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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Wirtschaft und Umwelt
Das Zeitalter des Marktfundamentalismus
In der dritten Krise
Von Hans-Dieter Hey

Wenn jemand die großen Krisen der letzten 100 Jahre als Historiker und Zeitgenosse, als Gelehrter und politisch Aktiver beschreiben kann, dann ist das der 1917 geborene Brite Eric Hobsbawm. Jetzt äußert er sich zu vergangenen und gegenwärtigen Krisensituationen in verschiedenen Aufsätzen, die erstmals in deutscher Sprache vorliegen. Darin plädiert er feurig für einen neuen Sozialismus. Wir veröffentlichen ein Interview aus dem Buch mit ihm durch den Politikwissenschaftler Georg Fülberth und den Publizisten Friedrich-Martin Balzer. - Die Redaktion.

Die gegenwärtige Wirtschaftskrise scheint die dritte große Krise zu werden, mit der Sie sich in Ihrem Leben befaßt haben. Die Krise von 1873 haben Sie nicht selbst erlebt, aber sie lag in jenem „langen“ 19. Jahrhundert, über das Sie geschrieben haben. Die Krise von 1929 haben Sie als Kind erlebt und sie gehört zu den großen Tatsachen Ihres Buchs "Das Zeitalter der Extreme“. Und nun 2008/2009. Wenn Sie diese drei Krisen vergleichen, zu welchem Ergebnis kommen Sie?
 
Wir sind heute wieder, und das wird zum ersten Mal von allen zugegeben, in einer der grundlegenden Krisen des Kapitalismus. Es ist sehr interessant, wie es bis jetzt vermieden wurde, überhaupt davon zu sprechen, und erst in den letzten paar Wochen hört man wieder den Vergleich zu 1930 usw. Das kommt eigentlich von einer außerordentlichen - wie soll man sagen? - theologischen Offensive, die theoretisch von Ökonomen geleitet, aber seit der Mitte der siebziger Jahre immer mehr von Regierungen angenommen wurde. Diese Idee, die man economic market fundamentalism genannt hat, war eine Art Abart des Laissez-faire. Natürlich war das Laissez-faire schon immer das Prinzip des Kapitalismus, also der freie Markt, der ungehinderte Markt, die freie Bewegung aller Faktoren der Wirtschaft. Und von allem Anfang an war das auch, wie gesagt, schon global, jedenfalls seit der frühen Mitte des 19. Jahrhunderts. Auch damals war das eine Art reductio ad absurdum. Ich schrieb einmal, wenn Sie mir das erlauben zu zitieren, „daß eine solche Wirtschaft keine Grenzen anerkannte, denn sie funktionierte am besten, wenn das freie Spiel der Produktionsfaktoren durch nichts beeinträchtigt wurde. Der Kapitalismus war damit nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch internationalistisch.

Das Ideal seiner Theoretiker bestand in einer internationalen Arbeitsteilung, durch die ein optimales Wachstum der Weltwirtschaft gewährleistet wurde. Seine Maßstäbe waren global: es war unsinnig, in Norwegen Bananen züchten zu wollen, wenn ihr Anbau in Honduras weit billiger war. Auf lokale oder regionale Verhältnisse bezogene Gegenargumente wurden nicht akzeptiert. Die reine Theorie des Wirtschaftsliberalismus billigte auch die extremsten und absurdesten Konsequenzen ihrer Grundannahmen, sofern sich nachweisen ließe, daß die gesamte Industrieproduktion der Welt sich am besten in Madagaskar konzentrieren würde (so wie damals 80 Prozent der weltweiten Uhrenproduktion auf die Schweiz entfielen [...]) oder daß die gesamte Bevölkerung Frankreichs tunlicherweise ihren Wohnsitz in Sibirien nähme (so wie große Teile der norwegischen Bevölkerung ihr Land verließen und in die USA auswanderten), dann konnte es einfach keine ökonomisch vernünftigen Argumente gegen derartige Entwicklungen geben.“ 1)
 
Im 19. und auch im 20. Jahrhundert wurde die Absurdität dieser Annahmen ein wenig kontrolliert von der historischen Wirklichkeit des Kapitalismus, der eben erstens nur in begrenzter Hinsicht im Weltmaßstab funktionierte und der zweitens sich zum großen Teil in größeren Blöcken entwickelte, den verschiedenen Staaten, Nationen, Nationalstaaten usw., deren Politik und deren Interessen nicht immer mit dem absolut totalen, optimalen Wirtschaftswachstum zusammenfielen. Das Neue seit den 70er Jahren ist meiner Ansicht nach, daß die Weltwirtschaft wirklich globalisiert wurde, in dem Sinne, daß nicht nur Devisen und andere Finanzmittel international gehandelt wurden - was schon lange der Fall war - und Warenimporte und -exporte, sondern daß auch die Produktion international und multinational wurde. Trotzdem war das wirklich Neue nicht, daß das Laissez-faire, der freie Markt, wiederkam, sondern daß er einen gewissen religiösen Anstrich hatte. Der größte Teil der Volkswirtschaftler glaubte erstens nicht an die Tatsache, daß sich der Kapitalismus nur durch Krisen entwickelt. Man sagte: »Ach, wir wissen ja viel zu viel davon, das ist alles abgeschafft.“
 
Zweitens glaubten sie, daß der freie Markt immer die Probleme, die er stellte, auch selbst rationell regeln werde.Und drittens nahm man an, daß hierdurch irgendwie nicht nur maximales Wirtschaftswachstum, sondern auch maximale Wohlfahrt der Menschen entstehe. Denn die Menschen seien Individuen und rationelle Agenten auf einem Markt, der seine eigene Rationalität hatte. Deshalb könne es auf die Dauer nicht zu Schwierigkeiten kommen, außer durch äußerliche Einwirkung der Staaten, Politiker und anderer Akteure von außerhalb des Marktes.
 
Daß man so etwas ernsthaft glaubte, scheint heute schon unfaßbar, aber es ist eine Tatsache, daß die meisten Volkswirtschaftler 30 Jahre lang fest daran glaubten und die Befolgung dieser Vorstellungen für die einzige und allein selig machende Politik hielten. Ich glaube, eben deshalb kam die heutige Krise überraschend; sie war für uns alle unerwartet, nicht die Krise selbst, aber der Zeitpunkt. Was sich nie voraussehen läßt, ist der Moment, in dem etwas geschieht. Der Zeitpunkt läßt sich nie voraussehen, auch wenn man die Tendenzen voraussieht. Es war ziemlich klar, daß das bisherige Treiben nicht ewig dauern könnte, aber wie lange es dauern würde, das war nicht vorherzusehen. Ich habe selbst oft genug gesagt: ‚Jetzt muß es aus sein mit dieser Art Theologie, jetzt scheint es doch unmöglich, weiter daran zu glauben.‘ Es ging aber doch noch weiter. Das Verschwinden der Sowjetunion wirkte wohl verlängernd, hat diesen Kurs zwischenzeitlich noch gestärkt, da die meisten anderen Länder auch in dieses Programm verfielen.



Die große Krise
Filmclip: Brian Morris, NGO / YouTube

Es ist eine Tatsache, daß diese theologische Volkswirtschaftslehre - das Werk von Theologen mit mathematischen Algorithmen - sich nun doch selbst widerlegte. Das war schon Ende der 90er Jahre so, als ein großer Investitionskonzern in Amerika flöten ging, der von weltbekannten Nobelpreisträgern und Volkswirtschaftlern geleitet wurde, die sagten: ‚Ja, das muß gehen. Da ist kein Risiko. Denn das einzige Risiko, das wir sehen können, tritt einmal in 23 Millionen Jahren ein‘. Das ist an sich schon ein Blödsinn. Die Dinge auf der Welt sind nicht so, wie diese Theologen sagten. Aber so war es, sie schienen Recht zu behalten. Und so kommt es, daß diese Leute heute gänzlich ohne eine wirkliche Lösung dastehen. Sie wissen, daß es aus ist; sie wissen, daß irgendwie der reine, freie Markt nicht mehr so funktionieren kann - ich sehe ganz ab von der Umweltfrage usw., zumal das auch schon immer ziemlich klar war. Jetzt ist es zwar eine Tatsache, daß Regierungen, das Kollektiv, die Öffentlichkeit eingreifen müssen, sie wissen aber nicht: wie, denn das Einzige, was sie haben, ist ein Rückgriff auf das, was in den 30ern versucht wurde und damals nicht sofort half.
 
Die ökonomische Weltkrise, die 1929 ausgebrochen war, dauerte ja mehrere Jahre. Letztlich war es der Krieg, der sie beendete, und nicht die Möglichkeit, den Krieg zu vermeiden. Ich sage natürlich überhaupt nichts gegen Keynes, der ein sehr intelligenter, ungeheuer kluger Mann war, auch ein praktisch kluger Mann, aber er selbst glaubte nicht, daß das, was er machte, sofort die utopische Lösung der wirtschaftlichen Probleme war. Das gilt auch für die Vereinigten Staaten - man vergißt heute, sollte es aber nicht vergessen, daß sogar der Börsenkurs von 1929 erst Mitte der 50er Jahre wieder erreicht wurde. Wenn wir heute in einer solchen Krise sind, wie ich wohl glaube, und ich stehe damit heute nun wirklich nicht allein, dann wird sie nicht nächstes Jahr oder übernächstes Jahr beendet sein - es wird sich irgendwann bessern, es hat sich auch ab 1932 sogar in der Welt gebessert. Aber eine dauernde - nennen wir sie mal so: - Umsteuerung auf eine neue Form der Weltwirtschaft wird natürlich viel Zeit brauchen und zusätzlich kompliziert werden durch die internationale Lage.
 
Makabrerweise war das in den dreißiger Jahren anders, denn es gab international sozusagen ein Programm zur Lösung, nämlich die Vorbereitung des Krieges. Weil die Deutschen damit anfingen, machten sie bessere Fortschritte in der Bewältigung der Krise als die anderen.
Heute ist das nicht mehr der Fall. Wie nach dieser Krise die Welt aussehen wird, das ist noch ganz unsicher. Historiker sind keine Propheten, das überläßt man den Konjunkturforschern und den Business-Vordenkern. Aber die wissen es auch nicht. Diese Ungewißheit ist natürlich nicht nur für die Kapitalisten ein großes Problem, sondern auch für uns, aber das ist eine andere Frage.
  
Diese großen Krisen, die Sie ansprechen, sind einander nicht ähnlich. Die erste dieser großen Krisen, die des späten 19. Jahrhunderts, war vom modernen Standpunkt aus gesehen überhaupt keine Krise, ausgenommen für die Landwirtschaft und für die Leute, deren Preise absolut steil fielen. Die Preise fielen um ein Drittel, und die Landwirtschaft war damals natürlich ein sehr bedeutender Teil aller Wirtschaften. Andererseits: erstens einmal ging es ja weiter aufwärts mit dem Welthandel und den Weltinvestitionen, die Produktion stieg ungeheuer. Mehr noch: Das war die Zeit, in der sich die Industrie von England ausgehend auf weitere Zentren ausbreitete: Deutschland, die Vereinigten Staaten besonders, auch Schweden, Rußland usw. Was damals die Ökonomen, wie zum Beispiel Marshall, pessimistisch stimmte, waren der Fall der Preise, der Profite und der Zinsen. Sie alle stürzten ab. Da wußte man nicht: wo kommt man wieder zu Profiten. Es war natürlich auch eine Krise für die Menschen, die damals litten und gepreßt wurden.
 
Die zweite Krise war eine ganz andere Sache. Die dritte der großen Krisen, in der wir heute sind, findet schon wieder in einer ganz anderen Gesamtsituation statt. Zunächst einmal hat sich die Weltwirtschaft stark verschoben. Die westlichen Zentren bleiben noch ungeheuer wichtig, sie haben ein riesiges, gleichsam ererbtes Kapital nicht nur an Industrie, sondern auch an Bildung und in der ganzen Einstellung, und sie sind unverändert bei weitem pro Kopf die reichsten, aber das große Problem der neuen Krise ist ein verhältnismäßiger Rückzug der großen alten Zentren durch die Auswanderung der Produktion und auch der hochintellektuellen, hochgradigen Dienstleistungen in andere Länder. Ich glaube, für viele Menschen in den westlichen Ländern ist der Ausblick auf das 21. Jahrhundert viel weniger optimistisch, als dies zum Beispiel in den großen östlichen Entwicklungsländern der Fall ist. Es wird vielleicht keinen Kollaps geben, aber die Tatsache, daß sie im Rückzug sind, und das trifft auch auf Europa zu, ist nicht abzustreiten. Ganz besonders gilt das aber für die Vereinigten Staaten.
 
Wie wird sich das politisch auswirken? Das ist das riesige Problem. Die Linke, deren soziale Basis die Arbeiterklasse war, existiert praktisch heute nicht mehr, jedenfalls nicht in den entwickelten Ländern. Sie besteht noch zum Teil in neu entwickelten kapitalistischen Ländern. Brasilien ist ein sehr schönes Beispiel einer Bewegung, die mich als Historiker sehr an das späte 19. Jahrhundert in Europa erinnert: eine Verbindung zwischen einer Arbeiterbewegung in der Schwerindustrie und in anderen Industrien mit einer linken Ideologie, auch mit Intellektuellen, die es zu einer Massenpartei bringt und dann ihren Führer, der übrigens einer der wenigen ist, der ursprünglich auch Proletarier war, zur Macht trägt. Man kann ja meiner Ansicht nach vieles an Lula kritisieren, aber er entspricht doch den Hoffnungen, die man sich in Europa seinerzeit gemacht hat.
 
Revolutionär ist das nicht, aber das war auch der Großteil der Arbeiterbewegung in Europa einst nicht. Sie wollten etwas Besseres als den Kapitalismus, aber weder im Westen noch in Mittel- und Westeuropa stand die Revolution im alten Sinne auf der Tagesordnung, jedenfalls seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht. Immerhin: eine solche Arbeiterbewegung existiert noch, aber das Neue an der Sache ist, daß die Ideologie der Linken, die ursprüngliche Ideologie der Aufklärung, der Menschen- und Weltverbesserung: daß diese Universalideologie theoretisch und daß praktisch die tatsächliche Massenbasis dieser Bewegung schwer gelitten hat. Die sind nicht mehr da, weder in der kommunistischen Form noch in der sozialdemokratischen Form - man muß beide gleichmäßig behandeln. Man sprach von der Krise des Kommunismus, die natürlich mit dem Ende der Sowjetunion ganz offensichtlich war, aber die Krise der Sozialdemokratie war genauso tiefgehend und hält ja noch an.
 
Ja, was ist aus alledem geworden? Hegemonial können diese Kräfte nicht mehr sein - obwohl manche der Parteien, die ursprünglich sozialistische Schöpfungen waren, noch immer da sind. Aber die haben sich ganz geändert. New Labour ist nicht Labour. In manchen Ländern wie z. B. in Deutschland ist die Tradition der Sozialdemokratie noch nicht ganz so abgeschafft wie in England, aber auch da ist es nicht mehr so, wie es war. Das kann nicht mehr erwartet werden. Dagegen kommen diese neuen Phänomene: ich habe Angst, denn in den 80er Jahren waren die augenblicklichen Nutznießer der großen Krise im Großteil Europas eben nicht die Linken, im Gegenteil.

Mit Ausnahme der Vereinigten Staaten, die damals nach relativ links stießen, und Skandinavien, war das ein ungeheurer Rückzug aller Linken in Europa, und es kam der Aufstieg der Faschisten und einer faschistischen Bewegung, die, wie man heute zugeben muß, Massenbasis hatte. Das war nicht nur in Italien wie in Deutschland so, sondern auch in kleineren Ländern. Davor habe ich Angst. Das sind Bewegungen, die erstens einmal theoretisch nicht an den freien Markt gebunden sind. In den letzten fünfzig Jahren haben sich der Konservatismus und der freie Markt so angenähert, daß sie z. B. in Amerika und anderswo, auch in Europa, meistens mehr oder weniger identisch, zusammengehörig sind. Die Konservativen sind Leute, die auf den freien Markt pochen. Das ist bei der radikalen Rechten nicht der Fall, die haben keine Angst vor Tabubrüchen. Hinzu kommt die totale Unsicherheit der Weltordnung.
 
Somit bin ich auf kurze Sicht nicht besonders optimistisch. Im Lauf der nächsten 20, 30 Jahre wird sich ein neues Weltsystem herausbilden, so daß, wenn es nicht in der Zwischenzeit zu Katastrophen kommt (was nicht unmöglich ist), der Kapitalismus auf weiche Weise auch immer seine 30, 40 Jahre weiter funktionieren kann, bis er wieder seine internen Widersprüche entwickelt. Aber was die Antriebskräfte der sozialen Interessen der Bevölkerung, der Völker sein werden, das ist bei weitem nicht so klar.
 
Diese Skepsis haben Sie auch schon früher geäußert. Bei einer Veranstaltung in Bochum sagten Sie, die Kommunistische Partei sei jetzt wie ein Kloster.
 
Nein, das habe ich eben nicht gesagt. Ich habe gesagt, die Kommunistische Partei war eine soziale Konstruktion, die seinerzeit so wichtig war wie die Erfindung der Klosterorden im Mittelalter. Die waren seinerzeit ungeheuer wichtig, sind aber heute nicht mehr da. Im 20. Jahrhundert war die Kommunistische Partei eine ungeheuer erfolgreiche und wichtige gesellschaftsschaffende Organisation in einer Art, wie es zu dieser Zeit keine andere gab. Das gilt für Lenin mehr als für Marx, obwohl es ohne Marx Lenin nicht gegeben hätte. Aber was ich sagte, ist, daß die Zeiten dieser kommunistischen Parteien vorbei sind: d.h., die Leute, die sich heute auf der Linken organisieren, die sind anders. Die kommunistischen Parteien sind keine kommunistischen Parteien im Sinne der Avantgarde-Partei mehr. Die Leute, die noch als Avantgarde aufzutreten versuchten, das waren meistens kleine terroristische Gruppen, wie man das in den 70er Jahren sah und die es meist nicht weit gebracht haben. Aber ich sehe nicht, daß diese Art der Organisation heute den gleichen Wert hätte.
 
Es ist aber eine schöne Sache, daß es jedenfalls eine kleine Linke in Deutschland gibt, in England gibt es sie nicht, in Italien ist sie gänzlich verschwunden. Ich hatte vor ein paar Jahren den Sekretär der französischen KP bei mir, und der sagte ehrlich: Wir haben keine Zukunft. Das hat uns alle schwer berührt, jedenfalls Menschen meiner Generation, und in dieser Hinsicht hat Deutschland ein gewisses Privileg, noch.
 
Als Sie 16Jahre alt waren, wußten Sie, wo Sie hinzugehen hatten. Können Sie sich vorstellen, wie das wäre, heute 16 zu sein und sich in die politische Welt hinein zu finden?
 
Zum ersten würde ich mich natürlich in gewissen Kampagnen organisieren, in Umwelt- und ganz besonders Protestkampagnen. Das Vorgehen Israels in Gaza hat doch spontan in der Welt so viel Protest ausgelöst, daß es sogar den Amerikanern unmöglich ist, die Resolution der Vereinten Nationen einfach abzulehnen. Solche Protestbewegungen bleiben weiter ungeheuer wichtig. Zweitens: die meisten der Jungen, die ich kenne, die irgendwie ein soziales Gefühl haben, haben sich in den letzten paar Jahrzehnten für Arbeit in der Dritten Welt eingesetzt. Wenn sie etwas machen wollen, dann gibt es genug Organisationen, die NGOs usw., die es ihnen möglich machen. In der Politik im engeren Sinn ist es schwieriger, jedenfalls in der Innenpolitik. Im Augenblick würde ich den Leuten sagen: Arbeiten Sie in der ganzen Welt, nicht unbedingt nur in Ihrem eigenen Land.
 
Werden die USA nach Obama an ihren Weltherrschaftsvorstellungen festhalten?
 
Die war eine fixe Idee. Erstens einmal wäre Weltherrschaft im Kalten Krieg unmöglich gewesen. Niemand dachte damals daran. Das kam erst mit dem Verschwinden der UdSSR auf, und auch war es irgendwie eine pathologische Entartung. Das hört jetzt auf, und es muß aufhören. Die Welt hat das längst erkannt. Bush hat es geschafft, dem Land selbst zu erkennen zu geben, daß es nicht möglich ist, allein die Weltherrschaft nur aufgrund der militärischen Kraft zu erhalten. Das wird aufhören müssen. Was viel schwieriger für Obama sein wird, ist, sich und das Land an einen verhältnismäßigen Rückzug der Vereinigten Staaten zu gewöhnen. Die Vereinigten Staaten haben noch immer ein riesiges Reich und waren die ganze Zeit über hegemonial, das nimmt jetzt ab. Ich glaube kaum, daß sich an der internationalen Politik der Vereinigten Staaten sehr viel ändern wird, im Unterschied zur Innenpolitik. Aber an Weltherrschaft glaubt nicht mal Obama mehr. Einer der Gründe für die Vorstellungen von Weltherrschaft war ja, daß die meisten Amerikaner den Rest der Welt überhaupt nicht kannten und daher nicht wußten, was anderswo los war.
 
Sie haben einmal gesagt, in der Welt ändere sich viel, aber nicht alles. Was ändert sich nicht? Was sind die Konstanten bei den vielen Veränderungen, die wir erleben ?
 
Es handelt sich zum Teil um biologische Konstanten: Männer, Frauen, Generationen. Wie deren Beziehungen jedes Mal ausschauen, ist eine andere Frage, aber es sind Konstanten. Zweitens gibt es gewisse geographische Konstanten. Die Änderungen in der Umwelt machen diese ein bißchen fraglich, aber trotzdem: die westliche Hemisphäre ist nicht dasselbe wie die östliche Hemisphäre. Es bleibt weiter dabei, daß z.B. der Großteil der bewohnten Fläche der Welt nördlich des Äquators ist, nicht südlich. Was das irn Einzelnen bedeuten wird, weiß ich nicht. Drittens: es wird immer Musik geben, nicht immer die gleiche, aber ich meine, die gibt es überall in gewisser Art. Die wird es weiter geben, denn ich glaube, sie ist irgendwie eingebaut in die Menschen. Und darüber hinaus die Kunst, die Schönheit. Und viertens noch etwas: Soweit ich weiß, gibt es keine Gesellschaft ohne den Begriff der Ungerechtigkeit. Und daher soll es auch keine geben, in der man sich nicht gegen sie auflehnt.
 
Das Gespräch führten Friedrich-Martin Balzer und Georg Fülberth am 9.1.2009 in London.
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1) Eric J. Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter 1875-1914. Frankfurt/New York 1989. S. 59f.

Eric Hobsbawm wurde 1917 geboren und nach zahlreichen Studien Professor für Geschichte in London. Er war Gastprofessor in den USA, Mexiko und Frankreich und hatte seit 1984 eine Professur für Politik und Geschichte in New York. Seine prägenden Jahre waren die Schuljahre in Berlin Anfang der 1930er Jahre, wo er als Schüler Mitglied des Sozialistischen Schülerbundes war. Hobsbawms Interesse war vor allem die Arbeiterbewegung und der aufkommende Faschismus. Neben zahlreichen Veröffentlichungen war sein bekanntestes Buch „The Age of Extremes: A History of the World 1914 – 1991“. Eric Hobsbawm erhielt im Jahr 2000 den Ernst-Bloch-Preis und 2003 den Balzan-Preis.










Eric Hobsbawm: Zwischenwelten und Übergangszeiten -
Interventionen und Wortmeldungen,
Hrsg.: Friedrich-Martin Balzer und Georg Fülberth

PapyRossa Verlag Köln
2. Auflage 2010
240 Seiten, 18 Euro

ISBN: 978-3-89438-405-0


Online-Flyer Nr. 250  vom 19.05.2010



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