnungslos und wie verzweifelt. Dieses Fühlen kennt keine Schmerzgeografie, es leidet mit den israelischen und den palästinensischen Opfern, mit den ukrainischen und den russischen Soldaten, doch ist es nicht wahllos. Wenn der denkende und der fühlende Teil zusammentreffen, erkennen und erspüren ihre Subjekte die individuelle, gesellschaftliche, globale Explosivität. Sie richtet sich gegen die Profiteure, die Nutznießer, die Ausbeuter, die Leuteschinder, die Blutsauger, die Aasgeier, also die ganzen bürgerlichen Herrschaftseigner; sie steht für einen humanistischen, ethischen Sozialismus, dessen Verwirklichung einer links-radikalen Praxis bedarf. Ihre Subjekte sind die wirklichen Hoffnungsträger für den Kampf gegen eine bedrohliche Rechtsradikalisierung der Gesellschaft – weil sie begriffen haben, dass der über den Widerstand gegen den gewöhnlichen Faschismus, der in der bürgerlich-demokratischen Lebensweise sein Zuhause hat, führt. (90) Die Suche nach ihnen geht weiter.


Anmerkung: Die männliche Form ist geschlechterübergreifend zu verstehen.


Fußnoten:

1 Mumford, Lewis, Mythos der Maschine, 1971, S. 187.
2 Rousseau, Jean-Jacques, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen), 1755. (Basierend auf Ovid, , Metamorphosen I, 89-150).
3 Ein Bild, eine Metapher, kein historisches Faktum, aber eine historische Wahrheit.
4 Aus der unendlichen Fülle der Literatur zur Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer methodischen Umsetzung sollen vier Autoren exemplarisch hervorgehoben werden, die verschiedene Aspekte herausgearbeitet haben: Norbert Elias (Der Prozess der Zivilisation), Pierre Bourdieu (Die feinen Unterschiede, Sozialer Sinn), Michel Foucault (Überwachen und Strafen), Philippe Ariès (Geschichte der Kindheit).
5 Edward Bernays hat Mittel, Ziele und Wirkungen der Propaganda als Grundlagen für das Funktionieren bürgerlicher Demokratie unvergleichlich präzise beschrieben: Propaganda, 1928.
6 Zumindest problematisch, auch wenn nicht typisch für sein Denken: https://www.philomag.de/artikel/kant-und-der-rassismus-0.
7 Jean-Claude Michéa hat in einer exzellenten Studie nicht nur die Entstehung, sondern die Durchsetzung und die Rechtfertigungsmuster der liberalen Denk- und Handlungsmodi nachgezeichnet: Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft, 1974.
8 So verstand auch Napoleon Bonaparte seinen Auftrag als französischer Kaiser.
9 Hervorzuheben ist, dass der Eigentums- ein Machtbegriff ist: Das Recht der Stärkeren über das Recht der – mehr oder weniger – Rechtlosen, deren Eigentumsanspruch als nichtig gilt. Die Faschisten, dh. die Träger der Macht – der „fasces“ – bestimmen, wessen Eigentumsansprüche berechtigt bzw. durchsetzungsberechtigt sind und wer zum Opfer der „fasces“ wird.
10 Um Missverständnissen vorzubeugen: Die substanzielle Kritik an der bürgerlichen Demokratie bedeutet keine Delegitimierung oder Zweifel am Ideal der Demokratie (im Aristotelischen Sinne) als Form des Zusammenlebens, die, wie im ersten Kapitel beschrieben, den menschschlichen Lebensnotwendigkeiten und der Befriedigung existenzieller Bedürfnisse entspricht. S. auch Fn …
11 Nur ein Beispiel - das Elend der ausgebeuteten Menschen als literarisches Thema zieht sich durch die Prosa-Geschichte der letzten Jahrhunderte.
12 Karl Marx, „Das Kapital“, aber auch in anderen seiner ökonomischen Schriften ausführlich erläutert.
13 Auf der Internetseite „planet wissen“ heißt es: In den fast 400 Jahren der atlantischen Sklaverei kamen etwa zehn bis zwölf Millionen verschleppte Afrikaner lebend in Amerika an. Vier bis fünf Millionen Sklaven wurden auf die Inseln der Karibik gebracht, 3,5 bis fünf Millionen gelangten nach Brasilien und eine halbe Million Sklaven wurde in die USA verkauft. Doch die Dunkelziffer der systematischen Deportation ist erheblich höher. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 40 Millionen Afrikaner verschleppt und versklavt wurden. Aber nur jeder Vierte überlebte die Gefangennahme in Afrika, die Torturen der Verschleppung vom Inneren Afrikas an die Küsten und schließlich die grausamen Strapazen der Überfahrt. (https://www.planetwissen.de/geschichte/menschenrechte/sklaverei/pwiesklavenfueramerika100.html)
14 Kinderarbeit bleibt eine Grundlage des europäischen Wohlstands: https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/presse/-/report-welttag-gegen-kinderarbeit-2021/277058.
15 UNO-Zahlen: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/fluechtlingszahlen.
16 Der mit „Kolonialismus“ überschriebene Text in Wikipedia hält im Wesentlichen, was er verspricht: Er gibt nicht nur einen groben Überblick über die Vielzahl der Staaten, die Kolonien besaßen, er benennt auch die Wurzeln, das rassistische Konzept und die Leiden der Kolonisierten, bis hin zu den modernen neo-kolonialistischen Formen der Ausbeutung des Südens. (https://de.wikipedia.org/wiki/Kolonialismus#Das_Ende_der_Kolonialzeit).
17 Einer von vielen aktuellen Berichten: https://www.ardmediathek.de/video/wdr-dok/bittere-fruechteausbeutung-in-derlandwirtschaft/wdr/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLXNvcGhvcmEtODlmZTcxODYtNmUyOS00NTVlLTgxNGItNTA3NWJhNWM2NjBh.
18 Die Tatsache, dass die UN im Jahre 2024 in Bezug auf die mörderischsten Kriege, etwa im Nahen Osten oder in der Ukraine, hilf- und machtlos und als Organisation zunehmend bedeutungslos ist, ändert nichts an der Tatsache, dass die Idee ihrer Gründung mit vielen Hoffnungen auf eine friedliche Welt verbunden war.
19 Eine Übersicht bei: Lessenich, Stephan, Neben uns die Sintflut: Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, 2016.
20 Die historische Darstellung von Hobsbawm zeichnet diese Entwicklungen im Detail nach: Hobsbowm, Eric, Das Zeitalter der Extreme, 1994.
21 Die folgenden Abschnitte beschränken sich im Wesentlichen auf die deutsche Geschichte nach der französischen Revolution,
22 Auf die Oktoberrevolution in Russland, der weltweit und historisch wichtigsten Revolutiion, soll in diesem Zusammenhang nicht weiter eingegangen werden – trotz ihrer nachhaltigen Bedeutung auch für revolutionäre Prozesse in Deutschland.
23 … am 15. Januar 1919.
24 „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ – soweit der Spruch Anfang des letzten Jahrhunderts von Linken verwendet wurde, brachte er plakativ zum Ausdruck, was mit dem Godesberger Programm und dann mit der Agenda 2010 seine Fortsetzung fand: Asoziale sozialdemokratische Politik, der explizite Abschied von einem sozialistischen Projekt.
25 …die sich heute nicht nur in rechtsradikalen Sprüchen wie „Ausländer raus“, sondern - sie bürgerlich-vornehm kopierend – in offizieller Asyl- und Migrationspolitik niederschlägt, die fein säuberlich zwischen denen, die als Arbeitskräfte nutzbar sind, und jenen, die mit politischer und militärischer Gewalt vertrieben oder schon vorher auf dem Weg nach Europa barbarischem Leid und Sterben ausgesetzt werden dürfen.
26 „Der Faschismus hat eine andere, unvergleichliche Qualität…“ oder so ähnlich wird er gerne als etwas ganz Anderes, fast „Jenseitiges“, eingeordnet. Dieses „ganz Andere“ gibt es nicht, sondern Entwicklungsprozesse, die manchmal in „qualitativen Sprüngen“ etwas Neues hervorbringen, das sich vom Alten emanzipiert, aber es zugleich bewahrt: Dialektisch gesehen wird das Alte aufgehoben: Manches wird überwunden, anderes weiterverwendet. Der Faschismus ist das Neue, das sich vom bürgerlich-demokratischen Konzept emanzipiert hat, indem es seine Fundamente auf eine „höhere Qualitätsstufe“ gehoben hat. Verzicht auf dialektische Methodik bedeutet, die widersprüchliche Entwicklungsdynamik historischer Prozesse auszublenden.
27 Die Azteken könnten in ihren Massengräbern verständnisvoll nicken und flüstern: „Das kennen wir nur zu gut“.
28 Vielleicht hat Friedrich Schiller im „Wallenstein“ die kompakteste Beschreibung der bürgerlichdemokratischen Geschichte bis hin zum Holocaust zum Ausdruck gebracht: „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß sie, fortzeugend, immer Böses muß gebären.“
29 UN-Charta, Menschenrechtskonventionen usw.
30 Markantestes Beispiel sind die in den siebziger und achtziger Jahren ausgesprochenen Berufsverbote für Tausende, die nach Meinung staatlicher Gesinnungskontrollbehörden nicht auf dem Boden der „Freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ standen. (S. Russell-Tribunal zu den Berufsverboten). In den letzten Jahren bekam diese repressive Ausgrenzung eine neue Dynamik, als immer neue Prozesse gegen Klimaschützer, die aktiv der Zerstörung der Lebensgrundlagen aller Menschen Einhalt gebieten wollten, sei es am Braunkohletagebau oder auf Straßen und Flugplätzen, sie einzuschüchtern versuchten, begründet mit dem Schutz von RWE oder Lufthansa oder der Freiheit, mit dem Auto unbegrenzt den Klimakollaps zu beschleunigen.
31 „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ sang schon 1965 Franz-Josef Degenhardt ironisch überspitzt, „sing nicht ihre Lieder“ oder, prosaisch formuliert, meide die linken Nestbeschmutzer und Feine der Demokriatie.
32 S. https://berufsverbote.de/, und Ausstellung der GEW NRW zum Thema: https://www.gewnrw.de/fileadmin/user_upload/Themen_Wissen_PDFs/Bildung_Soziales_PDFs/Friedenspolitik_PDFs/gew-nrw-flyer-ausstellung-landtag-Berufsverbote-aufarbeiten-entschaedigen.pdf.
33 Unter anderen hat Daniela Dahn etwa in ihrem Buch „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“ nachgezeichnet, wie die Bundesrepublik Deutschland vom ersten Tag an ihr faschistisches Erbe hegte und pflegte.
34 Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen und einer der wenigen aufrechten Demokraten, die konsequent ehemalige Nazis verfolgten, wurde immer wieder angefeindet, teilweise bedroht. .
35 Als Bezeichnung für DDR-Funktionäre, die sehr schnell lernten, wie man sich erfolgreich an westliche Gepflogenheiten anpasst, lässt er sich retrospektiv auch für die verkappten Nazis verwenden.
36 Auf die ersten Jahre des Bestehens der BRD bezogen scheint die „Bolte-Zwiebel“ ein passendes Modell für die Mitte-Lastigkeit der Gesellschaft zu sein: https://de.wikipedia.org/wiki/Bolte-Zwiebel.
37 Karl Arnold, Vertreter eines Christlichen Sozialismus, nahm ihn nicht nur als Etikett, sondern als gesellschaftlichen Auftrag ernst.
38 Ahlener Programm, Zonenausschuß der CDU für die britische Zone, Ahlen / Westfalen, 3. Februar 1947.
39 Art. 14, Abs. 2 des Grundgesetzes: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ – wenn es also dem Eigentümer gut geht, geht es allen gut!
40 Der zweite „sozialistische“ Paragraf des Grundgesetzes spielte ohnehin in der Geschichte der Bundesreprublik keine Rolle – bis die Wohnungsnot als Ergebnis des politischen Schutzes des Eigentumsgötzen ihn für Bürgerinitiativen handlungsleitend werden ließ: Art. 15 GG: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden“. „Ein Verfassungsfossil“, meint der Bundesminister für Justiz, Marco Buschmann, weshalb er ihn abschaffen möchte.
41 Und sie wächst weiter: Piketty, Thomas, Das Kapital im 21. Jahrhundert; OECD-Studien; Berliner Deklaration zur Ungleichheit: https://newforum.org/wp-content/uploads/2024/07/DE_The-Berlin-Summit-Declaration_Winning-back-the-people.pdf.
42 Nicht zuletzt gehören auch die „Gastarbeiter“ aus ganz Europa, auch wenn viele in Deutschland Fuß gefasst haben und schon in zweiter und dritter Generation hier leben, zu diesem Aneignungsprozess.
43 Am eindrucksvollsten beschrieben von Naomi Klein in ihrem grandiosen Werk „Die Schock-Strategie“.
44 … gerne versteckt hinter Euphemismen wie „Exportweltmeister“.
45 Das „Handbuch“ zum Verständnis des Neoliberalismus, seiner theoretischen und praktischen Wurzeln und seiner leid- und todbringenden gewaltdurchtränkten Funktionsmechanismen ist das Buch von Naomi Klein, Die Schockstrategie. Um die Gegenwart in ihrer politisch-ökonomisch-militärischen Komplexität und das geopolitische Gefüge, das USA, EU und Nato einzurichten versuchen, zu verstehen, sind diese knapp eintausend Seiten unverzichtbar.
46 Als aktuelles Beispiel sei das Gerangel um ein Lieferkettengesetz genannt: Kontrolle von Ausbeutung und Verelendung nicht erwünscht.
47 Neben dem Umgang mit den Nama und Herero gibt es viele Beispiele für das kolonialistische Rauschen in der deutschen Politik, etwa der Umgang mit den Sinti und Roma, den Kurden - vielleicht ist der Wiederaufbau der Garnisonskirche in Potsdam, ein Symbol für deutsche Eroberungs- und Kolonialpolitik, das nicht nur jüngste, sondern bezeichnendste Exempel.
48 Meldung in der Rheinischen Post vom 07. August 2024: „Versöhnungsdialog mit Namibia stockt“ – weil die ehemals Kolonisierten sich nicht länger mit Almosen und Hochmut abspeisen lassen wollen.
49 Der Versuch von inzwischen weltweit fast 600 Wissenschaftlern, mit einer „Berlin Summit Declaration“ die verantwortlichen Politiker des Westens zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu bewegen, um die Rechtsentwicklung in vielen Ländern aufzuhalten, hat kurze Notizen in Teilen der Medien gefunden, ohne Spuren im politischen Entscheidungsgefüge zu hinterlassen: https://newforum.org/theberlin-summit-declaration-winning-back-the-people/.
50 Ukraine, Gaza, Mittelstreckenraketen, Ramstein, Büchel, Nörvenich, Wiesbaden – diese und viele andere Stichworte reichen hin, um die expansive, kriegerische und, sarkastisch gesagt, größenwahnsinnige Selbstdefinition der deutschen politischen Mandats- und Entscheidungsträger zu kennzeichnen.
51 Wie umfassend zerstörerisch der Zusammenhang von Kolonialismus, Rassismus und Militarismus auswirkt, nicht zuletzt in Form der Klimakatastrophe, ist in den Texten nachgezeichnet, die sich mit der „Klima-Zerstörungs-Konstante“ befassen (Langfassung: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27651, gekürzte Fassung: https://www.heise.de/tp/features/Klima-und-Rassismus-7120973.html und https://www.heise.de/tp/features/Was-Weltklimarat-und-Weltsozialrat-veraendern-koennten-7121923.html).
52 …nachdem ein sogenanntes investigatives Journalistenteam ähnlich lautende Vorhaben eines angeblichen Geheimtreffens aufgedeckt haben wollte.
53 Tagesschau (ARD), 27.9., 20 Uhr: Der NRW-Ministerpräsident betont, dass er und seine CDU-Kollegen anderer Bundesländer „aus der Mitte der Gesellschaft heraus“ ihre ausgrenzende, abwehrende Asyl- und Migrationspolitik machen.
54 Von Brokdorf bis Berlin: Die Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit haben in den letzten fünfzig Jahren in dramatischer Weise zugenommen und sind inzwischen ohne jede Trennschärfe: Wenn Kritik am israelischen Völkermord in Gaza als Antisemitismus verfolgt, Kritiker auch der deutschen Waffenlieferungen mit Einreiseverbot belegt und auf friedliche Demonstranten für den Frieden von Polizisten eingeprügelt wird (https://www.freitag.de/autoren/hannohauenstein/polizeigewalt-bei-propalaestinensischen-protesten-wo-bleibt-black-lives-matter), sind nur Beispiele genannt, die beliebig zu ergänzen sind.
55 Vollends zu einer Farce wird dieser Drang zur Mitte, wenn etwa der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Felix Banaszak, in einem Interview erklärt, die Grünen wollten eine „führende Kraft der linken Mitte werden“. (Rheinische Post, 19.10.2024, S. A4).
56 Zu diesen Abgrenzungsmodulen gehören etwa sog. Nichtvereinbarkeitsbeschlüsse, „Brandmauern“ gegen rechte und linke Gruppierungen und Parteien, gegen die gerne auch „rote Linien“ gezogen werden.
57 Die sogenannte Wieder-Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten, die faktisch eine feindliche Übernahme oder Annexion war, ließ für einen kleinen Zeitraum Hoffnungen bei friedliebenden und gerechtigkeitsaffinen Menschen entstehen, angeregt durch die „Runden Tische“, an denen Aktivisten aus Ost und West saßen und über eine neue Verfassung und einen demokratischen Sozialismus debattierten. Ihre Ideen leben weiter, die bürgerliche-demokratische Realität machte ihnen sehr schnell den Garaus.
58 Was ist Populismus? Einige Hinweise: „Die Populismusfalle“ (Günter Rexilius, http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24178).
59 NPD-Verbotsverfahren: https://de.wikipedia.org/wiki/NPDVerbotsverfahren_(2013%E2%80%932017).
60 Der Eindruck hat sich als ambivalent erwiesen, wie nicht nur die Pannen und Ungereimtheiten bei der Verfolgung des NSU und der durch sie offensichtlich werdende Rechtslastigkeit eines Teils des polizeilichen Personals zeigen. Erläuterungen etwa hier: https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/deutschland-zehn-jahre-nsu-selbstenttarnungpolizei-bilanz.
61 Haltungs-Journalismus ist die neue Meinungsmache: https://de.wikipedia.org/wiki/Haltungsjournalismus.
62 So nennt Basaglia die Berufsausübung der für gesellschaftliche Ruhe und die Reparatur von kleineren körperlichen und seelischen Kollateralschäden zuständigen Experten, etwa Mediziner, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter.
63 Basaglia, Franco, Befriedungsverbrechen, 1972.
64 Chomsky, Noam, Die neuen Mandarine, 1969.
65 Die Systemfrage, die notwendige Überwindung der kapitalistischen, neoliberalen Grundfesten, um Frieden und Gerechtigkeit schaffen zu können, werden weder von Gewerkschaften noch von der Friedens- oder anderen sozialen Bewegungen so gut wie nicht thematisiert, schon gar nicht angestrebt.
66 Ein kleiner empirischer Beleg: Am 2. September 2024 berichtete die Rheinische Post, dass der deutsche Bundespräsident eine Gedenkveranstaltung in Solingen zur Hetze mißbraucht, Überschrift: "Steinmeier: Fanatische Islamisten wollen zerstören, was wir lieben“. Er spricht nicht davon, dass fanatische europäische PolitikerInnen sich längst von allen Menschen- und Asylrechtsnormen verabschiedet haben - die 28 am Tag zuvor abgeschobenen Afghanen sind ja nur die Spitze des Abschiebeeisbergs - und lassen seit vielen Jahren Zehntausende vor Gewalt und Hunger fliehende Menschen im Mittelmeer ertrinken, finanzieren ihre Handlanger, die Fliehende in der nordamerikanischen Wüste verdursten und an Stacheldrahtzäunen im Osten Europas verenden lassen, um es mit Steinmeiers Worten zu sagen: Sie zerstören, was ihre Opfer geliebt haben, nämlich ihre Leben. In derselben Ausgabe berichtet die RP über Subventionen für E-SUVs für Konzerne und die Deckelung des Bürgergeldes. Und sie berichtet über eine Demonstration in Essen gegen eine AfDVeranstaltung – nicht etwa gegen die politischen Zumutungen, die der AfD die Wähler in die Arme treiben.
67 Letzte Augusttage 2024: Abschiebung von 28 afghanischen Männern nach Kabul, durch kein Recht, sondern nur durch sinnlosen politischen Aktionismus begründet, ergänzt durch immer lautere Rufe nach weiterer Beschneidung der Privatsphäre, nach mehr Repression gegen geflüchtete Menschen, nach noch mehr Abschottung vor Menschen, die Schutz vor Gewalt und Vertreibung suchen. Fortsetzung nahezu täglich.
68 Festung Europa: Die neue Asylgesetzgebung und ihre Umsetzung in deutscher Version schaffen moderne europäische Festungen gegen die Menschen, die von europäischen Konzernen und Regierungen mithilfe von Kapital und Gewalt aus ihren Heimaten vertrieben worden sind.
69 Man müsse die Flüchtlinge „vergrämen“, meinte der sächsische Innenminister Ende August 2024 – die Satiriker Henning Bornemann und Axel Baumann antworteten darauf in der Sendung „Satire des Luxe“ am 31. August, das werde wohl das Unwort des Jahres werden.
70 Die CSU: Bürgergeld soll abgeschafft werden!
71 Es gibt auch sachliche Beschäftigung mit dem Thema: https://www.freitag.de/autoren/joerg-philfriedrich/demokratischen-parteien-wer-ist-denn-damit-nicht-gemeint.
72 Einschließlich der Gewerkschaften - mit wenigen Ausnahmen -, dermaleinst nicht nur Organisationen für mehr Lohn und weniger Arbeitszeit, sondern auch Orte des Nachdenkens und des Widerstandes gegen staatliche und polizeiliche Willkür, schwenken nun die Fahnen der Loyalität mit einem System, dem sie hörig und dienstbar geworden sind, ohne darüber nachzudenken, wie tödlichunsolidarisch auch ihre eigene Lebensweise, ihr Denken und Handeln, für die Opfer auf der Südhalbkugel sind: Jeder Arbeitsplatz zählt, wieviel Leid und Armut und Gewalt und existenzbedrohende Klimaschäden in anderen Teilen der Welt immer ihn sichern.
73 Von der politischen und juristischen Mühsal, Volksabstimmungen als Mittel der Politik zu etablieren, können etliche einschlägiger Initiativen „ein Lied singen“, sie sind ein Alptraum für die bürgerlich- bzw. repäsentativ-demokratischen Nutznießer.
74 Rainer Mausfeld, Demokratie – Ein Nachruf, 2025, ders. Demokratie oder zivilisatorischer Abgrund, 2025 – zwei von dem Autor für 2025 angekündigte Bücher, die viele der hier geäußerten Überlegungen bestätigen werden.
75 Das ist und bleibt der tiefere Sinn der Migrationspolitik der politischen Mitte.
76 …der, so Karls Marx im „Kapital“, wissenschaftlich auf den Grund gegangen werden müsse (HKWM 2, 1995, Spalten 589-600).
77 Die Vorstellung vom „Buen Vivir“ südamerikanischer Indigener hat längst viele Menschen in Europa, die ihr Leben ohne neoliberale, bürgerlich-demokratische Entwürdigung und Entrechtung leben wollen, erreicht.
78 Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, in Gesammelte Schriften. 1. Auflage. Band 10. Kulturkritik und Gesellschaft 1. Prismen [u. a.], 2003, S. 674.
79 Margarete & Alexander Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, 1967.
80 aaO., S. 687.
81 Schon 1933 hatte Wilhelm Reich in seiner Analyse der Zurichtung menschlicher seelischer Dynamik für autokratische Zwecke, der „Massenpsychologie des Faschismus“, nachgewiesen, wie der subtile psychische Terror die Menschen gefügig macht, sie in die Ausweglosigkeit treibt. In penibler Kleinarbeit bearbeitet und neu herausgegeben von Andreas Peglau: Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933.
82 Etwa: Adorn0 & Horkheimer, Der autoritäre Charakter, 1946.
83 Dan Diner, Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, 1987.
84 Jürgen Habermas, Geschichtsbewußtsein und posttraditionale Identität. Die Westorientierung der Bundesrepublik, 1987.
85 Basaglia, s. Fußnote 60.5
86 Für einen Überblick: https://www.rosalux.de/publikation/id/5579/der-neue-extraktivismus/, .
87 Lessenich, aaO.; Brand, Ulrich & Markus Wissen, Imperiale Lebensweise, 2017.
88 Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, 1975.
89 Von Ernst Bloch in seinem monumentalen Werk „Das Prinzip Hoffnung“ in aller Ausführlichkeit beschrieben.
90 „Eine kurze Geschichte des gewöhnlichen Faschismus“ – zu kurz, um die unübersehbare Fülle seiner Facette auch nur annähernd darstellen zu können. Auf das Klimakatastrophen-Thema aber muss wenigstens hingewiesen werden: In seinem Buch „Industrielle Abrüstung“ (2024) trägt Bruno Kern die aktuell verfügbaren Fakten und Erkenntnisse zusammen und lässt keinen Zweifel, dass der (neoliberale) Kapitalismus, seine politischen Wegbereiter und ihre militärische Assistenz dem Klima und damit uns Menschen keine Überlebenschance lassen, zumal Protest, Widerstand in systemimmanenter Zurückhaltung erstarren.

Online-Flyer Nr. 838  vom 11.11.2024



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