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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Globales
Ein Existenzialanalytiker und Hardcore-Liberaler aus Israel bietet Hilfe an
Die Seelen-Schmerzen der liberalen Elite
Von Werner Rügemer

Er liebt „klassische Musik und feine Steaks“: Carlo Strenger ist der Prototyp des weltläufigen, liberalen Intellektuellen, teilt uns das Handelsblatt zum Interview mit ihm am 31. Mai 2019 bewundernd mit. Das Unternehmerblatt sorgt sich um die Nöte seiner reichen Klientel, jedenfalls um deren öffentlich auftretende Beauftragten, die, wie sich zunehmend zeigt, offensichtlich auch eine verwundbare Seele haben. (1) Da gilt der Liebhaber klassischer Musik und feiner Steaks aus Tel Aviv als Top-Experte. Er wurde an der Hebräischen Universität von Jerusalem promoviert. Er ist Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität von Tel Aviv, er ist Mitglied im Beirat der Sigmund Freud-Stiftung in Wien, er forscht am Institut für Terrorforschung an der City University of New York. Das Journal of the American Psychoanlytical Association lobte ihn als einen der kreativsten psychoanalytischen Theoretiker der Gegenwart. So ist der Vielschreiber, Vielredner und Erfolgsautor auch ein gern genommener Autor und Interviewpartner in den führenden liberalen Gazetten der westlichen Welt, eine fast unendliche Liste: New York Times, Wall Street Journal, Washington Post, Time Magazin, Foreign Policy, Huffington Post, Guardian, Le Monde, Haaretz, Neue Zürcher Zeitung, ZEIT, Welt und dergleichen. Die besonders liberale ZEIT lobte ihn als „eine der klügsten Stimmen der israelischen Linken“. Links sein und Zionist sein, das ist die Aufgabe westlicher Liberaler und Intellektueller, so die frohe, willkommene Botschaft aus dem Heiligen Land.

Die gefährdeten Seelen israelischer Intellektueller

Strenger praktiziert als Existenzialanalytiker: Er therapiert vielbeschäftigte und erfolgreiche Manager, Unternehmer, Akademiker, Künstler, die viel leisten, viel verdienen, aber auch immer wieder an der „Globalisierung“ leiden, oft verunsichert sind und oft nicht weiter wissen, in Israel selbst und in der weiten westlichen Welt.

Strenger kennt die Leiden der liberalen Global-Elite aus eigener Lebensgeschichte, wie er gern immer wieder erzählt. Hineingeboren in eine orthodox-jüdische Familie befreite er sich zum zionistischen Atheismus, ohne seine Verbindungen zu verlieren. Das gibt es Spannungen. Als „typischer Intellektueller“, der Habermas verehrt, will er natürlich liberal und auch irgendwie links sein und bleiben. Aber in der von ihm so bezeichneten globalisierten Welt ist das nicht immer einfach. Es gibt nämlich Feinde der offenen Gesellschaft, in Israel selbst und außerhalb.

Strenger hat, so zeichnet er seine Entwicklung als Psychoanalytiker nach, die Leiden typischer jüdischer Intellektueller beobachtet. Zunächst an sich selbst. Dann an dem bekannten und in liberalen Milieus beliebten New Yorker Regisseur Woody Allen zum Beispiel, der nie eine klare Position beziehen konnte und sich in endlose Selbstironie rettete.

In den Seelen der neuen Global-Elite rumort es

Strenger kennt, so das Handelsblatt, „die Ambitionen, Nöte und Sorgen liberaler Kosmopoliten“. Die ManagerInnen, UnternehmerInnen, ProfessorInnen, ErfolgskünstlerInnen – und vielleicht auch Top-JournalistInnen? - arbeiten als ortlose „Anywheres“ mal in Singapur, dann in Paris und dann mal wieder in Kalifornien. Sie sind nirgends verwurzelt und haben „zudem Angst, nach dem jetzigen Job keinen besseren zu finden.“

Da fragt der bewundernde Handelsblatt-Intverviewer Pierre Heumann (der ja auch etwas leisten muss, im Auftrag des Unternehmerblatts, für das er jetzt als Probe ein wichtiges langes Interview abliefern darf): „Diese Leute sind doch top-ausgebildet und gefragt und müssten sich doch eigentlich keine Sorgen machen?“ Doch doch, weiß der praktizierende Existenzialtherapeut. Diese Leute haben auch eine Seele, eine sensible, auch wenn sie die möglichst nicht zeigen: „Als Angehörige einer Elite lebt man in einer Meritokratie, in der es rauf und runter gehen kann. In diesem System muss man sich ständig fragen, ob die eigenen Leistungen gut genug sind. Das äußert sich eben auch in Ängsten.“

Leider „fühlen sich 70 Prozent abgehängt“

Früher, so der Existenzialtherapeut, ja früher hatten es diese Eliten viel besser: „Früher hat der Großteil der Bevölkerung die Eliten oder Anywheres nicht mit Argwohn betrachtet, sondern war froh, dass es sie gab... Wir brauchen Experten und Eliten für eine funktionierende Gesellschaft.“ Das sei aber durch die „Globalisierung“ problematisch geworden, so der spekulierende Philosophieprofessor. „Das Manko der liberalen Elite sehe ich darin, dass sie es nicht versteht, ihre Botschaften und Erkenntnisse der Bevölkerung nahezubringen.“

Die neue liberale Elite ist mit einem neuen Phänomen konfrontiert, mit dem sie bisher nicht klar kommt. Das sind die „70 Prozent der Menschen in den USA und auch in Europa“, die in einem engen Lebenskreis befangen sind und „seit längerem das Gefühl haben, zum Spielball starker Kräfte zu werden, auf die sie keinen Einfluss haben. Entsprechend fühlen sie sich abgehängt und gedemütigt.“

Der israelische Existenzialtherapeut liegt hier auf einer Linie mit den Polit-DiagnostikerInnen à la Trump, Merkel, Macron und Friedrich Merz: Auch für sie „fühlen“ sich einige oder eben auch die Mehrheit oder auch 70 Prozent der Menschen „abgehängt“. Ein „Gefühl“, das man folglich bearbeiten muss. Nicht die faktische Verarmung und Demütigung ist das Problem, sondern das „Gefühl“.

Das „Kommunikations-Defizit“

Aber nicht das „Gefühl“ der „Abgehängten“ ist das Problem und schon gar nicht ihre wirkliche Lage. Sondern das „Gefühl“, das die liberalen Eliten mit dem „Gefühl“ des Abgehängtseins der 70 Prozent haben. Dieses „Gefühl“ der Eliten ist das eigentliche Problem. Daran arbeitet der israelische Existenzialtherapeut. Dafür suchen auch die liberalen westlichen Medien und Eliten seine Hilfe.

Manche in der liberalen Elite schwanken: Soll man das dauerhafte Abgehängtsein der 70 Prozent wirklich hinnehmen? Oder doch ein paar Reformen? Da fragt dann brav der Handelsblatt-Interviewer Heumann: „Was sollten die Eliten Ihrer Meinung nach tun?“ Strenger weiß es, das vermittelt er seiner liberalen Klientel auf der Couch in Tel Aviv und in San Francisco: „Zuhören und mit politisch Andersdenkenden einen Dialog führen. Gerade die besser Ausgebildeten und Privilegierten müssen die realen Ängste derer respektieren, denen es nicht so gut geht wie ihnen.“

Also die „Ängste“ als real akzeptieren, nicht die Realität, aus der die Ängste hervorwachsen. Nicht die Lage derer verändern, „denen es nicht so gut geht“, sondern „einen Dialog“ mit ihnen führen. Die Ängste und die Realität in ein Problem der „Meinungsfreiheit“ transformieren. Strenger gibt ein Beispiel, wie er so einen „Dialog“ selbst praktiziert: „Ich bin zwar liberal und säkular, pflege aber einen Dialog mit Ultra-Orthodoxen und National-Religiösen. Gerade weil sie eine so unterschiedliche Weltanschauung haben, geht es mir darum, einem Bruch in der Gesellschaft entgegenzuwirken – einfach, indem wir miteinander reden.“ Natürlich lehnt der liberale Strenger die nationalistischen, rassistischen Parteien wie Le Pen in Westeuropa ab. Aber genauso natürlich findet er die nationalistischen, rassistischen Parteien in Israels Regierungen in Ordnung  - er ist ja "im Dialog" mit ihnen und achtet ihr "Recht auf Meinungsfreiheit".

Also die Aufgabe der liberalen Meinungsmacher: „Miteinander reden“. Pro-kapitalistische Politik durchziehen, aber besser „kommunizieren“! Ewiges, aber modernisiertes Talkshow-Gequatsche. Deutsche Variante: Dauerhaft auch die AfD ins etablierte Laber-Spektrum einbeziehen. Auch prominente Linke dabeisitzen lassen. Und öfter mal einen „betroffenen“ Altenpfleger oder eine Umwelt-Schülerin dazu laden und die sich im „Dialog“ ausquatschen lassen.

Rebranding Israel: Vom Besatzungsregime zur Partymeile

Die Aufgabe ist aber noch etwas anspruchsvoller. Die liberale Elite muss für die öffentliche „Kommunikation“ neue Symbole der Wohlfühligkeit inszenieren. Strenger arbeitet deshalb seit einem Jahrzehnt mit am „Branding Israel“-Projekt verschiedener Ministerien: Das weltweit angekratzte Image des Staates soll aufgebessert werden. Dazu gehört das global ausgreifende World Citizenship Project, nach israelischem Vorbild. Eingebunden werden soll die junge, aufsteigende, liberale Elite in Israel selbst und rund um den Globus: Sie setzt sich allgemein gegen Gewalt, gegen Hass, für Meinungsfreiheit und für eine offene Gesellschaft ein. Sie sind die zukünftigen Meinungsführer, von der das Funktionieren der westlichen Welt abhängt.

Der Musterort für die Projekte Rebranding Israel und World Citizenship ist nicht die angemaßte israelische Hauptstadt Jerusalem – dort gibt es leider unschöne Probleme mit dem Völkerrecht und mit den leider immer noch dort wohnenden, zweitklassigen arabischstämmigen BürgerInnen. Nein, der weltweit aufgebaute israelische Musterort ist Tel Aviv: jugendliche Partymeile am Meer, lebensfreudig, kreativ, vital, der Zukunft zugewandt, wo auch die Ex-Militärs ihre Kenntnisse in die neuen start ups einbringen, mit deren Produkten die tödlichen Drohnen des Besatzungsstaats und der transatlantischen Schutzmacht ausgerüstet werden. (2)

„Mozart und feine Steaks“: Nur mit Militärmacht zu verteidigen

Den logischen Clou liefern Heumann-Strenger zum Schluss des Interviews. Sie sprechen über die Lehren, die die liberalen Eliten in der EU aus der jahrzehntelangen israelischen Besatzungspraxis übernehmen sollten. Die westlichen liberalen Eliten sind, so Strenger, vielfach immer noch Weicheier.

Der Heumann fragt also zum Schluss: „Seit Jahren gibt es in Europa (er meint die EU, WR) und Deutschland eine Debatte, wie man Zuzug von Flüchtlingen begrenzt. Wo also sehen Sie das Problem?“

Der linke Hardcore-Liberale, als den sich der glühende Zionist selbst bezeichnet, erzählt uns, was er seinen seelengequälten Patienten auf der Couch vermittelt: Werdet endlich hart! Ertragt selbstbewusst die 70 Prozent Abgehängten! Führt die Besatzung fort für immer!

„Liberale zieren sich oft zu akzeptieren, dass für die Sicherung der Grenze und zur Abwehr von Flüchtlingen der Einsatz der Armee notwendig ist. Ohne den Einsatz des Militärs kann das Problem aber nicht gelöst werden. Europa hat sich während 70 Jahren daran gewöhnt, dass es seine Sicherheitsanliegen den USA übertragen kann. Das geht nicht mehr – und das sage ich als Hardcore-Liberaler.“


Fußnoten:

1 Carlo Strenger: „Die Elite fühlt sich einsam“, Interview, Handelsblatt 31.5.2019
2 Siehe das Kapitel „Israel: Abschöpfen der Besatzungs-Technologie“, in: Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts. Köln 2018, S. 185f.

Online-Flyer Nr. 708  vom 05.06.2019



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