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Glossen
Als Günther Oettinger versehentlich mal Recht hatte
Sanierungsfall Europa
Von Ulrich Gellermann

Europa: Wie weltläufig das klingt: Viele Nationen, gebündelt in einem Verein, in mutiger Konkurrenz mit Mächten wie den USA und China. Klingt gut, taugt aber nix. Zum Beispiel Günther Oettinger, der ist Kommissar in Europa. Und die EU-Kommissare, die sind so etwas Ähnliches wie die Regierungen in den Mitgliedsländern. Oettinger hat diesem Europa, in dem er doch eine Art Minister ist, jüngst den Marsch geblasen:
 

Günther Oettinger
Quelle: wikimedia/Jacques Grießmayer
Die können nix, die in Europa, hat er mal sagen wollen. Zum Beispiel die Franzosen, die seien "null vorbereitet, auf das, was notwendig ist". Die müssten schon länger arbeiten und fleißiger auch. Und Deutschland, ja wenn die Deutschen sich immer nur "mit Betreuungsgeld, Frauenquote und Mindestlohn" beschäftigen würden, dann sei das Ende der Fahnenstange schnell erreicht: "Stärker wird Deutschland nicht mehr." Oettinger ist in der EU so was wie der Peter Altmaier im Bundeskabinett. Wenn Altmaier derart vorpreschen würde, würde die Kanzlerin ihn schnell nach Hause schicken. Was Oettinger in seiner Rede vor der Deutsch-Belgisch-Luxemburgischen Handelskammer in Brüssel bündelt, sind nicht die europäischen Nationen. Es ist das gesammelte Unbehagen eines konservativen Wirtschaftslobbyisten. Nach Haus geht der Oettinger aber noch lange nicht.
 
EU-Kommissare werden von den Regierungen der Mitgliedsstaaten nominiert. Zwar müssen sie noch vom EU-Parlament bestätigt werden, aber das ist Formsache. Fünf Jahre lang dürfen sie jetzt jeden erdenklichen Blödsinn erzählen, ohne Rechenschaft abzulegen. Zum Beispiel den Oettinger-Unsinn über das Fracking: "Man muss gewisse Risiken akzeptieren", sagt der Mann, der im berühmten schwäbischen Ditzingen aufgewachsen ist. Oettingers Horizont wird durch Jahrzehnte treuer Dienste in der CDU bestimmt. An die Europa-Funktion kam er, weil Angela Merkel ihn loswerden wollte. Mancher EU-Kommissar bekommt seinen Job, weil er lange in stickigen Hinterzimmern gesessen hat. Andere, weil sie das Opa-Alter erreicht haben. Die nächsten wundern sich immer noch, warum sie das geworden sind, was sie geworden sind. Aber keiner von ihnen ist demokratisch gewählt, obwohl sie mit dem hohen Recht der Gesetzesvorschläge ausgestattet sind. Weltläufig sind nur ihre Reisen von Hauptstadt zu Hauptstadt.
 
Es tagten kurz vor Oettinger die EU-Außenminister. Sie befanden mehrheitlich, dass den Rebellen in Syrien Waffen geliefert werden können. Zwar gibt es bald, von den USA und Russland vereinbart, eine Friedenskonferenz zu Syrien. Aber vorher erscheint es, insbesondere den Franzosen und Engländern, sinnvoll, die Rebellen mit mehr und besseren Waffen auszustatten. Na klar, ehemalige Kolonialmächte wissen immer was gut für ihren früheren Besitz ist. Der tumbe deutsche Außenminister war irgendwie glücklich: "Nach langen und sehr schwierigen Beratungen ist es uns doch noch gelungen, zu einem gemeinsamen politischen Ergebnis zu kommen." Weil europäische Einigkeit ein Wert an sich ist? Weil er natürlich auch gerne Waffen liefern würde, aber in Deutschland echte Wahlen drohen? Und die Deutschen ihre, aus der Sicht der Regierung, beklagenswerte Zurückhaltung gegenüber Kriegen nicht ablegen wollen, nur weil sie kurz hintereinander zwei verloren haben? Gleichwie: Westerwelle mochte zur Aufkündigung des europäischen Waffen-Embargos nicht Nein sagen. Das verschärft den Krieg in Syrien.
 
Schon im Libyen- und im Mali-Fall wurde Rest-Europa von den alten Kolonialmächten England und Frankreich zur Mithaftung gezwungen: Schön, wenn ihr keine Waffen oder Truppen senden wollt, dann übernehmt gefälligst hier ein bisschen Flugsicherung, dort mal ein, zwei Waffen-Transporte, auf alle Fälle aber die Ausbildung der Polizei oder der Armee der neuen, der Nachkriegs-Regierung. Welche Kräfte das in Syrien sein wollen, kann man nachlesen. Zum Beispiel bei Human Rights Watch, die den Truppen der "Freien Syrischen Armee (FSA)" Menschenrechtsverletzungen vorwerfen. Oder in türkischen Medien, die davon wissen, dass die FSA in Organhandel verwickelt ist. Nicht zuletzt ist bekannt, dass die FSA auch Kindersoldaten rekrutiert. Von jenen anderen Rebellen-Truppen ganz zu schweigen, die mit Al-Kaida zusammenarbeiten. Dass in dieser unübersichtlichen Gefechtslage auch noch die verrückte israelische Regierung mit weiteren Bombardements auf Syrien droht, sollte die europäischen Regierungen eher zurückhaltend agieren lassen. Tut es aber nicht. - Die erste Reaktion der Opposition auf die ermunternde Aufhebung des Waffenembargos: Sie will an den Friedensverhandlungen nicht teilnehmen. Danke Europa.
 
"Europa ist ein Sanierungsfall", sagte Oettinger bei einer Veranstaltung in Brüssel. "Mir macht Sorge, dass derzeit zu viele in Europa noch immer glauben, alles werde gut." Es mag peinlich sein, wenn man ausgerechnet dem Oettinger mal Recht geben muss. Aber auch wenn man weiß, dass solche wie Oettinger ein Teil des Problems und nicht der Lösung sind, liegt im Mund des Toren doch Wahrheit: Es wird nichts gut mit einem Europa der Bankenrettung, der Militärinterventionen und der anonymen, unverantwortlichen Bürokratie. Wenn es nicht gelingt, den Völkern die Kontrolle über das angeblich vereinte Europa zu verschaffen, ist es besser ein Projekt aufzugeben, dass sich primär als wirtschaftliche Union versteht und seine politische Einheit nur noch als müden Reflex einer Eurokratie begreift, deren Weltverständnis kaum über den eigenen Tellerrand hinaus reicht.
 
Treffen sich zwei in Paris, dem Gipfel der Weltläufigkeit. Redet der eine an der anderen vorbei, redet die eine den anderen mit "Mitterand" an. Aber der heißt Hollande. Sagen beide, Europa könnte einen hauptamtlichen Eurogruppen-Chef gebrauchen, einen "Vollzeitpräsidenten". Was macht wohl José Manuel Barroso, der Präsident der europäischen Kommission? Kommt der nur dienstags und donnerstags ins Büro? Soll auch der Vollzeitpräsident von Merkel und Hollande ernannt werden? Es steht zu befürchten, dass sie einen Oettinger ausgucken werden. Damit alles so unsaniert bleibt wie es ist. (PK)
 
Diese Glosse haben wir mit Dank aus dem Blog http://www.rationalgalerie.de/archiv/index_1_696.html
von Ulrich Gellermann übernommen.  


Online-Flyer Nr. 409  vom 05.06.2013



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