NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 16. April 2025  

zurück  
Druckversion

Globales
Berlin setzt in der Türkei auf Islamisten-Partei AKP
Anatolische Werte
Von Hans Georg

Nach der Wahl von Nicolas Sarkozy zum französischen Staatspräsidenten warnen deutsche Außenpolitiker vor wachsender EU-Kritik in der Türkei. Sarkozy lehnt eine EU-Vollmitgliedschaft des Landes ab - ebenso wie die deutsche Bundeskanzlerin, die jedoch diskreter auftritt und Ankara möglichst im unklaren lassen möchte. Sarkozy solle sein Votum gegen den türkischen EU-Beitritt verschwiegener behandeln, um die Chancen des proeuropäischen Parteienspektrums bei den vorgezogenen türkischen Parlamentswahlen nicht zu verschlechtern, heißt es in Berlin.


Abdullah Gül – trotz Steinmeier Unterstützung nicht Präsident Abdullah Gül – trotz Steinmeier Unterstützung nicht Präsident
Foto: wikipedia



Die Bundesregierung setzt bei ihrem Versuch, Ankara über ein EU-Beitrittsverfahren zur Preisgabe bisheriger Widerstände gegen die europäische Durchdringung des Landes zu zwingen, auf die islamistisch geprägte Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP). Die AKP vertritt das agrarisch-traditionalistische Milieu Zentralanatoliens, das seit geraumer Zeit wirtschaftlich erstarkt und inzwischen die Hegemonie der westtürkischen kemalistischen Eliten bedroht. Ihren weiteren Aufstieg versucht die AKP durch ein außenpolitisches Bündnis mit Berlin und Brüssel zu sichern und bietet sich im Gegenzug als "Brücke zur islamischen Welt" an.


Weit besser

Die deutschen Präferenzen für die AKP treten seit dem Beginn des Streits um die Wahl des türkischen Staatspräsidenten offen hervor. Außenminister Steinmeier hatte sich noch wenige Tage vor dessen Scheitern auf die Seite des AKP-Präsidentschaftskandidaten und gegenwärtigen Außenministers Abdullah Gül gestellt. Gül werde "auch als Präsident der Türkei seine erfolgreiche Arbeit fortsetzen", stützte EU-Chefaußenpolitiker Javier Solana den Berliner Favoriten am vergangenen Sonntag in der deutschen Boulevardpresse.[1] "Die AKP kann eine weit bessere Bilanz ziehen als ihre Vorgängerregierungen", will auch die Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Claudia Roth, erkannt haben.[2]

Lügen

Hintergrund der deutschen Unterstützung für die AKP ist deren prinzipielle Bereitschaft, das türkische EU-Beitrittsverfahren weiter voranzutreiben. Laut SWP, der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, geht es dabei um die "Anpassung nationaler Verhältnisse an den in der EU vorherrschenden Standard" und um die "Herstellung einer weitgehenden Kompatibilität von nationalen und EU-Institutionen und -prozessen" - eine auffallend allgemeine Beschreibung der beabsichtigten Eingriffe in die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Strukturen der Türkei.[3] Die EU-genehme Zurichtung des Landes suchen Berlin und Brüssel mit dem Versprechen schmackhaft zu machen, nach erfolgreichem Abschluss des Anpassungsprozesses als mögliches EU-Vollmitglied Zugang zu milliardenschweren Fördergeldern und europaweiten Politpfründen zu erhalten. Das Lockmittel ist umstritten und erfährt zunehmenden Widerspruch deutscher und französischer Konservativer. "Wir müssen aufhören, die Türkei anzulügen", zitiert die deutsche Presse den Europaberater des künftigen Präsidenten Sarkozy, Alain Lamassoure: "Einerseits verhandeln alle mit der Türkei über einen Beitritt, andererseits hoffen alle, dass es nie dazu kommt."[4]

Machtkonstellation

Der Preis, den Ankara für das vorgegaukelte Ziel des EU-Beitritts zahlen soll, ist hoch. Nach Ansicht der türkischen Eliten erfordern die Beitrittsbedingungen Brüssels "nicht akzeptierbare Veränderungen im politischen Selbstverständnis der kemalistischen Republik", urteilt die SWP.[5] Zudem werden "fundamentale(...) Veränderungen" in der "Machtkonstellation der wesentlichen Akteure" verlangt. Deswegen stoßen die Anpassungsforderungen der EU auf umfassenden Widerstand. So lehnt neben Militärs und offenen Nationalisten auch die sozialdemokratische Parlamentsopposition (Republikanische Volkspartei/Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) den Beitrittsprozess ab und verweigert Zugeständnisse gegenüber Brüssel. Ankara dürfe "nicht länger alles nur akzeptieren", verlangte kürzlich der stellvertretende Vorsitzende der CHP-Parlamentsfraktion.[6]

Brücke

Sein Vorwurf gilt der AKP, die seit November 2002 die Mehrheit im türkischen Parlament innehat und dort eine "Politik der forcierten 'Europäisierung'" (SWP) betreibt.[7] Die islamistisch geprägte Partei ist bereit, sich den Wünschen Berlins und Brüssels zu unterwerfen, und offeriert die Türkei als "Brücke zur islamischen Welt". Wie das Auswärtige Amt vermerkt, wurde im Juni 2004 zum ersten Mal ein Türke zum Generalsekretär der Organisation der Islamischen Konferenz (Organization of the Islamic Conference, OIC) gewählt. Zuletzt suchte die Türkei im Streit um islamfeindliche Karikaturen zwischen dem Westen und den islamisch geprägten Staaten zu vermitteln.

Binnen einer Generation

Der Nutzen, den die AKP aus ihrer Anlehnung an Berlin und Brüssel zieht, ergibt sich unter anderem aus ihrer noch nicht gefestigten Position im türkischen Machtgefüge. Den recht frischen innenpolitischen Einfluss bezieht das AKP-Lager aus tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen im agrarisch-traditionalistisch geprägten Zentralanatolien. Dort ist "binnen einer Generation ein industrieller Kapitalismus aus einer vorwiegend ländlichen Kaufmannsgesellschaft" entstanden, heißt es in einer Studie über die zentralanatolische Provinz Kayseri.[8] Die gleichnamige Provinzhauptstadt beherbergt inzwischen eines der größten Industriegebiete des Landes, allein im Stadtteil Hacılar sind neun der 500 größten türkischen Betriebe entstanden. Als politischer Katalysator des neuen wirtschaftlichen Einflusses tritt die die AKP auf, die in Zentralanatolien sehr populär ist. "Das AKP-Parteibüro in Kayseri war eines der ersten landesweit", berichten die Autoren der Studie, "in den Kommunalwahlen 2004 errang die Partei eine überwältigende Mehrheit von 70 Prozent, ihre stärkste im ganzen Land".[9] Bekanntester Politiker Kayseris ist der AKP-Präsidentschaftskandidat Gül.

Islam und Moderne

Dem agrarisch-traditionalistisch geprägten Zentralanatolien entstammen zahlreiche Einwanderer türkischer Herkunft, die bereits seit Jahrzehnten die Bundesrepublik mit billiger Arbeitskraft versorgen. Zu ihren religiösen Organisationen gehört die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG), deren Glaubensprägung - bedingt durch denselben sozialen Ursprung - große Ähnlichkeiten mit derjenigen der AKP aufweist. Die IGMG wird wegen ihrer islamistischen Ausrichtung von der deutschen Inlandsspionage überwacht.[10] Die AKP hingegen ist die bevorzugte Partnerin der Berliner Türkei-Politik. Sie vertritt die aufstrebenden Wirtschaftszentren Zentralanatoliens, deren Exportbetriebe zu Niedrigstlöhnen Waren für den europäischen Markt herstellen und an die EU angebunden werden sollen. An den Firmenstandorten finde man "ein Milieu (...), in dem Islam und Moderne gütlich nebeneinander bestehen", heißt es in der Studie über die AKP-Hochburg Kayseri: "Das von diesen Werten geformte Anatolien begehrt nun, Teil der Europäischen Union zu werden."[11]

Verbunden

Um die türkischen Begehrlichkeiten einzuschätzen und an EU-Normen zu messen, ist eine "European Stability Initiative" (ESI) vor Ort tätig. Das gemeinnützige "Beratungsinstitut" [12] sammelt "zuverlässige Informationen" über die Türkei, um "politischen Entscheidungsträgern fundierte strategische Analysen zur Verfügung zu stellen". Zuwendungen erhalten die Berater "von Regierungen, Unternehmen und Privatpersonen" - 45.000 Euro im Monat. Leitendes Mitglied ist Dr. Joachim Hütter, der unter anderem im Berliner "Zentrum für Internationale Friedenseinsätze" (ZIF) wirkt - in enger Zusammenarbeit mit der Bundesregierung.[13] Gegenwärtig sucht das ZIF nach Experten für eine geplante "Polizeimission" in Afghanistan. Deutschsprachig mit Erfahrungen in Kriegs- und Krisengebieten ist auch der "Präsident" des gemeinnützigen Instituts für Türkei-Fragen. Gerald Knaus betrieb "Feldforschung in Südosteuropa", als dort die Bomben fielen, und sammelt jetzt in Istanbul Informationen. Der deutschen Hauptstadt bleibt der ESI-Präsident verbunden. Dort unterhält er eines seiner Türkei-Büros.


[1] "Türkei soll laizistisch bleiben"; www.tagesschau.de 05.05.2007
[2] Roth sieht Türkei von Generälen "erpresst"; presseportal.de 02.05.2007
[3] Die Türkei im Prozess der "Europäisierung"; Aus Politik und Zeitgeschichte 33-34/2004
[4] EU warnt Sarkozy vor Türkei-Blockade; Financial Times Deutschland 08.05.2007
[5] Die Türkei im Prozess der "Europäisierung"; Aus Politik und Zeitgeschichte 33-34/2004
[6] Atatürks verspieltes Erbe; Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.05.2007
[7] Die Türkei im Prozess der "Europäisierung"; Aus Politik und Zeitgeschichte 33-34/2004
[8], [9] Islamische Calvinisten. Umbruch und Konservatismus in Zentralanatolien; European Stability Initiative 19.09.2005
[10] Entsprechend wies Außenminister Gül im Jahr 2003 die diplomatischen Vertretungen seines Landes an, die IGMG nach Kräften zu unterstützen.
[11] Islamische Calvinisten. Umbruch und Konservatismus in Zentralanatolien; European Stability Initiative 19.09.2005
[12] www.esiweb.org
[13] s. dazu
Nutzung anheim gestellt




Weitere Informationen zur deutschen Türkei-Politik finden Sie unter www.german-foreign-policy.com, z.B.: Deutsche Stiftungen: "Dem äußeren und inneren Frieden förderlich"Kurzer Prozess, Umstrittene Instrumente, "Ressentimentgeladene Äußerungen", Gehorsam, Euro-islamische Brücke, Die neue Bagdad-Bahn, Revolutionäre Wirkungen, Dritte Kraft, Imperiale Position, Schmutziges Geheimnis, Weiterer Schritt, Zielliste, Tödliches Versprechen und Große Player.

Online-Flyer Nr. 95  vom 16.05.2007

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE


Nit scheeße...! Nicht schießen...!
Von Arbeiterfotografie