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Literatur
Kafka und die verinnerlichte Autorität
Die Macht der Ohnmacht
Von Harald Schauff

"Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne." So beginnt Franz Kafkas berühmte Parabel "Vor dem Gesetz", verfasst 1914, als "Türhüter-Parabel" ursprünglich eingewoben in den Roman "Der Prozess", später auch separat veröffentlicht.
 

Franz Kafka 1906
NRhZ-Archiv
Die Parabel fährt damit fort, dass der Türhüter zum Mann vom Lande meint, er könne ja versuchen das Verbot zu ignorieren und trotzdem hinein gehen. Allerdings würden im Inneren von Saal zu Saal weitere Türhüter stehen, einer mächtiger als der andere. Der Mann vom Lande ist zunächst empört. Er hat solche Probleme nicht erwartet. Das Gesetz soll doch jedem immer zugänglich sein. Beeindruckt von der respektein-flößenden Erscheinung des Türhüters,entschließt er sich zu warten. Der Türhüter reicht ihm einen Schemel, auf welchem er sich seitwärts der Türe nieder hockt. Da sitzt er nun und wartet und wartet. Immer wieder bittet er den Türhüter um Einlass, doch dieser zeigt sich hartnäckig. Er lässt sich auch nicht durch Geschenke bestechen. Das Warten geht weiter. Es vergehen Tage, Jahre. Der Mann wird immer älter und schwächer. Kurz vor seinem Tod fragt er den Türhüter, warum in all den Jahren keiner außer ihm hier Einlass begehrte. Der Türhüter entgegnet, der Eingang wäre nur für ihn, den Mann vom Lande, bestimmt gewesen und werde jetzt geschlossen.
 
Welch ein Drama, welch ein Dilemma. Der Wächter spielt eine dubiose Rolle, verweigert dem einzig Zugangsberechtigten den Zugang. Vielleicht auch, weil er dann nichts mehr zu bewachen hätte, wenn dieser erst einmal eingetreten ist? Warum bringt der Mann vom Lande nicht den Mut auf, sich am Wächter vorbei zu drängeln? Warum erstreitet er sein Recht nicht, sondern vergeudet seine wertvolle Lebenszeit lieber mit Warten? Die Parabel lässt den Leser mit vielen Fragen zurück, in typisch kafkaesker Vieldeutigkeit. Sie deckt sich darin ganz mit dem Roman "Der Prozess", in welchem sie ursprünglich auftaucht. Der Roman wurde erst posthum nach Kafkas Tod Mitte der 20er Jahre veröffentlicht.
 
Seine Hauptfigur Joseph K. wird eines Morgens nach dem Aufwachen zu seinem Erstaunen von zwei unbekannten Herren in seiner Wohnung für "verhaftet" erklärt. Was man ihm zur Last legt, erfährt er nicht. Er bleibt auf freiem Fuß und darf weiter seinem Beruf in einer Bank nachgehen. Dann lädt man ihn zur Anhörung vor einem "Gericht". Diese findet nicht in einem offiziellen Amtsgebäude statt, sondern in der Dachkammer einer staubigen Mietskaserne
in der Vorstadt. Wieder bekommt er nicht heraus, weswegen man ihn anklagt. Gleichwohl ergreift der Prozess immer mehr Besitz von seinem Alltag, er kann sich immer schlechter auf die Arbeit konzentrieren. So sehr sich K. bemüht, er findet weder etwas über das mysteriöse Gericht noch den Grund seiner Anklage heraus. Schließlich erfolgen Schuldspruch und Todesurteil: Zwei Männer holen ihn ab und stechen ihn in einem Steinbruch nieder wie einen Hund.
 
Ähnlich wie der Mann vom Lande in der Parabel fügt er sich ohnmächtig in sein Schicksal. Ähnlich wie dieser fühlt er sich von Anfang an innerlich hin- und hergerissen zwischen Unsicherheit, hitzigem Aufbegehren und demütigem Nachgeben. Es ist ein Wanken zwischen Macht und Ohnmacht. Letztlich behält die Ohnmacht die Oberhand.
 
Wie die Parabel konfrontiert auch der Roman den Leser mit rätselhafter Vieldeutigkeit. Über die Jahrzehnte wurde allerhand in ihn hinein interpretiert bis hin zu psychoanalytischen Ansätzen bezüglich verdrängter Sexualität. Sie basieren darauf, dass die Hauptfigur Joseph K. mehreren Frauen begegnet, die ihn erotisch anziehen.
 
In psychologischer Hinsicht sticht sowohl in der Parabel als auch im Roman der Macht-Ohnmacht-Aspekt im Umgang mit Autorität hervor. Kafka selbst erfuhr diesen Umgang schmerzhaft am eigenen Leib: In der Auseinandersetzung mit seinem dominanten, rechthaberischen, zeitweilig tyrannisch auftretenden Vater. Er verarbeitete diese Erfahrungen in seinem berühmten "Brief an den Vater". Dieser liefert zum einen eine detaillierte Studie des autoritären Charaktertypen in all seinen Facetten. Zum anderen zeigt er dessen verheerende Wirkung auf die Psyche des "Opfers". Jenes sieht sich einem Zwiespalt gegenüber: Es trudelt zwischen Empörung und Schuldgefühl, Widerstand und Fügung, Gegenwehr und ängstlichem Gehorsam gegenüber ausgeübter Herrschaftsgewalt.
 
Hierin zeigt sich ein historisches, typisch deutsches Dilemma: Die schlussendliche Duldung der Ausübung von Macht. Irgendwo in den Tiefen der Psyche sitzt die Überzeugung: "Es wird schon seine Richtigkeit haben". Bei Joseph K. ist es der Glaube an den "Rechtsstaat". Im Endeffekt akzeptieren er und der Mann vom Lande die Spielregeln der ausübenden Gewalt und spielen das Spiel mit, obwohl sich das eigene Gerechtigkeitsempfinden dagegen stemmt.
 
Hier wird die typisch deutsche Untertanenmentalität spürbar, welche durch ihr fehlendes Rückgrat, ihren Obrigkeitsglauben und ihre Schicksalsergebenheit zwei Weltkriege und Nationalsozialismus wesentlich mittrug. Anfänglich mit Begeisterung, später mit lustloser Pflichterfüllung und zum Ende hin mit Kadavergehorsam. Stets dem Grundsatz folgend: Lieber eine schlechte als gar keine Autorität. Hauptsache, es sagt wer, wo es längs geht. Mag er noch so selbstherrlich, willkürlich, grausam und anmaßend sein und in welcher Rolle auch immer auftreten: Als Führer, Vater, Vorgesetzter, Lehrer oder Behördenvertreter. Überall stehen Türhüter vor den Eingängen und Gerichte fällen ihre Urteile. Stellvertreter eines anonymen bürokratischen Kraken, einer nicht greifbaren politischen Macht oder letztlich eines nicht überschaubaren Gesellschaftsapparates, der als bedrohlich empfundene fremde Lebensmacht gegenüber tritt.
 
Tief im Inneren, im Unterbewusstsein, steckt die anerzogene Bereitschaft, sich ihm willig zu beugen. Egal, was er zumutet: Gängelung, Drangsalierung, Demütigung Arbeitszwang, Leistungskürzungen. Man könnte sich gegen all das vehement zur Wehr setzen, doch nur wenige tun es. Die meisten lassen es niederwürfig über sich ergehen, wie einst die historischen Übel. Die autoritäre Prägung wirkt immer noch. Das Über-Ich, der kleine Türhüter im Ohr, droht mit dem Zeigefinger und wir kuschen angsterstarrt, voller Schuldgefühl, dass wir überhaupt zu denken wagten, einfach so durch den von ihm bewachten Eingang zu schlüpfen. Dabei wäre es unser gutes Freiheitsrecht. So wie es unser gutes Grundrecht ist, seine Autorität und seine Stellung zu hinterfragen.
 
Hieran wird deutlich: Die Umsetzung demokratischer Grundrechte oder anders ausgedrückt, der Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit beginnt in einem selbst, innerhalb der eigenen Hirnschale. Es erfordert den berühmten Blick über den Tellerrand bzw. das Vorbeidenken am Türhüter. Er darf den Eingang räumen. Für tiefere Einblicke, bessere Einsichten und erweiterte Horizonte. Genau das lässt sich mithilfe Kafkas aus den dunklen Kapiteln
deutscher Geschichte lernen. (PK)
 
Harald Schauff ist Redakteur der Arbeits- Obdachlosen- Selbsthilfe- Mitmach-Zeitung "Querkopf" die monatlich in Köln erscheint und dort auf der Straße verkauft wird. Mehr Informationen http://www.querkopf-koeln.de/   
 


Online-Flyer Nr. 466  vom 09.07.2014



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