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Arbeit und Soziales
Die Argumente zur Rechtfertigung des Überreichtums Weniger sind fadenscheinig
Kapitale Ideolügen
Von Harald Schauff

‘Wozu brauchen wir eigentlich Milliardäre?’ So die Frage eines älteren Herrn zu einem Zeitungsverkäufer auf der Straße. Gute, begründete Frage. Die neoliberale Standardantwort: Sie führen vor, was man mit Fleiß, Tüchtigkeit, Leistungswillen und zündenden Ideen auf dem freien Markt erreichen kann. Noch einfacher ausgedrückt: Sie wurden superreich, weil sie derart herausragend tüchtig, fleißig und intelligent sind, eben wahre Meisterkönner. So wollen sie oder zumindest ihre Systemideologen es glauben machen.

Der skeptische Blick erkennt hingegen: Bei der überwiegenden Mehrheit reicher Kapitaleigner war und ist das Erbe die entscheidende Voraussetzung für ihren Reichtum. Sie profitierten wesentlich von ihrer familiären bzw. bereits gehobenen sozialen Herkunft. Auch sog. ‘Self-Made’-Millionäre entstammen fast immer zumindest den gehobenen Mittelschichten und besaßen so günstigere Startvoraussetzungen gegenüber Angehörigen der unteren Schichten.

Reichtum hat also nur bedingt mit Können und Leistung der Reichen zu tun. Hier erzählt uns die Systemideologie die Unwahrheit. Und nicht nur dort. Guy Standing, Professor für Entwicklungspolitik an der University of London nimmt sich in einem Artikel für le monde diplomatique (November 2017) das kapitale Lügengebäude vor. Er kommt auf insgesamt 5 Lügen, ein glattes ‘Full House’. Standing ist überzeugt: Das System, das sich heraus gebildet hat, ist von Grund auf anders als es seine Fürsprecher darstellen. Er vermisst die ständig wie ein Glaubensbekenntnis gepredigte ‘Freiheit der Märkte’. Stattdessen stellt er die komplette Unfreiheit der gegenwärtigen Marktwirtschaft fest, die er als ‘Rentier-Kapitalismus’ bezeichnet.

Die Marktfreiheit sieht er nicht zuletzt dadurch unterlaufen, dass Unternehmen sich über Patente 20 Jahre Monopoleinkünfte sichern können, ohne jeglichem Wettbewerb ausgesetzt zu sein. Ein weiteres Beispiel liefert das Urheberrecht: Noch 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers spricht es dessen Erben ein garantiertes Einkommen zu. Staatliche Regelwerke unterstützen diese verbrieften Besitzstandswahrungs-Interessen und strafen Politiker-Predigten von der Freiheit des Marktes Lügen.

Standing wendet sich der Einkommensverteilung zu: Das gewohnte System aus dem 20. Jahrhundert ist aus seiner Sicht zusammen gebrochen. Seit den 80ern ist der Anteil der Erwerbseinkommen in allen wichtigen Volkswirtschaften rückläufig. Eine kleine Minderheit von Menschen und Unternehmen häuft einen gigantischen Reichtum an. Weniger durch ‘harte Arbeit’ bzw. produktive Tätigkeit, sondern vielmehr über sog. ‘Renteneinkommen’. Diese entstehen durch den Besitz knapper oder künstlich knapp gehaltener Vermögenswerte wie Immobilien, Rohstoffe oder Finanzinvestitionen. Immer lukrativer werden Schuldzinsen, die Kreditgebern zugute kommen so wie Erträge aus ‘geistigem Eigentum’, Renditen und Kapitalanlagen, Monopolunternehmen, Einkünfte aus Subventionen oder Gewinne aus Finanzgeschäften.

Der britische Ökonom John Maynard Keynes (1833-1946) stufte den Bezieher solcher Renteneinkommen, den Rentier, als ‘funktionslosen Investor’ ein. Jener erziele sein Einkommen rein durch sein Eigentum an Kapital, dessen Wert vor allem in seiner Knappheit liege.

In seiner ‘Allgemeinen Theorie’ von 1936 sagte Keynes voraus, der sich ausbreitende Kapitalismus würde den Rentiers langsam, aber sicher genau wie der repressiven Art der Kapitalisten den Garaus bereiten. Standing stellt jedoch fest: 90 Jahre später sind die Rentiers nicht ausgestorben. Ganz im Gegenteil: Sie sind die Hauptnutznießer des modernen Kapitalismus.

Der Neoliberalismus, der sich in den 80ern durchsetzte, machte ‘Wettbewerbsfähigkeit’ zur fixen Idee. Länder sollten hohe Wachstumsraten erzielen, in dem sie andere im ‘Wettbewerb’ überflügelten. Durch geringere Produktionskosten, höhere Rentabilität und niedrigere Steuern für mögliche Investoren.

Die Standorte sollten attraktiver werden für ausländische Anleger, ihre Exporte steigern und ihre Importe verringern. Deshalb wurden direkte Steuern, bevorzugt solche auf Kapital gesenkt, während Investoren in den Genuss von Subventionen kamen. Konzerne und Investoren übten Druck auf Regierungen und Finanzinstitutionen aus, damit jene einen Rahmen aus Regeln und Einrichtungen schufen, der den Eliten ermöglichen sollte, ihre Renteneinkommen zu maximieren. Standing schlussfolgert: Die Behauptung, der Kapitalismus basiere auf freien Märkten, ist die erste Lüge des Rentier-Kapitalismus.

Monopol-Kapitalismus löste die freie Konkurrenz ab

Ergänzend lässt sich anfügen: Wenn jemals so etwas wie ein freier Markt existierte, dann feierte dieser spätestens Ende des 19. Jahrhunderts Abschied, als sich die großen Industrie-Trusts heraus bildeten. Der so entstehende Monopol-Kapitalismus löste die freie Konkurrenz ab. Geblieben ist davon ein Restwettbewerb zwischen mittelständischen Zulieferern von Großbetrieben zuzüglich einiger Nischen, die von Start-Ups besetzt werden. Von diesen können sich die wenigsten über einen längeren Zeitraum halten.

Ausführlich widmet sich Standing dem urheberrechtlichen Schutz als Schwerpunkt garantierter Monopoleinkünfte. Er verweist auf das 1995 von der Welthandelsorganisation (WTO) verabschiedete ‘Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums’(Trips). Seitdem zählen gewerbliche Schutz- und Urheberrechte zu den Hauptquellen von Renteneinkommen. Sie umfassen u.a. Warenzeichen, Geschmacksmusterrechte, geschützte geographische Angaben, Geschäftsgeheimnisse und Patente.

Industrien, die mit Wissen arbeiten und deren Anteil heute bei 30 % der globalen Produktion liegt, machen mit geistigen Eigentumsrechten inzwischen genau so viel Gewinn wie mit der Her- und Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen. Der Grund: Wissensmonopole werden privaten Händen überlassen, die den Zugang zu diesem Wissen beschränken und seinen Preis bzw. den der damit erstellten Produkte und Dienstleistungen in die Höhe treiben.

Viele patentierte Erfindungen resultieren aus öffentlich geförderter Forschung. Die Allgemeinheit finanziert diese nicht nur über Steuern, sondern zahlt obendrauf – durch höhere Preise für patentierte Produkte, welche ihr als geistige Gemeingüter verloren gehen.

Letztlich sind die meisten Innovationen, die durch Patente hohe Umsätze liefern, das Hervorbringsel vieler Einzelner und Gruppen, die wiederum eine Vielzahl von Ideen und Experimenten entwickeln. Einzelne Beiträge zum technischen Fortschritt wie etwa jener von Bill Gates ähneln laut Standing einem Kieselstein am Fuß des Felsens von Gibraltar. Doch Gates und seinesgleichen bleibt der ganze Felsen überlassen. Standing hält das für moralisch zweifelhaft.

Er fügt an, dass viele Patente erst gar nicht angemeldet werden, damit andere die Ideen nicht ausschlachten. Auf diese Weise saugen Großkonzerne Tausende von Ideen ab, die ihnen lawinenartige Monopoleinkünfte sichern. Die Behauptung, geistige Eigentumsrechte würden bei Unternehmen und Investoren den Mut zum Risiko fördern, ist für Standing die zweite Lüge des Rentier-Kapitalismus.

An dieser Stelle lässt sich die Kritik des amerikanischen Anthropologen und überzeugten Anarchisten David Graeber anfügen. Graeber stellt fest: Der neoliberale Kapitalismus ist längst nicht so fortschrittlich und innovativ, wie er gern tut. In Wahrheit lähmt er den technischen Fortschritt durch eine überbordende, schwerfällige Bürokratie. Gemeint sind nicht die öffentlichen Verwaltungsapparate in Ämtern, Behörden und Ministerien, sondern der aufwendige Papierkram in Unternehmen und Hochschulen, die Flut der dort kursierenden Anfragen, Anträge, Bescheinigungen und Bewertungen. Diese Papierflut erstickt jeden kreativen Ansatz im Keim. Sie ist nach Graebers Ansicht auch dafür verantwortlich, dass sich Zukunftsvisionen der 60er und 70er Jahre nicht erfüllten. Weder gibt es bislang fliegende Autos noch ausgedehnte Raumfahrtprojekte bis hin zu einer Besiedlung des Mars. Fast einzig die Informationstechnologie hat Quantensprünge vollbracht.

Standing geht noch weiter. Er bezweifelt selbst die Annahme, dass die institutionelle Struktur des Kapitals, die im Zuge der Globalisierung entstanden ist, das Wachstum fördert. Dies sei die dritte Lüge des Rentier-Kapitalismus.

Tatsächlich hat diese Struktur das Wirtschaftswachstum eher gehemmt. Wo es sich dennoch einstellte, war es kaum nachhaltig und ging zu Lasten der Umwelt. Verantwortlich sind dafür die Mechanismen der Rentier-Ökonomie, insbesondere die inzwischen über 3000 Handels- und Investitionsabkommen. Angeblich sollen sie ein investitionsfreundliches Klima schaffen. Den Beleg dafür blieben sie bisher schuldig. Wenn überhaupt ergeben Untersuchungen allenfalls einen schwachen Zusammenhang zwischen derartigen internationalen Verträgen und Investitionsströmen.

Wo landen die höheren Gewinne?

Viel repräsentatives Bohai für praktisch nichts. Ähnlich minimal haben sich ausländische Investitionen auf das Wirtschaftswachstum ausgewirkt, förderten jedoch dafür die finanzielle Instabilität. Häufig wird behauptet, Gewinne spiegelten die Effizienz des Managements wider und belohnten dessen Risikobereitschaft. Für Standing ist das die vierte Lüge des Rentier-Kapitalismus. Die höheren Gewinne landen wo? In den Taschen der Rentiers. Zum Großteil resultieren diese Gewinne aus Finanzanlagen, geistigen Eigentumsrechten und vielfältigen Kapital-Subventionen.

Auf die Spitze getrieben wird die unerhörte Bevorzugung von Rentiers und großen Kapitaleignern bei den undemokratischen Investor-Staat-Streitschlichtungsverfahren (ISDS). Sie sichern multinationale Konzerne ab gegen Maßnahmen nationaler Regierungen, die ihre Gewinne schmälern könnten. Normalsterbliche Bürger können von solchen Schutzgarantien nur träumen. Anders als die Multis besitzen sie kein Klagerecht gegen politische Maßnahmen, sobald jene ihr Einkommen schrumpfen lassen.

Auch Online-Dienstleister wie das Taxi-Unternehmen Uber oder die Helfer-Vermittlung TaskRabbit erzeugen jede Menge Einkommen für die Rentiers. Sie krempeln den Arbeitsmarkt um, in dem sie Beschäftigung für Millionen von Auftragnehmern schaffen. Gleichzeitig machen sie den alten Dienstleistern Konkurrenz, in dem sie in deren Geschäftsfelder eindringen. Ihre Profite maximieren die Online-Plattformen auf zweierlei systemtypische Weise: Erstens durch den Besitz eines technologischen Apparates, den Patente und andere geistige Eigentumsrechte schützen. Zweitens durch zusätzliche Ausbeutung von Arbeitskräften, welche mindestens zwanzig Prozent ihrer Einnahmen an die Vermittler abführen müssen.

Firmen wie Uber sind in den Augen Standings klassische Rentiers. Sie verdienen viel Geld, wofür sie wenig mehr tun als die Technologie bereit zu stellen, welche Kunden und Dienstleister zusammenbringt. Auch dies verdeutlichen den Trend, dass die Arbeitseinkommen des Prekariats sinken, während die Einkommen der Rentiers steigen. Eine Armee von Scheinselbstständigen und geringfügig Beschäftigten kann jeden Tag die fünfte Lüge des Rentier-Kapitalismus bezeugen, die da lautet: ‘Arbeit ist der beste Weg aus der Armut’.

Vieles davon steckt in solchen Phrasen wie ‘Leistung muss sich wieder lohnen’. Leistung lohnt sich vor allem für die Rentiers, die leistungslos davon profitieren, dass sich andere abmühen.

Zu Ende seines Artikels fordert Standing ‘das verdiente Ende des Rentiers’, das Keynes verfrüht ankündigte. Er hält das für eine große Herausforderung, die jedoch zu bewältigen ist. Es braucht dazu ein neues System der Einkommensverteilung. Darin mit eingeschlossen: Ein Grundeinkommen, finanziert durch eine Abgabe auf alle Formen von Renteneinkommen.

Sollte dies nicht zustande kommen, prognostiziert Standing ein dunkles Zeitalter. Er befürchtet ‘hässliche politische Auseinandersetzungen’, sollte dem Profitstreben der Rentiers kein Einhalt geboten und der Bevölkerung keine wirtschaftliche Grundsicherung gewährt werden. Die Behauptung, ein solches Grundeinkommen sei nicht finanzierbar, kann nach dem hier Gesagten getrost als sechste Systemlüge angefügt werden.


Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe Februar 2018, erschienen.

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