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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Arbeit und Soziales
Tageszeitungs-ZustellerInnen statt 280 nur noch 180 Euro monatlich?
Die SPD auf der Seite der Zeitungsverleger
Von Franz Kersjes

Schöne, neue Mindestlohn-Welt bei den Tageszeitungs-ZustellerInnen? Zum Beispiel: bisher 280 Euro monatlich, ab 1. Januar 2015 nur noch 180 Euro für dieselbe Arbeit. Der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) hat (nicht nur) bei der SPD offene Ohren gefunden.
 
Die Neue Westfälische (NW) in Bielefeld, die einzige Mehrheitsbeteiligung der SPD-Medienholding ddvg, gründete drei neue Zustellungsgesellschaften, um Kosten durch den drohenden Mindestlohn zu sparen. Sie wendet dabei einen Trick an. Wer von der bestehenden tariflosen Firma NW-Logistik-GmbH in die neuen ebenfalls tariflosen Unternehmen wechselt, wird ab 1. Januar 2015 mit 8,50 Euro Mindestlohn plus zehn Prozent Nachtzuschlag, also zusammen mit 9,35 Euro Stundenlohn geködert und mit 30 Tagen Urlaub "belohnt", eine Woche mehr als gesetzlich vorgeschrieben. Mit diesen vermeintlichen Verbesserungen wirbt die NW seit Tagen massiv durch Flugblätter in den Zeitungspaketen und in Stellenanzeigen. Wer darauf hereinfällt, hält die Neue Westfälische womöglich noch für einen Vorreiter beim Mindestlohn.
 
Für Altzusteller gibt es bisher 36 Urlaubstage, Weihnachtsgeld und 25 Prozent Nachtzuschlag
 
Tatsächlich bestehen für zirka 40 Prozent der rund 1.100 Zusteller der NW seit 20 Jahren bessere Bedingungen: 36 Tage Urlaub (Zusteller arbeiten sechs Tage die Woche), Weihnachtsgeld, Entlohnung für Prospektverteilung und 25 (statt zehn) Prozent Nachtzuschlag, Aufwandsentschädigungen und Betriebsvereinbarungen. Das wurde mit ver.di und dem Betriebsrat damals ausgehandelt, jedoch 2004 durch den Arbeitgeber gekündigt. "Wer jetzt wechselt, hat nichts mehr davon", sagte ver.di-Sekretär Dirk Toepper (Bielefeld).
Als Grundlage für die Arbeitsstundenberechnungen der Bezirke dienen Daten, die im Sommer mit Studenten tagsüber (zum Teil mit zur Verfügung gestellten Tretrollern) erfasst wurden. Insofern liegt der Verdacht nahe, dass die ermittelten Arbeitszeiten für die meist älteren Zusteller eher unrealistisch sind.
 
Mit neuen Gesellschaften sollen Betriebsrat und Betriebsvereinbarungen ausgehebelt werden
 
Die Gründung neuer Zustell-Unternehmen in Bielefeld soll laut ver.di außerdem auch zum Aushebeln eines widerspenstigen Betriebsrates dienen, der sich mit Unterstützung der Gewerkschaft seit vielen Jahren um einen Tarifvertrag für die Zusteller bemüht und sich auch sonst bei Verhandlungen mit dem Arbeitgeber oft quer stellt. Ver.di geht davon aus, dass die Firma NW-Logistik bei Mindestlohn, Zuschnitt der Bezirke, Arbeitszeiten, Aufwandsentschädigungen, Urlaub und Weihnachtsgeld Scheinverhandlungen mit dem Betriebsrat geführt hat. Der wiederum hat die Verhandlungen für gescheitert erklärt und die Einigungsstelle angerufen. Die Neue Westfälische hingegen hat die drei neuen Unternehmen bereits im Herbst gegründet (Gesellschaftervertrag vom 16. Oktober!) und am 27. November beziehungsweise 2. Dezember ins Handelsregister eintragen lassen.
 
Noch schlimmer läuft es beim Haller Kreisblatt (Westfalen), einem Kooperationspartner der NW. Auch dort wird die Zustellgesellschaft ausgegliedert. Die neuen Verträge sehen 6,38 Euro ohne jede Zuschläge (Nacht, Kilometergeld) vor. Das erforderliche Zeitkontingent für einen Zusteller ist angeblich mit GPS gemessen. Ver.di liegt ein Arbeitsvertrag vor, der für die Zustellung 72 Minuten vorsieht und jetzt nur noch 180 Euro statt zuvor 280 Euro für dieselbe Tätigkeit.
 
Arbeitgeber versuchen Betriebsratswahlen bei anderen Betrieben zu verhindern
 
In Ostwestfalen-Lippe gibt es derzeit rund 3.000 Zusteller in zehn Zustellbetrieben. Einziger Betriebsrat ist der in der Neue Westfälische Logistik GmbH (rund 1.100 Zusteller). Bei zwei weiteren Unternehmen hat ver.di die Betriebsratswahlen eingeleitet, die die Arbeitgeber mit fristlosen Kündigungen und weiterem Druck zu verhindern versuchen.
 
Das Vorgehen der Neuen Westfälischen und des Haller Kreisblattes (Halle/Westfalen) deckt sich mit einer bundesweiten Tendenz: Der Bundesverband deutscher Zeitungsverleger (BDZV) hat es nach dem verzögerten Einführen des Mindestlohns geschafft, die Entlohnung für Zusteller durch Lobbyarbeit weiter zu verschlechtern. Weil die Arbeitgeber nicht um den Mindestlohn herumkommen, wollen sie nunmehr die Lohnsumme verringern, etwa durch Umgehen von Betriebsvereinbarungen und Neugründungen von Zustellfirmen.
 
Ver.di wird weiter für eine gerechte Entlohnung der Zusteller kämpfen
 
So hatte der BDZV laut Andreas Fröhlich, Bundes-Bereichsleiter Verlage, Druck und Papier bei ver.di, Erfolg beim Bundesfinanzministerium: "Er hat verhindert, dass Arbeitsbeginn und -ende schriftlich festgehalten werden müssen. Es geht nur noch um die Stunden. Die Nachweispflicht liegt jetzt beim Arbeitnehmer. Er muss erklären, was er schafft und was nicht. Das ist eine Sauerei! Wegegelder und Zuschläge wolle der BDZV in den Mindestlohn einrechnen. Durch Umverteilung sollen die einen weniger, die anderen mehr Geld bekommen." Ver.di werde weiter für eine gerechte Entlohnung der Zusteller kämpfen.
 
Beifall für diesen Schachzug des neuen NW-Geschäftsführers Klaus Schrotthofer (das SPD-Mitglied war unter anderem Sprecher von Bundespräsident Johannes Rau) kommt vom SPD-Regionsvorsitzenden und Bundestagsabgeordneten Stefan Schwartze: "Für die Zustellerinnen und Zusteller der Verlagsgruppe Neue Westfälische freut es mich daher besonders, dass sie nach der neuesten Entwicklung bereits zum 1.1.2015 einen Stundenlohn in Höhe des Mindestlohns erhalten können. Damit ist die Verlagsgruppe Vorreiter ihrer Branche und setzt ein Zeichen in die richtige Richtung", schreibt er an ein Betriebsratsmitglied der NW-Logistik.
 
Der Betriebsrat wird alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtsmittel nutzen, um Schrotthofers Schachzug ins Leere laufen zu lassen. Er strebt eine gerechte Entlohnung mit vernünftigen Regelungen für alle Zusteller an. (PK)
 
Franz Kersjes ist seit einigen Jahren Herausgeber der Welt der Arbeit im Internet (www.weltderarbeit.de) und war von 1980 bis 2001 Landesvorsitzender der IG Druck und Papier und der IG Medien in NRW. Seit dem Ende seiner Gewerkschaftsarbeit engagiert er sich bei attac, amnesty international und Greenpeace. Sein Motto ist: "Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt." Diesen Artikel hat er zuerst in seiner WdA veröffentlicht.
 


Online-Flyer Nr. 492  vom 07.01.2015



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