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Aktueller Online-Flyer vom 28. April 2024  

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Lokales
Interview mit dem Kurt Lischka-Filmer Harry Zwi Dreifuss
Wie begegnet man einem Massenmörder?
Von Carl H. Ewald

Harry Zwi Dreifuss ist Kameramann. 1971 bekam er den Auftrag, Kurt Lischka zu filmen, der als NS-Verbrecher in der gleichen Stadt wie er ein ruhiges Leben führen konnte - in Köln. Über diese Begegnung und die Verdrängung der NS-Verbrechen im Nachkriegsdeutschland sprach Carl Ewald mit dem Filmemacher. Die Redaktion.
Ein junger Mann schaut aus dem Fenster eines fahrenden Zuges. Die Landschaft zieht vorbei. Ein älterer Herr betritt das Abteil. Der Koffer des jungen Mannes liegt in der Ablage, auf ihm klebt die Heimatanschrift: "Israel". Als der ältere Mann die Kofferaufschrift bemerkt, verlässt er fluchtartig das Abteil. Begegnungen in Deutschland zu Anfang der 60er Jahre. Diese Passagen stammen aus dem Kurzfilm "Begegnungen" von Harry Zwi Dreifuss, der im Rahmen der Ausstellung "Ich erinnere mich an diesen Deutschen ganz genau" noch bis 16. September im Kölner EL-DE Haus gezeigt wird.

Harry Dreifuss ist Jude, deutscher Jude. Er wurde 1935 in Mannheim geboren. Im gleichen Jahr mussten er und seine Familie vor den Nazis fliehen. Sie gingen in die Schweiz. Doch dort konnten sie nicht lange bleiben, weil es die Eidgenossen nicht erlaubten. Die Familie ging nach einem halben Jahr nach Palästina, und so wuchs Harry Dreifuss in Tel Aviv auf.

Nach dem zweiten Weltkrieg studierte der nach Deutschland remigrierte Dreifuss in Köln Fotografie und Film und arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Kameramann. "Begegnungen" wurde sein einziger Kurzfilm, der über Jahre hinweg im Keller seines Pulheimer Hauses lagerte - vollkommen zu unrecht. Doch im Klima des wirtschaftswunderschönen Deutschland der 60er Jahre wurde der Film von den Medienverantwortlichen als "zu problematisch" eingestuft.

Zu einer Begegnung anderer Art kam es 1971, als Harry Dreifuss im Auftrag des israelischen Fernsehens Beate und Serge Klarsfeld begleitete, die sich zur Aufgabe gemacht hatten, im Nachkriegsdeutschland NS-Verbrecher aufzuspüren. Sie waren auf den Spuren Kurt Lischkas, des ehemaligen Gestapo-Chefs von Köln und Paris. Lischka führte im Kölner Stadtteil Holweide ein ruhiges bürgerliches Leben, obwohl er doch als Schreibtischtäter für die massenhafte Vernichtung französischer Juden verantwortlich war. (Die NRhZ berichtete)

Über seine Begegnung mit dem Massenmörder spricht Harry Zwi Dreifuss in dem folgenden Interview.

"Da war ich nicht mehr nur Kameramann"

Herr Dreifuss, Ende der 50er Jahre haben Sie sich entschieden, aus dem Exil in Israel wieder nach Deutschland zurückzugehen. Warum?

Ich wollte mich in Fotografie weiterbilden, besonders im Filmbereich. Aber, um filmen zu lernen, habe ich mir damals gesagt: "Es ist besser, erst einmal von Grund auf die Fotografie zu lernen, und dann kommt der Film." Ich hatte mich für Deutschland entschieden, weil meine Eltern wieder hierhin zurückgegangen waren. Ich sprach mit einer Schule für Fotografie in Köln, und sie nahmen mich an...

Fotogalerie: SS-Mörder Lischka
Versucht zu entkommen: der SS-Mörder Lischka in Köln-Holweide 1971
Filmbild: Copyright Harry Z. Dreifuss


Das heißt, diejenigen, die sich zuerst entschieden, wieder nach Deutschland zurückzukehren, waren ihre Eltern...

Meine Eltern sind vor mir zurückgekehrt... meine Großeltern wollten auf keinen Fall zurück. Mein Großvater war sehr von seinen alten Freunden enttäuscht, von denen waren ja viele dann in "der Partei".

Meine Eltern hatten es wirtschaftlich sehr schwer. Mein Vater hat sich bis ins hohe Alter hinein abgemüht, versuchte seine Produkte von Geschäft zu Geschäft zu verkaufen. Die Firma stellte Schuhcreme, Wachs und Linoleum her. Letztendlich hatten sie ein sehr schweres Leben.

Ich muss dazu sagen, dass mein Vater keine Wiedergutmachung erhalten hatte... Stattdessen bekam er einen Kredit in Mannheim, der ihm half, noch einmal seine Produkte, dann aber in geringerem Maße als vor der Flucht herstellen zu können. Das hat er auch gemacht und dabei einen gewissen Erfolg gehabt. Aber den Vorkriegsstandard konnte er nicht mehr erreichen.

Sie sind mit dem Bewusstsein des Holocausts aufgewachse. Wie haben Sie sich denn in den 50er und 60er Jahren in Deutschland gefühlt - im Lande der Menschen, die millionenfach Mord an den Juden verübt haben?

Damals lebten in Deutschland tatsächlich viele, die das sogar mit Stolz zugegeben haben. Ich bin ehrlich, ich bin damals geradeaus meinen Weg gegangen. Ich habe mir gesagt: `Wenn es jemanden stört, dass ich hier bin... dann bin ich halt jetzt hier...´ Es ist mir auch passiert, dass der eine oder andere schon mal gesagt hatte, er sei dabei gewesen und das stolz betonte. Was kann man da sagen?! Ich konnte ihn ja nicht mehr ändern. Er lebte ja da, er saß da - dann dachte ich mir, der muss sich nun wohl daran gewöhnen, dass Deutschland jetzt eben nicht mehr judenrein ist!

Ich hatte auch so einen Dozenten in der Schule. Einigen kleinen Leuten ging es ja im Krieg wahrscheinlich sogar besser: Dieser Dozent erzählte, er habe damals einen Daimler gefahren, hätte einen Chauffeur gehabt und nicht nur ein Fahrrad, wie dann in den 60er Jahren. Der wollte sich vermutlich rechtfertigen... Aber, dann musste er nun den Studenten, den Israelis, den Juden die Kameras ausleihen...

Im Umgang mit solchen Leuten habe ich keine Hemmungen gehabt. Während ich weiß, dass mein Vater zuweilen geduckt an den Wänden entlang gelaufen ist... Ich hatte auch noch einen zehn, fünfzehn Jahre älteren Mitstudenten, der auch vor den Nazis geflüchtet war, in Israel gelebt hatte und zurückgekehrt war, und der sich immer sehr zurückgehalten hat. Es gab ja auch viele, die gar nicht zugaben, dass sie Juden sind. Es gibt auch heute in Köln wesentlich mehr Juden, als die, die in der Gemeinde verzeichnet sind; sie halten sich neutral, nicht religiös.

Als Sie dann den Nazi-Massenmörder Lischka hier in Köln auf der Straße mit der Kamera einfangen konnten, wie haben Sie sich da gefühlt?

Zu allererst war das ein normaler Auftrag als Kameramann für mich. Als wir vor diesen Aufnahmen zu ihm nach Hause kamen und er sich weigerte, sich filmen zu lassen, hörte ich zum ersten Mal seinen Namen, habe dann auch erfahren, dass er Gestapo-Chef in Köln und Paris war und was er getan hatte. Aber ich habe das zuerst als einen normalen Auftrag angesehen: Ihn hier in Köln zwischen normalen Bürgern auf der Straße zu filmen - denn es gab ansonsten keine Bilder von Lischka.

Fotogalerie: Kamera
Die Ausstellung zum Lischka-Prozess zeigt auch die Kamera, mit der Harry Dreifuss 1971 den Kölner Ex-Gestapo-Chef Lischka verfolgte.
Foto:Georg Biemann


Ich sollte also einige Portraitaufnahmen von ihm machen, oder wie man sagt, en face - so habe ich das zuerst als Kameramann gesehen. Aber in dem Moment, in dem er sich an den Garagen entlang drückte, das Gesicht hinter der Aktentasche versteckt, und als ich versuchte, ihm zuvorzukommen, ihn von vorne aufzunehmen... als ich das fast geschafft hatte, wendete sich Lischka wieder ab. Und da ist eigentlich bei mir der Groschen gefallen. Da war ich nicht mehr nur Kameramann. Da hat's bei mir geklingelt, und da habe ich zu mir gesagt: Und jetzt, bis die Rolle zu Ende ist!

Lischkas Verhalten in dieser Situation kann ja fast als ein Schuldeingeständnis verstanden werden...

Auf jeden Fall! Und als Feigheit - besonders als Feigheit! Gerade dieser Mann, der Befehle gegeben hatte, dessen Leute vielleicht bis zum Tod in der SS waren, die gesagt haben: "Wenn sie uns erwischen, sind wir sowieso dran..." Ganz zu schweigen von den vielen anderen, die sich das Leben genommen haben - oder die wie Goebbels sogar ihre „eigenen" Kinder getötet haben, ganz grausam: Was haben die Kinder getan?! Die sollten nur nicht in einer Nicht-Nazi-Welt aufwachsen...

Also vor diesem Hintergrund, zeigt ein Gestapo-Oberbefehlshaber gerade in solch einer Situation eine dermaßene Feigheit... Ich hoffe, dass alle Anhänger des dritten Reichs sich nur einmal diese Aufnahmen ansehen!

Das ist ja heutzutage nur ganz schwer verständlich, wie sich in den 70er Jahren ein Nazi-Massenmörder in Deutschland ganz sicher fühlen konnte...

Lischka hatte wohl versucht, sich hier zurückzuziehen und nicht aufzufallen. Was interessant ist, dass er nur sehr kurz in Frankreich im Gefängnis saß und kurz vor der Ratifizierung des Auslieferungsvertrages mit Frankreich wieder entlassen wurde. Da gibt es ganz verschiedene Interpretationen, warum das so war... vielleicht hatte er auch Informationen weitergegeben und "durfte" hier frei herumlaufen. Ich kann das nicht mit Bestimmtheit sagen...

Collage
Harry Dreifuss und sein Film "Begegnungen" - für die 60er Jahre zu problematisch | Collage: Carl H. Ewald


Können Sie sich vorstellen, dass sich so etwas wie der Holocaust, nicht unbedingt mit Juden als Opfern, noch einmal in Deutschland wiederholt?

Man kann nie etwas ausschließen, aber ich glaube, von deutscher Hand bestimmt nicht. Wie ich hier so lebe... ich habe sehr viele gute Freunde. Natürlich darf hier jeder seine Meinung äußern, und solange es legal ist, ist es ja auch gut.

Und ich finde, dass jede Religion hier natürlich ihren Platz haben sollte, um ihre Ideen auszudrücken. Nur wenn sie zu einer Art Sekte werden würde, oder wenn sie jemanden zu etwas zwingen wollten, dann wäre es zu Ende.

Aber es liegt an der Bevölkerung und vor allem an den jungen Leuten, an der heutigen Jugend – so sehe ich das.

Herr Dreifuss, vielen Dank für diese Begegnung, ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute!

Danke schön, und ich wünsche auch allen einen guten Abend, Erev Tov und Shalom!

Das ganze Interview als mp3 zum herunterladen.

Die Ausstellung „Ich erinnere mich an diesen Deutschen ganz genau" 
ist noch bis zum 16. September 2006
im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln (EL-DE Haus),
Appellhofplatz 23-25, in Köln zu sehen.

Öffnungszeiten:     Dienstag bis Freitag 10-16 Uhr
                            und Samstag, Sonntag 11-16 Uhr,
                            Eintritt: 3,60 Euro, ermäßigt 1,50 Euro
Das Begleitprogramm zur Ausstellung unter www.lischka-prozess.de

Online-Flyer Nr. 59  vom 29.08.2006

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