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So wird die europäische Polizeistaatlichkeit schleichend vorbereitet
Wutbürgerdemokratie unterm Rettungsschirm
Von Volker Bräutigam

Es tut uns immer gut, wenn Wissenschaft und Forschung unser politisches Urteil bestätigen müssen. Diesmal waren es die Doktores Tobias Rothmund und Anna Baumert von der Universität Koblenz-Landau, die uns recht geben: Das Schlichtungsverfahren im Streit um das Großprojekt Stuttgarter Bahnhof („S21“) habe eine „Besänftigung der Wutbürger“ bewirkt. Na bitte, wer sagt’s denn.


Sorgte für Besänftigung der Wutbürger
Cartoon: Kostas Koufogiorgos
 
Was uns als Binsenweisheit erscheint, haben Rothmund und Baumert demoskopisch ermittelt. Während der acht Debatten-Runden befragten sie 910 Personen im Alter zwischen 23 und 86 Jahren jeweils dreimal. Inzwischen teilten sie mit: 20 Prozent der Teilnehmer hätten sich eingangs als nachdrückliche Befürworter, 70 Prozent als entschiedene Gegner des Projektes erklärt. An diesem Meinungsbild habe die Schlichtung nichts geändert. Die Ergebnisse der Studie könnten dennoch „als Beleg für einen Erfolg der Gespräche“ interpretiert werden. Der allerdings liege „... weniger in einer inhaltlichen Klärung der Sachfrage als vielmehr in einer ... besänftigenden Wirkung auf die beteiligten Parteien.“ - Ach nee.
 
Wahrgenommene Ungerechtigkeit, so Rothmund und Baumert, motiviere zu politischem Protestverhalten. In extremer Form könne politische Wut zur Eskalation sozialer Konflikte führen. Die Besänftigung sei daher gleichermaßen als „Schwächung politischer Protestbewegungen und als Beitrag zum sozialen Frieden“ zu sehen. - Wer hätte das gedacht!
 
Wutbürgertum S21-Mild.
 
„Die Erfindung des ‚Wutbürgers’ geschah in der Absicht, all jene zu diffamieren, die ihre Bürgerrechte einfordern“, schrieb Kurt Pätzold („Kopf und Bauch“, in Ossietzky, 23/10). Der sogenannte Wutbürger sei „eine Figur zur Rechtfertigung jener Haltung, die den Massen jeden Verstand abspricht und sich selbst als Inkarnation der Nachdenklichkeit, Klugheit, ja Weisheit ausgibt.“ Als Erfinder machte Pätzold den SPIEGEL aus. Wahrscheinlich ist diese ebenso trübe wie zu Unrecht vielzitierte Quelle – „Es stand im SPIEGEL!“ – der Grund, daß die Juroren der „Gesellschaft für deutsche Sprache“ in Wiesbaden den „Wutbürger“ argumentationslos zum „Wort des Jahres 2010“ kürten. Woraufhin Springers Bannerträger deutscher Medienkultur verkündete: „Stuttgart schreibt die Geschichte der Deutschen Sprache neu!“ (BILD, 18.12. 2010)
 
Ihrer vielmals ausgestrahlten Eigenwerbung zufolge können die Schwaben „alles außer Hochdeutsch“. Jetzt schreiben sie die deutsche Sprachgeschichte neu – als Fortsetzungsstory in BILD und BamS, mit Professor Guido Knopp als Leumund?
 
Außer Hochdeutsch können sie anscheinend auch Politik nicht, diese hofierten, von den Leit- und Konzernmedien gehätschelten schwäbischen Wutbürger. Sonst hätten sie geschnallt: Eine häufig angewandte Methode der Besänftiger ist es, Probleme aus ihren politischen Zusammenhängen zu lösen und sie isoliert in aller Breite zu diskutieren. Und hätten sich deshalb, diese Schwaben, aufgrund solcher Einschätzung, auch nicht von einem Heiner Geißler den Überdruck ventilieren lassen. Statt dem CDU-Altenteiler und seiner Welt (inklusive CDU-Parteifreund Stefan Mappus, Ministerpräsident und damit Baden-Württembergs Oberbefehlshaber über die polizeilichen Wasserwerfer-Kompanien) zu erklären: Wer zwei Millionen Kindern aus verarmten Familien pro Monat nur vier warme Mahlzeiten für höchstens 20 Millionen Euro zugesteht, dem erlauben wir nicht, für mehr als acht Milliarden Euro einen Provinzbahnhof im Keller zu versenken. Basta!
 
Wie viel Wutbürgertum passt in den Kübel, ehe er überläuft und „soziale Unruhen“ ausschwemmt? Wann erhebt sich wirksamer Protest gegen deutsche Massaker in Afghanistan, obszöne Gewinne der Rüstungsindustrie, Kinder- und Altersarmut, Massenarbeitslosigkeit und Niedriglöhne, Verwüstung unserer Sozialstaatlichkeit, Auszehrung des Bildungswesens und gegen das marode, da privatisierte Transport- und Verkehrswesen – bei fortgesetzter Bankenrettung, Privatisierung, Lobbyismus, mafioser Regierungskorruption und Fäulnis bis ins Mark?
 
„Das letzte Stadium des Kapitalismus ist der Faschismus“. Die Trefflichkeit Lenin-scher Erkenntnis erweist sich gerade wieder: In Italien steht der Faschismus schon vor der Tür, ob nun mit Berlusconi oder mit den Diadochen Fini und Bossi (Lega Nord). Frankreich deportiert seine Roma. In Großbritannien kontrollieren sechs Millionen Überwachungskameras alles, was sich im öffentlichen Raum bewegt („Die toten Augen von London“). Ungarn hat gerade die Zensur und ein aggressives völkisches Staatsbürgerschaftsrecht eingeführt und präsidiert dennoch seit Jahresbeginn im EU-Rat. Die EU entwickelt insgeheim eine „Menschensuchmaschine“: Unter dem Projektnamen "INDECT" entsteht eine Datenbank, in der künftig alle modernen Überwachungstechnologien vereint werden.
 
So wird die europäische Polizeistaatlichkeit schleichend vorbereitet. Diese Union entlässt ihre Wutbürgerdemokratien, allen voran Deutschland, völlig ungerührt in autoritäre Verhältnisse. Wie schon die NATO nie Demokratie-Anforderungen an ihre Mitglieder stellte. Sie tolerierte die Diktaturen Portugal, Spanien und die türkischen Generalsjunten. Der Militärputsch 1967 in Griechenland folgte sogar einem NATO-Plan, dem „Plan Prometheus“, und aus der Bundesrepublik Deutschland erhielten die Obristen mancherlei Unterstützung.
 
Der Albtraum vom autoritären Europa spiegelt deutsche Realität. Die bis auf wenige Ausnahmen direkt von einer Handvoll Konzerne betriebenen oder, soweit noch öffentlich-rechtlich, von CDU/CSU und SPD verwalteten Medien vollbringen es tagtäglich, die Leser, Hörer und Zuschauer von ihren Interessen abzulenken, sie irrezuführen und ruhigzustellen. Ob SPIEGEL oder BILD, sie verstehen sich auch darauf, Wut umzulenken, auf Ausländer, Muslime, Linke.
 
Für den Fall jedoch, daß solche Methoden nicht mehr ausreichen, werden andere vorbereitet. Internet-Zensur, Volkszählung Zensus 2011, umfassende Ausforschung des Bürgers und Kontrolle seines Datenverkehrs sowie die Verschmelzung von Bundespolizei und Bundeskriminalamt zur Gestapo stehen auf der Agenda. Außerdem: Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, empfahl öffentlich (23.12.2010 im Hamburger Abendblatt), das Grundgesetz entsprechend zu ändern. Nichtöffentlich berät das Plenum aller 16 Verfassungsrichter darüber; die Gärtner machen sich gleich selbst zu Böcken. Der Umbau der Streitkräfte zur Berufsarmee ist schon vom Kabinett beschlossen; Berufssoldaten schießen eher und gehorsamer als Wehrpflichtige auf ihre Landsleute, falls die das Protestieren übertreiben.
 
Wo kriegt man günstig Rettungsschirme? Der Ausdruck war für mich das „Wort des Jahres 2010“. Nun will sogar die mächtige EU besagte Kreuzung von Fallschirm und Rettungsring anschaffen. Im ZDF-Mittagsmagazin (17.12.2010) war gar vom „permanenten Rettungsschirm“ die Rede. Wenn Deutsch noch einen Rest Aussagekraft hat, dann kann das dem Lateinischen entlehnte „permanent“ nur bedeuten, daß man ihn ständig aufgespannt mit sich herumschleppt. Die Banker und Spekulanten, Wirtschaftsbarone und Politversager, kurz: die „Elite“, rechnen demnach mit permanentem Rettungsbedarf. Und deshalb versprechen Berlin & Co. auch permanente Rettung. Aus öffentlichen Mitteln. Das geht alles seinen kapitalistischen Gang. (PK)
 
(Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Politik-Zeitschrift Ossietzky. Die dortige Erstveröffentlichung wurde für die Neue Rheinische Zeitung erweitert).


Online-Flyer Nr. 284  vom 12.01.2011



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