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Arbeit und Soziales
Soziale Marktwirtschaft: Der Entwurf für eine autoritäre Gesellschaft?
Kein Modell für die Linke
Von Herbert Schui

Soziale Marktwirtschaft ist ein Synonym für Kapitalismus. Der Koalitionsvertrag zwischen Union und FDP verrät nicht deren Prinzipien, sondern vollendet sie. Dieser Artikel erschien am 12. Dezember in junge Welt und entblößt dies. Er ist die passende Ergänzung zu Herbert Schui‘s Artikel „Der Entwurf für eine autoritäre Gesellschaft? – Soziale Marktwirtschaft“, dessen dritter und letzter Teil in unserer heutigen Ausgabe erscheint. Die Redaktion.

Linke wünschen sich, daß es sozial zugeht. Wer nicht genau hinsieht, könnte deshalb an der sozialen Marktwirtschaft Gefallen finden, zumal die gegenwärtigen Zustände alles andere als gerecht sind. Haben also die Unionsparteien die Ideale der sozialen Marktwirtschaft verraten, wie derzeit behauptet wird? Nein. Um dieses Mißverständnis zurechtzurücken, lohnt es sich, bei den Begründern jener Lehre wie Walter Eucken, Alfred Müller-Armack oder Ludwig Erhard nachzulesen und dies mit einigen markanten Sätzen des Koalitionsvertrages oder der Kanzlerin zu vergleichen.

Soziale Marktwirtschaft ist ein suggestiver Begriff, er will uns etwas vormachen. Müller-Armack schreibt 1973 in seinen »Wissenschaftlichen Ursprüngen der sozialen Marktwirtschaft«: »Man (hat) es wenigstens im deutschen Sprachbereich wohl mit Recht vermieden, das Wort ›Kapitalismus‹, das emotionsbelastet ist und im übrigen zur Sache wenig sagt, durch den neutraleren Begriff (...) der Marktwirtschaft zu ersetzen.« Soviel zum Grundsätzlichen.

In einem wichtigen Punkt weicht der aktuelle Koalitionsvertrag von den Klassikern der Lehre ab. Dieser bekennt sich zur Tarifautonomie. »Sie ist ein hohes Gut, gehört unverzichtbar zum Ordnungsrahmen der sozialen Marktwirtschaft«, heißt es da. Allerdings – wer uneingeschränkte Tarifautonomie beschwört, kann den gesetzlichen Mindestlohn ablehnen. Anders argumentiert dagegen der Klassiker Eucken. Er betont in seinen »Grundsätzen der Wirtschaftspolitik«, daß »im Rahmen der Märkte, auch des Arbeitsmarktes, Freiheit bestehen (...) muß. Das ist das Ziel.« Und weiter: »Die Arbeiter und Angestellten (werden) durch Beseitigung des freien Arbeitsvertrages (...) in ihrer sozialen Position geschwächt (...) und die Menschen in eine Apparatur und in die Hand von Funktionären geraten, die sie beherrschen.« Gewerkschaften und Tarifautonomie also haben bei Eucken in der sozialen Marktwirtschaft keinen Platz.


Demonstration in Köln 2009: Die Freiheit des Arbeitsmarktes
Foto: H.-D. Hey - gesichter zei(ch/g)en

Bei der Sozialversicherung dagegen will die Koalition die klassischen Grundsätze verwirklichen. Müller-Armack schreibt 1960 in »Die zweite Phase der sozialen Marktwirtschaft«: »Mit fortschreitender Expansion wachsen mehr und mehr Schichten in eine Lage hinein, in der ihnen ein höheres Maß an Selbsthilfe zugemutet werden kann.« Gefordert wird »Konzentration auf die echten Fälle der Hilfsbedürftigkeit« und eine »Aufgliederung der sozialen Hilfe in eine vom Staate gesicherte Grundversorgung und eine zusätzliche Schicht einer der eigenen Initiative überlassenen Eigensicherung (…).« Im Koalitionsvertrag liest sich das so: »Langfristig wird das bestehende Ausgleichssystem überführt in eine Ordnung (...) mit einkommens­unabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen, die sozial ausgeglichen werden.« Zunächst also Eigenverantwortung, wo das nicht reicht, eine bescheidene öffentliche Grundsicherung. »Eigensicherung« bedeutet »eine weitgehende Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten«, wobei »der Arbeitgeberanteil fest« (bleibt).

Dasselbe soll gelten für die Pflegeversicherung: Das Umlageverfahren ist zu ergänzen »durch Kapitaldeckung, die verpflichtend, individualisiert und generationengerecht ausgestaltet sein muß. Also »Eigenverantwortung und Eigeninitiative zur Absicherung des Pflegerisikos und zur Gestaltung der Pflege«.

Für soziale Gerechtigkeit ist in der gleichnamigen Marktwirtschaft der Wettbewerb zuständig: »In der vollständigen Konkurrenz teilt ein anonymer Wirtschaftsprozeß den Menschen ihre Einkommen zu (...). Und so wird die Verteilung nicht nach ethischen Gesichtspunkten vollzogen, sondern sie ist einem ethisch gleichgültigen Automatismus überlassen.« Dieses »ethisch-gleichgültige Grundprinzip der Wettbewerbswirtschaft« ist nach dieser Lehre die Bedingung für die »Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit«, denn es teilt das Einkommen entsprechend der für den Konsumenten erbrachten Leistung zu. Wenn die Sache so steht, dann ist der freie Arbeitsmarkt dem gesetzlichen Mindestlohn überlegen. Denn schließlich: »Die Preismechanik der vollständigen Konkurrenz (ist) – trotz vieler Mängel – immer noch besser als die Verteilung aufgrund willkürlicher Entscheidungen privater oder öffentlicher Machtkörper«, argumentiert jedenfalls Eucken in seinen Grundsätzen.

Vollständiger Wettbewerb, auf den Gütermärkten, auf dem Arbeitsmarkt, ist demnach nicht ein Arrangement, dessen Nutzen an seinen Ergebnissen zu überprüfen wäre. Nein, Wettbewerb ist im Sinne der sozialen Marktwirtschaft eine ethische Norm. Edgar Nawroth, einer der bedeutendsten Vertreter der katholischen Soziallehre, aber wendet sich entschieden gegen die »Ethisierung und Verabsolutierung des Wettbewerbs­prinzips«. Dies sei eine »mythische Personifizierung und Verabsolutierung der Marktautomatik«, schreibt er in »Die wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen des Neoliberalismus«.

Was für den »Zusammenhalt der Gesellschaft« sorgen soll, hat Ludwig Erhard auf den Punkt gebracht: »Wir müssen vielmehr wieder dazu kommen, mehr auf das Ganze zu schauen (...), nicht nur auf das individuelle Sein, sondern auf das Volk, auf die Nation, auf die umfassenden Formen der Gemeinschaft und der Gesellung im Leben(...)«, so der damalige Bundeskanzler auf dem 13.Parteitag der CDU 1965. Das sieht Angela Merkel ähnlich. In ihrer Regierungserklärung vom November 2005 sagte sie: »Wir sind uns bewußt, daß ein Volk mehr ist als eine lose Ansammlung von Individuen, und wir wissen, daß ein Volk auch immer eine Schicksalsgemeinschaft ist.«

Wer all das will, der mag sich für die soziale Marktwirtschaft begeistern. Für Die Linke jedenfalls taugt sie nicht. (HDH)

Der Artikel erschien in „junge Welt" vom 12.12.2009

Online-Flyer Nr. 233  vom 20.01.2010



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