SUCHE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Krieg und Frieden
Zur Situation in der Schweiz und in Deutschland
Neutralität ist Voraussetzung des Friedens
Ariet Güttinger - interviewt von Elke Zwinge-Makamizile
Im März 2025 ist in der Schweiz die "Bewegung für Neutralität" gegründet worden. Sie "versteht die Neutralität als Voraussetzung des Friedens und der direkten Demokratie. Denn wer sich Machtblöcken oder militärischen Bündnissen 'annähert', gibt seine Souveränität stückweise auf. Und gerade in der existenziellen Frage von Krieg und Frieden muss jeder Entscheid direkt-demokratisch zustandekommen". Da die Neutralität in der Schweiz gefährdet ist, ist es Ziel der Bewegung, die Neutralität über einen Volksentscheid in der Verfassung zu verankern. Ariet Güttinger engagiert sich in der "Bewegung für Neutralität" und ist Teil ihres Vorstands. Sie sieht auch die Entwicklungen in Deutschland. Dazu äußert sie: "Die Kampagne 'Für ein neutrales Deutschland' ist von größter Bedeutung. Es ist eine echte Friedensinitiative in einer Zeit, in der sich auch Grüne- und SPD-Politiker in Deutschland als imperialistische Kriegspropagandisten gebärden." Elke Zwinge-Makamizile hat Ariet Güttinger interviewt.
Sie sind seit vielen Jahren als Friedenskämpferin in Wort und Tat bekannt und geschätzt. Sie setzten sich ein für das Selbstbestimmungsrecht der Sahraouis in der Westsahara. Sie waren 2018 für drei Monate im Auftrag von Peace Watch Switzerland als Menschenrechtsbeobachterin nach Palästina und Israel gereist und verfassten das Buch "Das ist Palästina … ist das Palästina?" (1) Als Schweizerin, aber nicht nur als Schweizerin unterstützen Sie eine dauerhafte Neutralität, die es mehr und mehr zu verteidigen gilt. Worin besteht der historische und gegenwärtige Wert einer Neutralität?
Zuerst möchte ich etwas sagen zur Geschichte der Neutralität. Während der napoleonischen Kriege war die Schweiz inmitten des Kriegsgeschehens mit all den leidvollen Erfahrungen für die damalige Bevölkerung. Beim Wiener Kongress wurde der Schweiz dann 1815 der neutrale Status zugesprochen.
1907 schlossen verschiedene Länder in Den Haag ein „Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs“, das von der Schweiz 1910 ratifiziert und in Kraft gesetzt wurde.
Das wichtigste Recht eines neutralen Staates ist im Artikel 1 festgelegt: „Das Gebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich.“ Artikel 2 legt fest: „Es ist den Kriegführenden untersagt, Truppen oder Munitions- oder Verpflegungskolonnen durch das Gebiet einer neutralen Macht hindurchzuführen.“ Artikel 3 und 4 verbieten den Kriegführenden, das Staatsgebiet einer neutralen Macht für ihre Interessen zu nutzen.
Die neutrale Macht hat folgende Pflicht: „Artikel 5 Eine neutrale Macht darf auf ihrem Gebiete keine der in den Artikeln 2-4 bezeichneten Handlungen dulden.“
Beim Export von Rüstungsgütern muss eine neutrale Macht alle Kriegsparteien gleich behandeln. Zudem muss eine neutrale Macht dafür sorgen, dass sie sich gegen Angriffe von aussen militärisch erfolgreich verteidigen kann. Daher sprechen wir in der Schweiz von einer „bewaffneten Neutralität.“
Zur Schweiz im 1. Weltkrieg: Für den Bestand der Schweiz im ersten Weltkrieg war die Neutralität ein Segen. Im deutschsprachigen Norden gab es Kreise, die sich gerne den Mittelmächten angeschlossen hätten, im französischsprachigen Teil gab es Kreise, die mit Frankreich sympathisierten. Dank der neutralen Haltung der Schweiz kam es nicht zu einer innerstaatlichen Zerreißprobe. Zudem blieb die Schweiz von einem Krieg verschont. Auch auf meine Familiengeschichte hatte dies einen Einfluss. Mein Großvater aus dem Elsass, damals noch unter dem deutschen Kaiserreiches, war mit seiner Familie kurz vor dem 1. Weltkrieg nach Schaffhausen gezogen. Als ihn der Kaiser zum Kriegsdienst einziehen wollte, blieb er in der neutralen Schweiz und ist damit vermutlich dem Tod auf dem Schlachtfeld entgangen…
Zur Schweiz im 2. Weltkrieg: Im 2. Weltkrieg blieb die Schweiz dank ihrer bewaffneten Neutralität von einem Anschluss an das nazistische 3. Reich und damit vom Kriege verschont. Ich erinnere mich an einen Besuch bei Verwandten in Deutschland nach dem Krieg. Zerbombte Häuser, ein riesiger Saal, in dem meine Verwandten - einer der Söhne war im Osten gefallen - mit anderen Flüchtlingsfamilien, abgetrennt mit Vorhängen, hausten. Unsere Mitbringsel waren bitter benötigte Artikel des täglichen Bedarfs. Das ist der Schweiz dank ihrer bewaffneten Neutralität erspart geblieben.
Die Neutralität hat der Schweiz auch weltweit einen guten Ruf eingetragen. Sehr oft haben sich in der Vergangenheit Länder an die Schweiz gewandt, und diese gebeten bei der Lösung von innerstaatlichen Konflikten behilflich zu sein. Dabei spielte die Diplomatie eine herausragende Rolle, wie ich in einem Interview mit dem ehemaligen Schweizer Diplomaten Georges Martin erfahren habe. (2) Auf meine Frage „Gibt es Beispiele für die Bedeutung der schweizerischen Neutralität, wenn man in der Geschichte zurückschaut?“, antwortete er: „Ja, es gibt sehr, sehr viele. Die Neutralität ist wie die Luft. Die Schweiz atmet mit der Neutralität. Die Außenpolitik der Schweiz war immer eine neutrale Außenpolitik. Was heißt das? Länder, die Probleme hatten miteinander, sind zu uns gekommen und haben gefragt: ‚Können Sie helfen?‘ Es gab zahlreiche Beispiele in Afrika: Tschad, Mali und so weiter. Als ich in Indonesien war, war für die Indonesier die Schweiz die Mutter aller Neutralität. In Aceh haben wir nach dem Tsunami mitgeholfen, den dreißigjährigen Bürgerkrieg zu beenden. Bei den Iranian Nuclear Talks in Genf war die Schweiz hilfreich. Die Libanon-Gespräche haben in der Schweiz und mit Schweizer Hilfe stattgefunden. Auch die Verhandlungen in Kolumbien zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung wurden von der Schweiz unterstützt. Nach dem Krieg zwischen Russland und Georgien haben wir die russischen Interessen in Tiflis und die georgischen Interessen in Moskau vertreten. Es gibt keinen Kontinent, wo wir nicht aktiv waren. Es gab kaum eine Woche ohne Meldungen über die Aktivitäten der Schweiz in Sachen Frieden und Friedensverhandlungen.“
Das wäre eigentlich der gegenwärtige Wert der Neutralität, der leider nicht mehr vollumfänglich wahrgenommen wird. Mit den einseitigen Sanktionen, die die Schweiz 2022 - ohne dazu verpflichtet zu sein - übernommen hat, wurde die Neutralität der Schweiz empfindlich verletzt. Damit hat das Ansehen der Schweiz weltweit Schaden genommen. Die guten Dienste der Schweiz werden nur noch selten wahrgenommen, so der ehemalige Diplomat: „Jetzt, mit dem Krieg in der Ukraine, hat die Schweiz ihre diplomatischen Dienste angeboten. Aber für Russland kommt die Schweiz nicht mehr in Frage. Russland will nicht, dass die Schweiz ihre Interessen in der Ukraine vertritt, weil die Schweiz mit der Neutralitätspolitik gebrochen hat.“
Wie wird in der Schweiz auf diesen Bruch mit der Neutralitätspolitik reagiert?
Aus der schweizerischen Bevölkerung gibt es einige Bestrebungen, die Neutralität zu erhalten, zu stärken und in der Verfassung zu verankern. Dank der direkten Demokratie gibt es in der Schweiz die Möglichkeit mit einer Volksinitiative die Bundesverfassung zu ändern oder zu ergänzen. Dazu müssen 100.000 Unterschriften von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern gesammelt werden. Letztes Jahr ist eine solche Volksinitiative zustande gekommen, die die Neutralität in der Verfassung verankern soll. Vermutlich im nächsten Jahr wird das Schweizer Volk über diese Volksinitiative abstimmen können. Folgender Artikel soll neu in die Schweizerische Bundesverfassung eingefügt werden:
Im Mai 2024 wurde dann in Bellinzona der Verein «Fronte per la Neutralità e il Lavoro: No UE – No Nato» gegründet. Gemäss Alberto Togni, dem jungen Präsidenten des Vereins «will der Verein eine ‹Einheitsfront› bilden, die all jenen offensteht, die unabhängig von ihrem politischen Hintergrund die Verteidigung der schweizerischen Neutralität und Arbeit, den Verzicht auf jegliche Integration in die EU und die Nato als oberste Priorität auf der politischen Agenda betrachten.» (4)
Der ehemalige Schweizer Diplomat Jean-Daniel Ruch hat in Genf ein Zentrum für Neutralität gegründet, das in der heutigen Welt die Unparteilichkeit fördern wird und es Konfliktparteien ermöglicht, ihre Konflikte in einem sicheren Rahmen in einer neutralen, konstruktiven Atmosphäre beizulegen.
Zudem ist am 14. März 25 in der Schweiz die "Bewegung für Neutralität" gegründet worden für eine Schweiz der guten Dienste. „Die Bewegung versteht die Neutralität als Voraussetzung des Friedens und der direkten Demokratie. Denn wer sich Machtblöcken oder militärischen Bündnissen 'annähert', gibt seine Souveränität stückweise auf. Und gerade in der existenziellen Frage von Krieg und Frieden muss jeder Entscheid direkt-demokratisch zustandekommen“, so die Bewegung für Neutralität in ihrer Mitteilung an die Medien. (5)
Ende März 25 hat der Journalist Christian Müller von Globalbridge unter ‚Die Schweiz online‘ eine neue Plattform gegründet zur Wahrung der Schweizer Neutralität.
Ihre friedenspolitische Leitlinie ist das humanitäre Völkerrecht und die UN-Charta mit ihren Prinzipien der Selbstbestimmung, Souveränität und Nichteinmischung. Bedeutet der Kampf des globalen Südens um Entkolonialisierung eine Chance für den Weltfrieden?
Mit der Resolution 1514 (6) verkündete die Generalversammlung der Uno am 14. Dezember 1960 „feierlich die Notwendigkeit, dem Kolonialismus in allen seinen Erscheinungsformen rasch und bedingungslos ein Ende zu machen“ mit folgender Begründung.
„1. Die Unterwerfung von Völkern unter fremde Unterjochung, Herrschaft und Ausbeutung stellt eine Verweigerung grundlegender Menschenrechte dar, steht im Widerspruch zur Charta der Vereinten Nationen und ist ein Hindernis für die Förderung des Friedens und der Zusammenarbeit in der Welt.
2. Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung; kraft dieses Rechts bestimmen sie frei ihren politischen Status und verfolgen frei ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“
Bis heute wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker von den USA wirtschaftlich, politisch oder militärisch hintertrieben. So äusserte der neue amerikanische Vizepräsident Cyrus Vance, dass die ehemaligen Kolonien des globale Südens auch weiterhin an unterster Stelle der globalen Wertschöpfungskette verbleiben müssen. Die internationale Arbeitsteilung müsse so bleiben, wie sie sei. Die armen Länder produzieren Billigprodukte mit wenig Wertschöpfung während die reichen Länder dank ihrer Technologien eine hohe Wertschöpfung mit entsprechender Rendite erzielen. (7)
Länder des globalen Südens haben sich unter grossen Opfern ihr Recht auf Selbstbestimmung - von Vietnam über Kuba, Venezuela und andere - erkämpft. Zudem hatte sich - initiiert von Tito (Jugoslawien), Nasser (Ägypten), Nehru (Indien) und Sukarno (Indonesien) 1961 die Bewegung der Blockfreien gebildet, die sich weder den USA noch der UDSSR anschließen wollten. Die Bewegung der Blockfreien setzte sich für Abrüstung und eine friedliche Koexistenz von kapitalistischen und sozialistischen Staaten ein, auf der Grundlage der Uno-Charta, die man mit Fug und Recht als Friedenscharta bezeichnen kann. Damit haben sich die Länder des Südens explizit für ein friedliches, gleichwertiges Zusammenleben der weltweiten Völkergemeinschaft ausgesprochen. Ihre Frage, ob der Kampf des Südens für eine Entkolonisierung eine Chance für den Weltfrieden sei, kann ich daher mit einem klaren ‚Ja‘ beantworten.
Länder wie Indonesien, seit 2025 Vollmitglied von BRICS und Turkmenistan, Beobachter bei BRICS, bestehen auf ihrem Status als souveränes Land mit neutraler Außenpolitik. Russland und China betonen das Recht jeden Landes auf seine eigene Entwicklung. Sehen Sie in einer multipolaren Weltordnung die Chance friedlicher Kooperation souveräner Staaten?
Die von ihnen in der Frage beschriebene Entwicklung gibt Anlass für Optimismus. Dass Länder wie Indonesien und Turkmenistan eine neutrale Außenpolitik verfolgen ist sehr wichtig. Es ist zu hoffen, dass dies auch andere Länder dazu veranlassen wird, sich einer neutralen Aussenpolitik zuzuwenden. Selbstverständlich haben auch die Länder der BRICS ihre Interessen, die sie verfolgen. Sie setzen dabei jedoch nicht wie die USA auf Kriege und Destabilisierung wie jüngst in Syrien. Die Länder der BRICS wollen Austausch und Handel betreiben, so zum Beispiel China mit dem Projekt Neue Seidenstrasse. Die Voraussetzung dazu sind stabile, sichere souveräne Länder, die untereinander friedlich kooperieren.
In Deutschland ist die Kampagne "Für ein neutrales Deutschland" gestartet. Erachten Sie in der zugespitzen Kriegsgefahr und Kriegsbereitschaft des globalen Westens diese Kampagne als sinnvoll?
Die Kampagne „Für ein neutrales Deutschland“ ist von größter Bedeutung. Es ist eine echte Friedensinitiative in einer Zeit, in der sich auch Grüne- und SPD-Politiker in Deutschland als imperialistische Kriegspropagandisten gebärden. Für die Friedensinitiative „Für ein neutrales Deutschland“ wünsche ich Euch eine weite Verbreitung, um der Kriegspropaganda entgegenzuwirken und damit den Boden zu legen für ein friedliches Zusammenwirken der Völker in Europa, zu denen auch das russische Volk gehört. Eine neue Zeit der Entspannung muss wieder möglich gemacht werden. So wie wir es auf dem europäischen Kontinent zu Zeiten von Olof Palme, Willy Brandt und Bruno Kreisky erlebt haben, als damals Friede und Entspannung mit Russland noch zuoberst auf der Traktandenliste der Sozialdemokratie stand.
Vielen Dank für das Interview, liebe Ariet Güttinger!
Fußnoten:
1 Henriette Hanke Güttinger, Das ist Palästina ... ist das Palästina?, ISBN: 978-3-033-08597-8. Das Buch kann für 20 Euro (inkl. Versand) unter henriettehankeguettinger@gmail.com bestellt werden. Die 20 Euro gehen an ein Projekt im Gazastreifen.
2 https://zgif.ch/2025/02/04/die-neutralitaet-ist-unser-schutz-und-unsere-raison-detre/
3 https://www.friedensbewegung.ch/
4 Weichenstellung - Schweiz wohin? Unter das Joch von EU und Nato oder unabhängig und neutral bleiben? Zeitgeschehen im Fokus, Nr. 20, 19. Dezember 2024.
5 bene-schweiz.info
6 1514 (XV). Erklärung über die Gewaa hrung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker https://www.un.org/depts/german/gv-early/ar1514-xv.pdf
7 https://uncutnews.ch/us-vizepraesident-jd-vance-gibt-zu-dass-west-den-globalen-sueden-am-unteren-ende-der-wertschoepfungskette-gefangen-halten-will/
Zum Thema Neutralität siehe auch:
Website der Kampagne "Für ein neutrales Deutschland"
https://deutschlandneutral.de
Kongress „Krieg und Frieden“ der Neuen Gesellschaft für Psychologie am 11. April 2025 in Berlin
Eine "Internationale der Neutralität" – das schaffen wir!
Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann - interviewt von Yavuz Özoguz (Muslim-Markt)
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=29467
Podium „Deutschland. Aber Neutral“ auf der Ersten Alternativen Medienmesse am 29. März 2025 in Berlin
Der Samen für die Neutralität ist gelegt
Von NRhZ-Redaktion
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=29449
Gefährdet der Rüstungskonzern Rheinmetall im Schweizer Kanton Schwyz die Neutralität?
Widerstand gegen Rheinmetall in der Schweiz
Von Ariet Güttinger
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=29450
Offener Brief an Martin Pfister (neuer Schweizer Bundesrat und "Verteidigungsminister"), Bern, 31. März 2025
Hoffnungen, Sorgen und ein wachsamer Blick auf Ihre Arbeit
Von Vorstand der Schweizer "Bewegung für Neutralität"
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=29451
Online-Flyer Nr. 845 vom 17.04.2025
Zur Situation in der Schweiz und in Deutschland
Neutralität ist Voraussetzung des Friedens
Ariet Güttinger - interviewt von Elke Zwinge-Makamizile

Sie sind seit vielen Jahren als Friedenskämpferin in Wort und Tat bekannt und geschätzt. Sie setzten sich ein für das Selbstbestimmungsrecht der Sahraouis in der Westsahara. Sie waren 2018 für drei Monate im Auftrag von Peace Watch Switzerland als Menschenrechtsbeobachterin nach Palästina und Israel gereist und verfassten das Buch "Das ist Palästina … ist das Palästina?" (1) Als Schweizerin, aber nicht nur als Schweizerin unterstützen Sie eine dauerhafte Neutralität, die es mehr und mehr zu verteidigen gilt. Worin besteht der historische und gegenwärtige Wert einer Neutralität?
Zuerst möchte ich etwas sagen zur Geschichte der Neutralität. Während der napoleonischen Kriege war die Schweiz inmitten des Kriegsgeschehens mit all den leidvollen Erfahrungen für die damalige Bevölkerung. Beim Wiener Kongress wurde der Schweiz dann 1815 der neutrale Status zugesprochen.
1907 schlossen verschiedene Länder in Den Haag ein „Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs“, das von der Schweiz 1910 ratifiziert und in Kraft gesetzt wurde.
Das wichtigste Recht eines neutralen Staates ist im Artikel 1 festgelegt: „Das Gebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich.“ Artikel 2 legt fest: „Es ist den Kriegführenden untersagt, Truppen oder Munitions- oder Verpflegungskolonnen durch das Gebiet einer neutralen Macht hindurchzuführen.“ Artikel 3 und 4 verbieten den Kriegführenden, das Staatsgebiet einer neutralen Macht für ihre Interessen zu nutzen.
Die neutrale Macht hat folgende Pflicht: „Artikel 5 Eine neutrale Macht darf auf ihrem Gebiete keine der in den Artikeln 2-4 bezeichneten Handlungen dulden.“
Beim Export von Rüstungsgütern muss eine neutrale Macht alle Kriegsparteien gleich behandeln. Zudem muss eine neutrale Macht dafür sorgen, dass sie sich gegen Angriffe von aussen militärisch erfolgreich verteidigen kann. Daher sprechen wir in der Schweiz von einer „bewaffneten Neutralität.“
Zur Schweiz im 1. Weltkrieg: Für den Bestand der Schweiz im ersten Weltkrieg war die Neutralität ein Segen. Im deutschsprachigen Norden gab es Kreise, die sich gerne den Mittelmächten angeschlossen hätten, im französischsprachigen Teil gab es Kreise, die mit Frankreich sympathisierten. Dank der neutralen Haltung der Schweiz kam es nicht zu einer innerstaatlichen Zerreißprobe. Zudem blieb die Schweiz von einem Krieg verschont. Auch auf meine Familiengeschichte hatte dies einen Einfluss. Mein Großvater aus dem Elsass, damals noch unter dem deutschen Kaiserreiches, war mit seiner Familie kurz vor dem 1. Weltkrieg nach Schaffhausen gezogen. Als ihn der Kaiser zum Kriegsdienst einziehen wollte, blieb er in der neutralen Schweiz und ist damit vermutlich dem Tod auf dem Schlachtfeld entgangen…
Zur Schweiz im 2. Weltkrieg: Im 2. Weltkrieg blieb die Schweiz dank ihrer bewaffneten Neutralität von einem Anschluss an das nazistische 3. Reich und damit vom Kriege verschont. Ich erinnere mich an einen Besuch bei Verwandten in Deutschland nach dem Krieg. Zerbombte Häuser, ein riesiger Saal, in dem meine Verwandten - einer der Söhne war im Osten gefallen - mit anderen Flüchtlingsfamilien, abgetrennt mit Vorhängen, hausten. Unsere Mitbringsel waren bitter benötigte Artikel des täglichen Bedarfs. Das ist der Schweiz dank ihrer bewaffneten Neutralität erspart geblieben.
Die Neutralität hat der Schweiz auch weltweit einen guten Ruf eingetragen. Sehr oft haben sich in der Vergangenheit Länder an die Schweiz gewandt, und diese gebeten bei der Lösung von innerstaatlichen Konflikten behilflich zu sein. Dabei spielte die Diplomatie eine herausragende Rolle, wie ich in einem Interview mit dem ehemaligen Schweizer Diplomaten Georges Martin erfahren habe. (2) Auf meine Frage „Gibt es Beispiele für die Bedeutung der schweizerischen Neutralität, wenn man in der Geschichte zurückschaut?“, antwortete er: „Ja, es gibt sehr, sehr viele. Die Neutralität ist wie die Luft. Die Schweiz atmet mit der Neutralität. Die Außenpolitik der Schweiz war immer eine neutrale Außenpolitik. Was heißt das? Länder, die Probleme hatten miteinander, sind zu uns gekommen und haben gefragt: ‚Können Sie helfen?‘ Es gab zahlreiche Beispiele in Afrika: Tschad, Mali und so weiter. Als ich in Indonesien war, war für die Indonesier die Schweiz die Mutter aller Neutralität. In Aceh haben wir nach dem Tsunami mitgeholfen, den dreißigjährigen Bürgerkrieg zu beenden. Bei den Iranian Nuclear Talks in Genf war die Schweiz hilfreich. Die Libanon-Gespräche haben in der Schweiz und mit Schweizer Hilfe stattgefunden. Auch die Verhandlungen in Kolumbien zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung wurden von der Schweiz unterstützt. Nach dem Krieg zwischen Russland und Georgien haben wir die russischen Interessen in Tiflis und die georgischen Interessen in Moskau vertreten. Es gibt keinen Kontinent, wo wir nicht aktiv waren. Es gab kaum eine Woche ohne Meldungen über die Aktivitäten der Schweiz in Sachen Frieden und Friedensverhandlungen.“
Das wäre eigentlich der gegenwärtige Wert der Neutralität, der leider nicht mehr vollumfänglich wahrgenommen wird. Mit den einseitigen Sanktionen, die die Schweiz 2022 - ohne dazu verpflichtet zu sein - übernommen hat, wurde die Neutralität der Schweiz empfindlich verletzt. Damit hat das Ansehen der Schweiz weltweit Schaden genommen. Die guten Dienste der Schweiz werden nur noch selten wahrgenommen, so der ehemalige Diplomat: „Jetzt, mit dem Krieg in der Ukraine, hat die Schweiz ihre diplomatischen Dienste angeboten. Aber für Russland kommt die Schweiz nicht mehr in Frage. Russland will nicht, dass die Schweiz ihre Interessen in der Ukraine vertritt, weil die Schweiz mit der Neutralitätspolitik gebrochen hat.“
Wie wird in der Schweiz auf diesen Bruch mit der Neutralitätspolitik reagiert?
Aus der schweizerischen Bevölkerung gibt es einige Bestrebungen, die Neutralität zu erhalten, zu stärken und in der Verfassung zu verankern. Dank der direkten Demokratie gibt es in der Schweiz die Möglichkeit mit einer Volksinitiative die Bundesverfassung zu ändern oder zu ergänzen. Dazu müssen 100.000 Unterschriften von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern gesammelt werden. Letztes Jahr ist eine solche Volksinitiative zustande gekommen, die die Neutralität in der Verfassung verankern soll. Vermutlich im nächsten Jahr wird das Schweizer Volk über diese Volksinitiative abstimmen können. Folgender Artikel soll neu in die Schweizerische Bundesverfassung eingefügt werden:
- „Art. 54a Schweizerische Neutralität
1) Die Schweiz ist neutral. Ihre Neutralität ist immerwährend und bewaffnet.
2) Die Schweiz tritt keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis bei. Vorbehalten ist eine Zusammenarbeit mit solchen Bündnissen für den Fall eines direkten militärischen Angriffs auf die Schweiz oder für den Fall von Handlungen zur Vorbereitung eines solchen Angriffs.
3) Die Schweiz beteiligt sich nicht an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten und trifft auch keine nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen gegen kriegführende Staaten. Vorbehalten sind Verpflichtungen gegenüber der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) sowie Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen anderer Staaten.
4) Die Schweiz nutzt ihre immerwährende Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung.“
Im Mai 2024 wurde dann in Bellinzona der Verein «Fronte per la Neutralità e il Lavoro: No UE – No Nato» gegründet. Gemäss Alberto Togni, dem jungen Präsidenten des Vereins «will der Verein eine ‹Einheitsfront› bilden, die all jenen offensteht, die unabhängig von ihrem politischen Hintergrund die Verteidigung der schweizerischen Neutralität und Arbeit, den Verzicht auf jegliche Integration in die EU und die Nato als oberste Priorität auf der politischen Agenda betrachten.» (4)
Der ehemalige Schweizer Diplomat Jean-Daniel Ruch hat in Genf ein Zentrum für Neutralität gegründet, das in der heutigen Welt die Unparteilichkeit fördern wird und es Konfliktparteien ermöglicht, ihre Konflikte in einem sicheren Rahmen in einer neutralen, konstruktiven Atmosphäre beizulegen.
Zudem ist am 14. März 25 in der Schweiz die "Bewegung für Neutralität" gegründet worden für eine Schweiz der guten Dienste. „Die Bewegung versteht die Neutralität als Voraussetzung des Friedens und der direkten Demokratie. Denn wer sich Machtblöcken oder militärischen Bündnissen 'annähert', gibt seine Souveränität stückweise auf. Und gerade in der existenziellen Frage von Krieg und Frieden muss jeder Entscheid direkt-demokratisch zustandekommen“, so die Bewegung für Neutralität in ihrer Mitteilung an die Medien. (5)
Ende März 25 hat der Journalist Christian Müller von Globalbridge unter ‚Die Schweiz online‘ eine neue Plattform gegründet zur Wahrung der Schweizer Neutralität.
Ihre friedenspolitische Leitlinie ist das humanitäre Völkerrecht und die UN-Charta mit ihren Prinzipien der Selbstbestimmung, Souveränität und Nichteinmischung. Bedeutet der Kampf des globalen Südens um Entkolonialisierung eine Chance für den Weltfrieden?
Mit der Resolution 1514 (6) verkündete die Generalversammlung der Uno am 14. Dezember 1960 „feierlich die Notwendigkeit, dem Kolonialismus in allen seinen Erscheinungsformen rasch und bedingungslos ein Ende zu machen“ mit folgender Begründung.
„1. Die Unterwerfung von Völkern unter fremde Unterjochung, Herrschaft und Ausbeutung stellt eine Verweigerung grundlegender Menschenrechte dar, steht im Widerspruch zur Charta der Vereinten Nationen und ist ein Hindernis für die Förderung des Friedens und der Zusammenarbeit in der Welt.
2. Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung; kraft dieses Rechts bestimmen sie frei ihren politischen Status und verfolgen frei ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“
Bis heute wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker von den USA wirtschaftlich, politisch oder militärisch hintertrieben. So äusserte der neue amerikanische Vizepräsident Cyrus Vance, dass die ehemaligen Kolonien des globale Südens auch weiterhin an unterster Stelle der globalen Wertschöpfungskette verbleiben müssen. Die internationale Arbeitsteilung müsse so bleiben, wie sie sei. Die armen Länder produzieren Billigprodukte mit wenig Wertschöpfung während die reichen Länder dank ihrer Technologien eine hohe Wertschöpfung mit entsprechender Rendite erzielen. (7)
Länder des globalen Südens haben sich unter grossen Opfern ihr Recht auf Selbstbestimmung - von Vietnam über Kuba, Venezuela und andere - erkämpft. Zudem hatte sich - initiiert von Tito (Jugoslawien), Nasser (Ägypten), Nehru (Indien) und Sukarno (Indonesien) 1961 die Bewegung der Blockfreien gebildet, die sich weder den USA noch der UDSSR anschließen wollten. Die Bewegung der Blockfreien setzte sich für Abrüstung und eine friedliche Koexistenz von kapitalistischen und sozialistischen Staaten ein, auf der Grundlage der Uno-Charta, die man mit Fug und Recht als Friedenscharta bezeichnen kann. Damit haben sich die Länder des Südens explizit für ein friedliches, gleichwertiges Zusammenleben der weltweiten Völkergemeinschaft ausgesprochen. Ihre Frage, ob der Kampf des Südens für eine Entkolonisierung eine Chance für den Weltfrieden sei, kann ich daher mit einem klaren ‚Ja‘ beantworten.
Länder wie Indonesien, seit 2025 Vollmitglied von BRICS und Turkmenistan, Beobachter bei BRICS, bestehen auf ihrem Status als souveränes Land mit neutraler Außenpolitik. Russland und China betonen das Recht jeden Landes auf seine eigene Entwicklung. Sehen Sie in einer multipolaren Weltordnung die Chance friedlicher Kooperation souveräner Staaten?
Die von ihnen in der Frage beschriebene Entwicklung gibt Anlass für Optimismus. Dass Länder wie Indonesien und Turkmenistan eine neutrale Außenpolitik verfolgen ist sehr wichtig. Es ist zu hoffen, dass dies auch andere Länder dazu veranlassen wird, sich einer neutralen Aussenpolitik zuzuwenden. Selbstverständlich haben auch die Länder der BRICS ihre Interessen, die sie verfolgen. Sie setzen dabei jedoch nicht wie die USA auf Kriege und Destabilisierung wie jüngst in Syrien. Die Länder der BRICS wollen Austausch und Handel betreiben, so zum Beispiel China mit dem Projekt Neue Seidenstrasse. Die Voraussetzung dazu sind stabile, sichere souveräne Länder, die untereinander friedlich kooperieren.
In Deutschland ist die Kampagne "Für ein neutrales Deutschland" gestartet. Erachten Sie in der zugespitzen Kriegsgefahr und Kriegsbereitschaft des globalen Westens diese Kampagne als sinnvoll?
Die Kampagne „Für ein neutrales Deutschland“ ist von größter Bedeutung. Es ist eine echte Friedensinitiative in einer Zeit, in der sich auch Grüne- und SPD-Politiker in Deutschland als imperialistische Kriegspropagandisten gebärden. Für die Friedensinitiative „Für ein neutrales Deutschland“ wünsche ich Euch eine weite Verbreitung, um der Kriegspropaganda entgegenzuwirken und damit den Boden zu legen für ein friedliches Zusammenwirken der Völker in Europa, zu denen auch das russische Volk gehört. Eine neue Zeit der Entspannung muss wieder möglich gemacht werden. So wie wir es auf dem europäischen Kontinent zu Zeiten von Olof Palme, Willy Brandt und Bruno Kreisky erlebt haben, als damals Friede und Entspannung mit Russland noch zuoberst auf der Traktandenliste der Sozialdemokratie stand.
Vielen Dank für das Interview, liebe Ariet Güttinger!
Fußnoten:
1 Henriette Hanke Güttinger, Das ist Palästina ... ist das Palästina?, ISBN: 978-3-033-08597-8. Das Buch kann für 20 Euro (inkl. Versand) unter henriettehankeguettinger@gmail.com bestellt werden. Die 20 Euro gehen an ein Projekt im Gazastreifen.
2 https://zgif.ch/2025/02/04/die-neutralitaet-ist-unser-schutz-und-unsere-raison-detre/
3 https://www.friedensbewegung.ch/
4 Weichenstellung - Schweiz wohin? Unter das Joch von EU und Nato oder unabhängig und neutral bleiben? Zeitgeschehen im Fokus, Nr. 20, 19. Dezember 2024.
5 bene-schweiz.info
6 1514 (XV). Erklärung über die Gewaa hrung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker https://www.un.org/depts/german/gv-early/ar1514-xv.pdf
7 https://uncutnews.ch/us-vizepraesident-jd-vance-gibt-zu-dass-west-den-globalen-sueden-am-unteren-ende-der-wertschoepfungskette-gefangen-halten-will/
Zum Thema Neutralität siehe auch:
Website der Kampagne "Für ein neutrales Deutschland"
https://deutschlandneutral.de
Kongress „Krieg und Frieden“ der Neuen Gesellschaft für Psychologie am 11. April 2025 in Berlin
Eine "Internationale der Neutralität" – das schaffen wir!
Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann - interviewt von Yavuz Özoguz (Muslim-Markt)
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=29467
Podium „Deutschland. Aber Neutral“ auf der Ersten Alternativen Medienmesse am 29. März 2025 in Berlin
Der Samen für die Neutralität ist gelegt
Von NRhZ-Redaktion
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=29449
Gefährdet der Rüstungskonzern Rheinmetall im Schweizer Kanton Schwyz die Neutralität?
Widerstand gegen Rheinmetall in der Schweiz
Von Ariet Güttinger
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=29450
Offener Brief an Martin Pfister (neuer Schweizer Bundesrat und "Verteidigungsminister"), Bern, 31. März 2025
Hoffnungen, Sorgen und ein wachsamer Blick auf Ihre Arbeit
Von Vorstand der Schweizer "Bewegung für Neutralität"
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=29451
Online-Flyer Nr. 845 vom 17.04.2025