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Arbeit und Soziales
Wie die israelische Regierung den Sozialstaat demontiert
Reformen contra gewerkschaftliche Organisierung
Von Assaf Adiv
Um den Anschein zu erwecken, sie wolle diese gruselige Situation verändern, hat die Regierung am 4. Februar 2007 einem Programm mit dem Titel „Schritte zur Verringerung der sozialen Unterschiede und Anhebung der Zahlen der Beschäftigten“ zugestimmt, das jetzt nur noch durch die Knesset muss. Das Programm entstammt der Feder von Finanzminister Avraham Hirchson. Die negative Einkommenssteuer [2] soll es bringen: eine Rentengesetzgebung, eine Steuererhöhung für Dienstwagen und staatliche Beihilfen für Kinderbetreuungseinrichtungen, damit mehr Frauen einer Erwerbstätigkeit nachgehen können.
Israels Finanzminister Avraham Hirchson
Die neuen Reformen mögen sozial erscheinen, jedoch werden mit ihnen bewusst bereits bestehende Mechanismen umgangen. So widersetzt sich die Regierung beispielsweise jeglicher maßgeblichen Erhöhung des Mindestlohns, der mit knapp 645 Euro (3.585 Schekel) monatlich deutlich unter der Armutsgrenze liegt. Ebenso widersetzt sie sich Erhöhungen der Sozialhilfe oder anderer Leistungen. Am bezeichnendsten ist ihr Widerstand gegen jeglichen Kräftezuwachs bei den Gewerkschaften.
Staatliche Zuschüsse für Arbeitgeber
Auch der Wirtschaftsfachmann der hebräischen Tageszeitung Yediot Aharonot, Sever Plotzker, sieht die Reformen kritisch. Das neue Gesetz verpflichte jeden Haushalt, eine jährliche Einkommenssteuererklärung abzugeben, was in Israel bislang völlig unüblich sei. Dabei habe es doch bereits eine funktionierende Regelung gegeben: „Das Gesetz über ein garantiertes Grundeinkommen war im Grunde eine originär-israelische Umsetzung des Konzepts der negativen Einkommenssteuer.“ Dieses Grundeinkommen stand jedem zu und wurde von eventuellen Beschäftigungszeiten unabhängig ausgezahlt. Doch dann kürzte es die Regierung auf einen Betrag, von dem niemand leben kann, und die Reform, die es ersetzen soll, betrifft nur Leute, die mindestens halbzeittätig sind.
Tamar Gozanski, ehemaliges Knesset-Mitglied der kommunistischen Partei Hadash, weist darauf hin, dass die negative Einkommenssteuer in erster Linie das Phänomen des „armen Arbeiters“ aufrechterhält: „Ein Arbeiter, der mindestens halbtags tätig ist und dessen gesamtes Familieneinkommen weniger als 10.000 Schekel (1811 Euro) monatlich beträgt, wird monatlich eine Beihilfe von einigen hundert Schekel aus der Staatskasse erhalten. (…) Warum kümmert sich das Finanzministerium dann nicht darum, dass das Mindesteinkommen um ein paar Hundert Schekel steigt?“ In Wirklichkeit, so meint sie, sollen also die Arbeitgeber subventioniert werden.
Beschädigung des sozialen Netzes
Noch eine Gefahr birgt das Hirchson-Programm. Die Reformen werden Institutionen beschädigen, die für den Wohlfahrtsstaat von zentraler Bedeutung sind: die staatliche Sozialversicherungsanstalt, den Gewerkschaftsdachverband Histadrut und die Tarifverträge. So soll die neue Rente die staatlichen Leistungen für die Alten, aber auch tarifvertraglich verankerte Betriebsrenten ersetzen.
„Arbeiter 2007“ – ein Bild des Malers Ahmad Canaan
alle Fotos: Challenge
Anstatt die Leistungen für ältere Menschen zu erhöhen, was ohne Weiteres über die bestehenden Einrichtungen hätte geregelt werden können, sollen jetzt Wenigverdiener gezwungen werden, für eine Rente zu sparen und die Last der Regierung erleichtern. Eine solche Maßnahme passt zu der neoliberalen Auffassung, dass der Arbeiter für sich selbst sorgen muss, nicht etwa der Staat.
Früher lag das israelische Rentensystem völlig in den Händen der Histadrut. Mehr als 80 Prozent der Erwerbstätigen waren in ihr organisiert. Doch der Privatisierungsprozess, den die Wirtschaft des Landes seit 1985 durchlief, beinhaltete auch den Schleuderverkauf der gewerkschaftlichen Unternehmen und die Überführung ganzer Bereiche in die Hände von Personalfirmen. Heute sind nur noch 30 Prozent der Erwerbstätigen Israels organisiert und damit durch die Vereinbarungen zwischen Histadrut und Arbeitgebern automatisch rentenversichert. Millionen waren ohne Rentenversicherung.
Ein Schlag gegen die gewerkschaftliche Organisierung
Die neuen Rentenpläne der Regierung scheinen diese Misere zu beseitigen: Zwei Drittel der Rentenbeiträge sollen die Arbeitgeber, ein Drittel die Arbeitnehmer zahlen. Allerdings werden die Beiträge unabhängig von der tatsächlichen Gehaltshöhe nach einem Niedriglohn berechnet; die daraus resultierende Rente fällt äußerst gering aus. Arbeitgeber, die die Rentenbeiträge heute auf Grundlage des tatsächlichen Gehalts ihrer Beschäftigten abführen, bekommen damit grünes Licht, ihre Zahlungen zu reduzieren. Also wird sich die Lage der bereits Versicherten verschlechtern, während eine Verbesserung der Situation der Nichtversicherten höchst zweifelhaft ist.
Noch könnte die Histadrut eigene Rentenvereinbarungen mit den Arbeitgebern treffen. Doch es ist unwahrscheinlich, dass solche Vereinbarungen dann auch umgesetzt werden; die schlechter ausgebildeten Arbeiter haben in der Histadrut kein Gewicht und ihnen fehlt die Kraft, auf ihre Arbeitgeber Druck auszuüben.
Eine starke Gewerkschaft würde das geplante Reformprogramm stören. Ihre Schwächung ist daher beabsichtigt: Sich der Rentenfrage anzunehmen, indem man ein Gesetz erlässt, anstatt Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern zu unterstützen, läuft auf eine Aushöhlung der Macht der Gewerkschaft hinaus.
Assaf Adiv ist landesweiter Koordinator des Workers Advice Center, Israel
Aus dem Englischen von Endy Hagen
[1] Die Zahlen beruhen auf einem Armutsbericht der israelischen Sozialversicherungsanstalt vom September 2006
[2] Eine Einkommensteuer kann so gestaltet sein, dass einkommensstärkere Haushalte Abgaben entrichten müssen, während die einkommensschwächeren Haushalte Transferzahlungen erhalten. Diese Zahlungen werden als negative Einkommensteuer bezeichnet.
Online-Flyer Nr. 90 vom 11.04.2007
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Arbeit und Soziales
Wie die israelische Regierung den Sozialstaat demontiert
Reformen contra gewerkschaftliche Organisierung
Von Assaf Adiv
Um den Anschein zu erwecken, sie wolle diese gruselige Situation verändern, hat die Regierung am 4. Februar 2007 einem Programm mit dem Titel „Schritte zur Verringerung der sozialen Unterschiede und Anhebung der Zahlen der Beschäftigten“ zugestimmt, das jetzt nur noch durch die Knesset muss. Das Programm entstammt der Feder von Finanzminister Avraham Hirchson. Die negative Einkommenssteuer [2] soll es bringen: eine Rentengesetzgebung, eine Steuererhöhung für Dienstwagen und staatliche Beihilfen für Kinderbetreuungseinrichtungen, damit mehr Frauen einer Erwerbstätigkeit nachgehen können.
Israels Finanzminister Avraham Hirchson
Die neuen Reformen mögen sozial erscheinen, jedoch werden mit ihnen bewusst bereits bestehende Mechanismen umgangen. So widersetzt sich die Regierung beispielsweise jeglicher maßgeblichen Erhöhung des Mindestlohns, der mit knapp 645 Euro (3.585 Schekel) monatlich deutlich unter der Armutsgrenze liegt. Ebenso widersetzt sie sich Erhöhungen der Sozialhilfe oder anderer Leistungen. Am bezeichnendsten ist ihr Widerstand gegen jeglichen Kräftezuwachs bei den Gewerkschaften.
Staatliche Zuschüsse für Arbeitgeber
Auch der Wirtschaftsfachmann der hebräischen Tageszeitung Yediot Aharonot, Sever Plotzker, sieht die Reformen kritisch. Das neue Gesetz verpflichte jeden Haushalt, eine jährliche Einkommenssteuererklärung abzugeben, was in Israel bislang völlig unüblich sei. Dabei habe es doch bereits eine funktionierende Regelung gegeben: „Das Gesetz über ein garantiertes Grundeinkommen war im Grunde eine originär-israelische Umsetzung des Konzepts der negativen Einkommenssteuer.“ Dieses Grundeinkommen stand jedem zu und wurde von eventuellen Beschäftigungszeiten unabhängig ausgezahlt. Doch dann kürzte es die Regierung auf einen Betrag, von dem niemand leben kann, und die Reform, die es ersetzen soll, betrifft nur Leute, die mindestens halbzeittätig sind.
Tamar Gozanski, ehemaliges Knesset-Mitglied der kommunistischen Partei Hadash, weist darauf hin, dass die negative Einkommenssteuer in erster Linie das Phänomen des „armen Arbeiters“ aufrechterhält: „Ein Arbeiter, der mindestens halbtags tätig ist und dessen gesamtes Familieneinkommen weniger als 10.000 Schekel (1811 Euro) monatlich beträgt, wird monatlich eine Beihilfe von einigen hundert Schekel aus der Staatskasse erhalten. (…) Warum kümmert sich das Finanzministerium dann nicht darum, dass das Mindesteinkommen um ein paar Hundert Schekel steigt?“ In Wirklichkeit, so meint sie, sollen also die Arbeitgeber subventioniert werden.
Beschädigung des sozialen Netzes
Noch eine Gefahr birgt das Hirchson-Programm. Die Reformen werden Institutionen beschädigen, die für den Wohlfahrtsstaat von zentraler Bedeutung sind: die staatliche Sozialversicherungsanstalt, den Gewerkschaftsdachverband Histadrut und die Tarifverträge. So soll die neue Rente die staatlichen Leistungen für die Alten, aber auch tarifvertraglich verankerte Betriebsrenten ersetzen.
„Arbeiter 2007“ – ein Bild des Malers Ahmad Canaan
alle Fotos: Challenge
Anstatt die Leistungen für ältere Menschen zu erhöhen, was ohne Weiteres über die bestehenden Einrichtungen hätte geregelt werden können, sollen jetzt Wenigverdiener gezwungen werden, für eine Rente zu sparen und die Last der Regierung erleichtern. Eine solche Maßnahme passt zu der neoliberalen Auffassung, dass der Arbeiter für sich selbst sorgen muss, nicht etwa der Staat.
Früher lag das israelische Rentensystem völlig in den Händen der Histadrut. Mehr als 80 Prozent der Erwerbstätigen waren in ihr organisiert. Doch der Privatisierungsprozess, den die Wirtschaft des Landes seit 1985 durchlief, beinhaltete auch den Schleuderverkauf der gewerkschaftlichen Unternehmen und die Überführung ganzer Bereiche in die Hände von Personalfirmen. Heute sind nur noch 30 Prozent der Erwerbstätigen Israels organisiert und damit durch die Vereinbarungen zwischen Histadrut und Arbeitgebern automatisch rentenversichert. Millionen waren ohne Rentenversicherung.
Ein Schlag gegen die gewerkschaftliche Organisierung
Die neuen Rentenpläne der Regierung scheinen diese Misere zu beseitigen: Zwei Drittel der Rentenbeiträge sollen die Arbeitgeber, ein Drittel die Arbeitnehmer zahlen. Allerdings werden die Beiträge unabhängig von der tatsächlichen Gehaltshöhe nach einem Niedriglohn berechnet; die daraus resultierende Rente fällt äußerst gering aus. Arbeitgeber, die die Rentenbeiträge heute auf Grundlage des tatsächlichen Gehalts ihrer Beschäftigten abführen, bekommen damit grünes Licht, ihre Zahlungen zu reduzieren. Also wird sich die Lage der bereits Versicherten verschlechtern, während eine Verbesserung der Situation der Nichtversicherten höchst zweifelhaft ist.
Noch könnte die Histadrut eigene Rentenvereinbarungen mit den Arbeitgebern treffen. Doch es ist unwahrscheinlich, dass solche Vereinbarungen dann auch umgesetzt werden; die schlechter ausgebildeten Arbeiter haben in der Histadrut kein Gewicht und ihnen fehlt die Kraft, auf ihre Arbeitgeber Druck auszuüben.
Eine starke Gewerkschaft würde das geplante Reformprogramm stören. Ihre Schwächung ist daher beabsichtigt: Sich der Rentenfrage anzunehmen, indem man ein Gesetz erlässt, anstatt Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern zu unterstützen, läuft auf eine Aushöhlung der Macht der Gewerkschaft hinaus.
Assaf Adiv ist landesweiter Koordinator des Workers Advice Center, Israel
Aus dem Englischen von Endy Hagen
[1] Die Zahlen beruhen auf einem Armutsbericht der israelischen Sozialversicherungsanstalt vom September 2006
[2] Eine Einkommensteuer kann so gestaltet sein, dass einkommensstärkere Haushalte Abgaben entrichten müssen, während die einkommensschwächeren Haushalte Transferzahlungen erhalten. Diese Zahlungen werden als negative Einkommensteuer bezeichnet.
Online-Flyer Nr. 90 vom 11.04.2007
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