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Inland
Zur Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)
Sprachgeschwurbel in Sachen Antisemitismus
Von Rudolph Bauer

Bundesinnenminister de Maizière hat sich nach den Dezember-Demonstrationen 2017 in Berlin, ausgelöst durch die Entscheidung des US-Präsidenten, Jerusalem als Hauptstadt von Israel anzuerkennen, für einen Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung ausgesprochen. Drei Monate zuvor, am 20. September 2017, hatte das Bundeskabinett beschlossen, sich die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zu Eigen zu machen. Die Bundesregierung folgte mit ihrem Beschluss einer am 31. Mai 2017 verabschiedeten Empfehlung des Europaparlaments an die europäischen Staaten, die IHRA-Definition, welche in Großbritannien und Österreich bereits Gültigkeit besaß, ebenfalls zu übernehmen. Vorarbeiten für den Beschluss des Europaparlaments hatte eine „European Parliament Working Group in Antisemitism“ geleistet. Als Sekretariat dieser Arbeitsgruppe fungierte der European Jewish Congress mit Berliner Büro und Hauptsitz in Paris, gegründet vom europäischen Zweig des Jüdischen Weltkongresses.

Die IHRA ist eine 1998 gegründete zwischenstaatliche Organisation mit Sitz in Berlin. Die englischsprachige Wikipedia hält deren Arbeitsdefinition für die weltweit am meisten verbreitete Auslegung des Begriffs Antisemitismus. Es sind also mehrere Gründe, weswegen es angebracht ist, die IHRA-Definition kritisch unter die Lupe zu nehmen.

Die englische Fassung der IHRA-Definition lautet: “Antisemitism is a certain perception of Jews, which may be expressed as hatred toward Jews. Rhetorical and physical manifestations of antisemitism are directed toward Jewish or non-Jewish individuals and/or their property, toward Jewish community institutions and religious facilities.”

Ins Deutsch übersetzt (und die deutsche Übersetzung ist hier Gegenstand kritischer Anmerkungen) lautet die „Definition“: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ In erweiterter Form umfasst die Definition einen dritten Satz des folgenden Wortlauts: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“

1. Wahrnehmung statt Vorurteil

Die Definition eines Begriffs dient zur präzisen Erklärung und klaren Bestimmung seiner Bedeutung. Davon kann im Fall der von der IHRA vorgeschlagenen Arbeitsdefinition („working definition“) des Antisemitismus keine Rede sein. Als Definition – von lat. definitio, ursprünglich Umgrenzung – gilt im weitesten Sinne jede Art der Feststellung oder Festsetzung einer Zeichenverwendung: hier der Kennzeichnung „Antisemitismus“. Von einer Definition ist zu erwarten, dass sie bestimmten Maßstäben genügt und methodische Regeln befolgt, die je nach Kontext unterschiedlich sein können. Sie soll vor allem verständlich sein, zweckmäßig, adäquat und begründet. Sie darf nicht irreführend und manipulierend sein.

Die IHRA-Definition besagt, Antisemitismus sei eine bestimmte Wahrnehmung. Antisemitismus ist jedoch keine Wahrnehmung, sondern ein Vorurteil, gleichbedeutend mit einer Falsch- oder Unwahrnehmung. Der Antisemitismus als Vorurteil pflegt diffuse Feindbilder, die sich einer rationalen Argumentation verweigern und deshalb die menschlichen Denk- und Handlungsmöglichkeiten einschränken. Kern der irrationalen Voreingenommenheit ist das Feindbild „Jude“, gepaart mit mörderischem Hass gegen „die Juden“ aus dem einzigen Grund, weil sie „Juden“ sind. Selbst dieses „Jude“-Sein unterliegt aus antisemitischer Sicht keiner begrifflichen Bestimmung und schon gar nicht dem Selbstbild der Betroffenen, sondern wird aus ideologisch motivierten Begründungen – etwa Rasse, Geschäftstüchtigkeit, Einfluss, Schmarotzertum und Weltherrschaftsplänen – abgeleitet.

Als Wahrnehmung wird beim Menschen der Vorgang bezeichnet, sinnliche Reize aufzunehmen und zu verarbeiten. (In der englischen Fassung der Definition ist die Formulierung „perception“ nicht auf die Wahrnehmung sinnlicher Reize beschränkt; das Wort kann auch eine Idee, eine Vorstellung oder Auffassung meinen.) Der in der deutschen Übersetzung verwendete Terminus Wahrnehmung beschreibt ein Mit-den-Sinnen-Erfassen. Sinnlich erfasst wird z. B. ein Geräusch, ein Geruch, ein Geschmack, etwas Tast- oder Sichtbares. Die deutsche IHRA-Definition legt nahe, dass Juden wahrgenommen werden, d. h. dass man sie mit Hilfe der Sinneswahrnehmungen erkennt. Hier wabert womöglich ein rassistisches Vorurteil. Auch die Nazi-„Rassenlehre“ hat Juden auf äußerliche Merkmale reduziert. Eine Definition des Antisemitismus, die sich aus sinnlicher Wahrnehmung speist, ist im Kern selbst vorurteilsbehaftet.

Wenn, wie im vorliegenden Fall, definitorisch nicht nur von Wahrnehmung die Rede ist, sondern zusätzlich von einer bestimmten (!) Wahrnehmung, dann stellt sich die Frage, wodurch die Wahrnehmung bestimmt ist, d. h. genau festgelegt, entschieden und gewiss. Darauf gibt die IHRA-Definition keine Antwort. Sie lässt offen, von welcher bestimmten Wahrnehmung die Rede ist. Insoweit ist sie ungenau und beliebig – also keine zweckmäßig brauchbare Definition mit intellektuell verbindlichem Anspruch.

2. Juden und Nichtjuden

Die Definition seitens der IHRA besagt, Antisemitismus sei eine bestimmte Wahrnehmung von Juden. Allein schon der Gebrauch des Genitivs ist uneindeutig und ambivalent. Es bleibt zunächst unklar, ob es sich um einen Genitivus objectivus handelt („Juden werden wahrgenommen“) oder um einen Genitivus subjectivus („Juden nehmen etwas wahr“).

Angesichts dessen, was heute auf insistierende Weise als „erweiterter Antisemitismusbegriff“ ins Feld geführt wird (davon ist später noch die Rede), könnte es sich um einen Genitivus subjectivus handeln: um die Perzeption eines Antisemitismus, wie er etwa durch den Publizisten Henryk M. Broder oder den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden verbreitet wird. Aus dem Nachsatz geht allerdings hervor, was definitorisch gemeint sein soll: nämlich das Wahrgenommen-Werden von Juden (Genitivus objectivus) – wobei die Bezeichnung „Juden“ nicht näher erläutert wird. Es bleibt den Lesenden überlassen zu deuten, ob „Juden“ sich auf die bekennenden Angehörigen der jüdischen Religionsgemeinschaft bezieht (orthoxe Juden) oder auf liberale, nichtorthodoxe Personen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft, Abstammung, Familienzugehörigkeit bzw. ob es sich um israelische Staatsbürger/innen handelt, jüdische und nicht-jüdische, darunter auch muslimische Israeli, oder ob von den Getöteten des Genozids die Rede ist, denen von den Nazis rassistische Judenmerkmale zugeschrieben wurden.

Sinnvoll wäre es, in der Definition deutlich zu machen, dass „den Juden“ im Rahmen des rassistischen Antisemitismus die Sündenbock-Rolle aufgeladen wurde und wird für all das, was wirtschaftlich und gesellschaftlich aus dem Ruder und schief läuft. Vergleichbares widerfährt „den Moslems“ im Rahmen des Antiislamismus oder „den Christgläubigen“ in Ländern mit Christenverfolgung. Der rassistische Antisemitismus lenkt in unangemessen ideologischer Weise ab von den realen Widersprüchen der politischen Ökonomie, indem er deren Ursachen individualisiert („der Jude ist schuld“) oder gruppenbezogen personalisiert („die Juden sind schuld“).

Umgekehrt verhindert das Antisemitismusverdikt aber auch einen empirischen Zugang zur tatsächlichen Rolle und zum wirklichen Einfluss von Anhängern religiöser oder ethnischer Gruppen, zu denen nicht nur diejenigen gehören, die Adepten jüdischer Gemeinschaften sind oder ihnen nahe stehen. Eine empirische Untersuchung etwa des katholischen Opus Dei ist kein antikatholischer Akt, eine Studie über die Mafia in den USA kein antiitalienisches Projekt. Es muss möglich und erlaubt sein, Macht- und Einflussstrukturen von Gruppen mit ethnischem oder religiösem Hintergrund zu analysieren.

3. Antisemitismus ohne Antisemiten

Die IHRA-Definition besagt, es handle sich um eine Wahrnehmung, die sich gegenüber Juden ausdrücken kann. Kann sich eine Wahrnehmung überhaupt ausdrücken? Ein wahrgenommenes Geräusch beispielsweise drückt sich nicht aus. Es ist vielmehr selbst ‚Ausdruck‘ und Ergebnis von etwas – beispielsweise einer Explosion. Es bedarf vielmehr einer Person (eines Subjekts), die etwas wahrnimmt und das Wahrgenommene dann wiedergibt: ausdrückt, formuliert, in Worte fasst.

Eine Wahrnehmung, die sich gegenüber einer jüdischen Einzelperson oder der Personengruppe „Juden“ ausdrückt, bedarf also einer Vermittlung (z. B. mit Hilfe von Medien oder der Propaganda) bzw. eines die Wahrnehmung mitteilenden Subjekts, also des bzw. der Antisemiten. Würde sie unmittelbar erfolgen, ohne eine intermediäre Instanz oder Person, wäre das ein abstruser Vorgang. Einen abstrakten Sachverhalt genau so wie einen konkreten Akteur als handelnd bzw. vermittelnd einzuführen, ist sprachschwurbelige Taschenspielerei.

4. Das Phänomen beschwören, aber die Ursachen vernachlässigen


Die an dieser Stelle in der Definition verwendete Kann-Formulierung, dass Wahrnehmung sich ausdrücken kann, impliziert verschiedene Bedeutungen. „Können“ meint so Unterschiedliches wie: (a) fähig und in der Lage sein („laufen können“); (b) eine Sprache beherrschen („Hebräisch können“); (c) die Möglichkeit haben („ein Studium aufnehmen können“); (d) die Erlaubnis zu haben, etwas zu dürfen („mit Billigung der Eltern einen Freund besuchen können“); (e) möglich oder denkbar sein („etwas kann sich ereignen“).

Gesetzt den Fall, dass – wie anzunehmen ist – Letzteres gemeint ist, stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen oder Voraussetzungen die Möglichkeit eines Ereignisses oder einer Entwicklung in Realität umschlägt. Darüber gibt die IHRA-Definition keine Auskunft. Die sonstigen Bedeutungen lassen – falls sie denn gemeint sind – offen, wie die entsprechenden Fähigkeiten oder Möglichkeiten entstanden sind (und wie man ihr Entstehen oder Ausbreitung verhindern kann).

Das Fehlen einer Ursachenanalyse und die Ungenauigkeit der definitorisch unzweckmäßigen Ausdrucksweise haben zur Folge, dass der Gedanke einer Bekämpfung oder Vermeidung des Antisemitismus gar nicht erst aufkommt. Antisemitismus erscheint als eine Art Naturereignis oder naturgegebenes Gesellschaftsphänomen, dessen Entstehung im Dunkeln bleibt, aber auch nicht interessiert. Dieser Mangel – man könnte fast meinen, dass die Vernachlässigung der Ursachenforschung ein Zeichen dafür ist, am Fortbestehen des Antisemitismussyndroms interessiert zu sein, nicht an seiner Bekämpfung – bestätigt sich auch im Folgenden.

5. Horrifizierung statt Analyse

Antisemitismus, so heißt es gemäß IHRA-Definition, sei eine Wahrnehmung, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Gemeint ist offenbar eine Einstellung gegenüber „den Juden“, die sich nicht zuletzt als Hass zeigt. Hass wird in der Definition auf widersinnige Weise zum Ausdruck einer Wahrnehmung erklärt. Hass ist jedoch eine irrationale Emotion, die sich in Form von prinzipieller Antipathie auswirken kann. Freilich lässt sich nicht jede Form einer radikalen Demonstration von Protest und Widerspruch zurückführen auf Hass. Auch hier bleibt die Definition unbestimmt.

Die intensiven negativen Gefühle des Hasses lösen bei den Hassenden Abneigung und Verachtung aus. Sie zeigen sich in der Praxis als feindselige und aggressive Haltung. Diese Einstellung hat nichts mit angeblichen Wahrnehmungen zu tun. Es handelt sich um eine emotionale Attitüde bzw. eine psychische Disposition, deren Genese nicht auf Wahrnehmungen zurückgeht, sondern auf ökonomisch verursachte, gesellschaftlich ausgelöste und psychodynamisch bearbeitete Beweggründe, die zu benennen (und zu bekämpfen) wären.

Bei der Art von phänomenologischer Definition, wie sie von der International Holocaust Remembrance Alliance vertreten wird, geht es definitiv nicht um Ursachenanalyse oder -bekämpfung, sondern um die Horrifizierung des als Wahrnehmungsphänomen klassifizierten Definitionsgegenstandes, der sich als Hass äußert. Die tieferen Wurzeln des antisemitischen Hasses bleiben im Dunkeln – und das sollen sie wohl auch, und zwar sowohl bei den Befürwortern des Antisemitismus als auch den bei Antisemitismus-Gegnern. Die Befürworter des Antisemitismus begreifen ebenso wenig wie seine Gegner, dass es sich beim Antisemitismus um ein gesellschaftliches Epiphänomen handelt – um eine systemerhaltende Begleiterscheinung der kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsformation.

6. Die Adressaten antisemitischer Gegnerschaft

Der Antisemitismus gemäß IHRA-Definition richtet sich gegen … . Diese Aussage ist – von der irrigen Personifizierung des Abstraktums Antisemitismus einmal abgesehen („der Antisemitismus richtet sich …“) – weitgehend korrekt. Gemäß der griechischen Vorsilbe „-anti“ (d. h. gegen) besagt die Worterklärung, dass das antisemitische Vorurteil gegen etwas gerichtet ist, nämlich (und hier wird die Definition in gefährlicher Weise unübersichtlich sowie auf fatale Weise beliebig und manipulativ) … gegen … Einzelpersonen … und/oder (gegen) deren Eigentum … sowie gegen … Gemeindeinstitutionen und … Einrichtungen. Die Definition des durch das Suffix „-ismus“ in pönalisierender Absicht bezeichneten Begriffs benennt verschiedene Gruppen und Arten von Adressaten der antisemitischen Gegnerschaft, nämlich (a.) Personen, (b.) deren Eigentum (d. h. einen Rechtstitel) sowie (c.) Institutionen und (d.) Organisationen.
  1. Die personenbezogene Gegnerschaft richtet sich gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen. Diese Definition liefert keine Anhaltspunkte zur Unterscheidung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Einzelpersonen. Es bleibt ungeklärt, warum und auf welche Weise einzelne Nicht-Juden zur Projektionsfläche antisemitischen Hasses werden.

  2. Die sachbezogene Gegnerschaft gegen den Eigentumstitel, auf den sich „jüdische und nichtjüdische Einzelpersonen“ berufen können, bleibt vage. Handelt es sich dabei um Sachbeschädigung, Zerstörung, Diebstahl, Raub oder die staatliche Konfiszierung von Eigentum? Ist angesichts der Beliebigkeit, die in der ungenauen Formulierung der Definition angelegt ist, nicht auch die Kritik am Eigentum und an seiner Verwendung (Luxus; problematische Investitionen, z. B. in den Bau von Atomkraftwerken, in die Rüstungsindustrie oder ethisch fragwürdige Forschungsprojekte) bereits ein Zeichen von antisemitischer Gegnerschaft? Die Definition unterscheidet auch nicht hinsichtlich der Schwere sachbezogener Gegnerschaft, und sie differenziert ebenso wenig, ob die Gegnerschaft von Individuen ausgeht, von einer Gruppe oder vom Staat.

  3. Die erwähnte Gegnerschaft gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen lässt erstens offen, ob sie von Privaten oder vom Staat ausgeht, und zweitens, ob jegliche Gegnerschaft gemeint sein soll (z. B. die Beschwerde von Nachbarn gegen den Kinderlärm einer Kita in jüdischer Trägerschaft).

7. „Wort oder Tat“ statt „Wort und Tat“

Die antisemitische Gegnerschaft äußert sich nach Maßgabe der IHRA-Definition in Wort oder Tat. Hier fällt ein gravierender Unterschied zwischen der englischen Fassung und der deutschen Übersetzung ins Auge. Im Englischen ist von „rhetorical and physical manifestations“ die Rede, im Deutschen hingegen von einer Gegnerschaft in Wort oder Tat.

Die englische Version kann in der Weise interpretiert werden, dass sich die antisemitische Gegnerschaft doppelt manifestiert, sowohl rhetorisch als auch handelnd. Die deutsche Übersetzung legt nahe, dass eine verbale Äußerung, die sich gegen die in der IHRA-Definition genannten Personen oder Institutionen richtet, in derselben Weise zu ahnden ist wie eine gegen sie gerichtete Handlung. Eine antisemitische Äußerung oder Gesinnung wird mit einem antisemitischen Akt gleichgesetzt. Das ist einer der Gründe, um die grundrechtlich verbürgte Meinungsfreiheit zu beschneiden bzw. eine entsprechende Meinungsäußerung dadurch zu unterbinden, dass ihr der Zugang zu öffentlichen Räumen verwehrt wird. Auf diese Weise wird einer vordemokratischen Gesinnungsprüfung der Weg gebahnt, statt am Grundsatz der Rechtsprechung durch eine unabhängige Justiz festzuhalten.

8. Fazit

Brandmarkung statt Forschung, Maulkorb statt Aufklärung und Prävention


Die Arbeitsdefinition der IHRA ist mangelhaft und daher unbrauchbar, ja sogar gefährlich. Ihr zufolge speist sich der Antisemitismus aus sinnlicher Wahrnehmung. Eine solche Erklärung ist strukturell selbst antisemitisch. Die IHRA ergeht sich „per definitionem“ in einem sprachschwurbeligen Autismus. Sie benennt weder die Träger, Vermittler und Akteure des Antisemitismus, noch erwähnt sie dessen gesellschaftliche und sozialpsychologische Entstehungszusammenhänge. Das Phänomen Antisemitismus wird horrifiziert, aber weder werden seine besonderen Erscheinungsformen auseinander gehalten, noch wird die Frage nach seinen Wurzeln und seiner Ausbreitung gestellt, um auf dieser Grundlage gegebenenfalls pädagogisch aufzuklären und vorzubeugen.

Der Adressatenkreis antisemitischer Gegnerschaft wird nicht definitorisch eingegrenzt, sondern definitiv ausgeweitet, so dass heute in irreführender Weise auch der Staat Israel als Adressat und Opfer des Antisemitismus figuriert: „als jüdisches Kollektiv“ (siehe den dritten Satz der IHRA-Definition: “Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“). Da der israelische Staat sich als „jüdischer Staat“ versteht, kann jeder Einwand gegen dieses Konzept zugleich als antisemitische Fundamentalkritik am Staat Israel verstanden und verurteilt werden.

Während das antisemitische Vorurteil rassistischer Prägung sowohl jüdische Individuen als auch die gesellschaftliche Minderheit der Juden betraf und betrifft, wird mit Hilfe der IHRA-Definition die Regierung der jüdischen Mehrheitsgesellschaft Israels in Schutz genommen und zum Tabu erklärt. Damit wird der auf solche Weise erweiterte Antisemitismusbegriff zu einem Instrument der Manipulation seitens derjenigen, die ein Interesse an der Immunität israelischer Regierungs-, Militär- und Besatzungspolitik haben – oder auch ein Interesse an der z. B. militärischen Unterstützung der israelischen Regierungspolitik durch andere Staaten, nicht zuletzt durch die Bundesrepublik Deutschland.

Die staatliche bzw. religionsstaatliche Erweiterung des Antisemitismusbegriffs wird nicht sachlich begründet, sondern behauptet und – mit Verweis auf die rund sechs Millionen gemeuchelter Juden – in moralisierender Weise beschworen. Moral, Irrationalismus und Gewalt ergeben eine explosive Mischung, und das in perfider Berufung auf die Getöteten in den Konzentrationslagern. Somit erlangen Antisemitismusvorwurf und -anschuldigung einen gefährlichen Stellenwert in der politischen Auseinandersetzung. Es entsteht ein neues Schmäh- und Feindbild: der „Antisemitismus“.

Der Vorwurf des „Antisemitismus“ erweiterter Art hat die Normalisierung des antisemitischen Rassismus zur Folge. Er dient einerseits zur Verdrängung der wahren Ursachen, zu denen auch der Klassenwiderspruch zählt, und andererseits als paradoxe Verdächtigung zur Stigmatisierung, als ideologischer Maulkorb. Die IHRA-Definition gilt als Nonplusultra einer Begriffsbestimmung des Antisemitismus und blendet daher die Notwendigkeit von wissenschaftlicher Forschung, gesellschaftlicher Prävention, historischer Aufklärung und humanistischer Pädagogik im Hinblick auf den rassistischen Antisemitismus weitgehend aus. Doch wem nützt das?

Antisemitismus verschleiert Widersprüche der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung

Der Gebrauch des Terminus Antisemitismus dient heute, wie die Erfahrung zeigt, nicht zuletzt der diskriminierenden Brandmarkung linker Kritik. Dabei gerät die entschiedene Verurteilung der rassistischen Instrumentalisierung des Antisemitismus in den Zwangsarbeitslagern und der Vernichtungsindustrie der NS-Diktatur bzw. der Wiederkehr faschistischer Regierungsmehrheiten in Europa in den Hintergrund. Nicht zuletzt vernebelt der auf dem erweiterten Begriffsverständnis fußende Antisemitismusvorwurf – wie auch schon der klassische Rasse-Antisemitismus – die Widersprüche der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, wie sie im gegenwärtigen Stadium des globalen Imperialismus erneut virulent sind.

Die Ablenkungs- und Vertuschungsfunktion des rassistischen Antisemitismus auf der einen Seite und des ganz anders gearteten, „antideutsch“ argumentierenden Antisemitismusvorwurfs gegen Kritik an Netanjahu und den Bankstern der Wallstreet andererseits erklärt, warum sich sowohl das Europaparlament als auch die Bundesregierung die irreführende IHRA-Definition zu Eigen gemacht haben. Nicht zuletzt um die massenhafte Erkenntnis der Widersprüche und Krisen des Kapitalismus einzudämmen, soll auch in der Bundesrepublik ein mit manipulativer Begriffsdefinition ausgestatteter Antisemitismusbeauftragter berufen werden.

Antisemitismus als Instrument von Schuldabwehr und gesellschaftlicher Spaltung


Ein weiterer Grund ist zu nennen: Beide Formen des Antisemitismus – der rassistische, welcher „die Juden“ irrational angreift, ebenso wie der erweiterte, welcher zum Zweck der Verdrängung, Verdächtigung und stillschweigender Komplizenschaft instrumentalisiert wird – dienen der gesellschaftlichen Spaltung. Der rassistische Antisemitismus spaltete und spaltet die Gesellschaft in eine jüdische Minderheit und eine nicht-jüdische („arisch-reinrassige“) Mehrheit.

Der erweiterte Begriff des Antisemitismus spaltet die Gesellschaft ebenfalls: in die Minderheit derjenigen, welche sich der per Staatsraison proklamierten Tabuisierung israelischer Politik nicht beugt, und die große Mehrheit jener Deutschen, welche sich im kollektiven Unterbewusstsein Versöhnung und Entlastung versprechen von den seit Kriegsende verdrängten und nicht betrauerten Schuldgefühlen. Indem sie Israel als „jüdisches Kollektiv“ in der Tradition der Verfolgungsgeschichte von Juden im Dritten Reich zu verstehen meinen, entheben sie den israelischen Staat und die Politik der israelischen Regierung jeder Kritik und der Verantwortung für ihr Handeln gegenüber den entrechteten Palästinensern.

So, wie ihre Väter und Großväter behaupteten, von den Naziverbrechen nichts gewusst zu haben, so wollen sie von der politischen Realität im Nahen Osten nichts wissen und die Verbrechen dort nicht zur Kenntnis nehmen. (Nicht unähnlich dem Verhalten der Bevölkerungsmehrheit beim KPD-Verbot 1956 und beim Radikalenerlass 1972.) Was sich in Israel und Palästina täglich abspielt, entlastet von der eigenen historischen Schuld. Deshalb wird auch jeder Vergleich bereits im Ansatz als „antisemitisch“ abgeblockt, und zwar sowohl aus deutscher als auch mehrheitlich aus israelischer und jüdischer Sicht.

Ein solcher Vergleich, der durchaus keine Gleichsetzung bedeutet, gilt als schwerer Regelverstoß, weil er die verbrecherische Politik der Nazi-Vergangenheit und ihrer Folgen vor Augen führen würde. Die Sprachregelung und Begriffsakrobatik in Sachen Antisemitismus hilft den angeblichen Freunden Israels darüber hinweg, aus „Unfähigkeit zu trauern“ (Alexander und Margarete Mitscherlich) nicht in der Lage zu sein, sich der historischen Erfahrung des Faschismus zu stellen und der Tatsache seiner Wiederkehr zu widerstehen.


Mit Dank übernommen vom nahost-forum bremen - dort veröffentlicht am 14. März 2018


Siehe auch:

Wie eine „Arbeitsdefinition“ die Gesellschaft spaltet und Kritik strafbar macht
Instrumentalisierter Antisemitismus
Von Rudolph Bauer
NRhZ. 644 vom 24.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24517

Online-Flyer Nr. 652  vom 28.03.2018



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