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Aktueller Online-Flyer vom 18. April 2024  

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Lackmus-Test zum Jahresbeginn
Es lebe der Pessimismus!
Von Hans-Dieter Hey

Sie haben genau richtig gelesen. Denn der Pessimist hat dem Optimisten gegenüber zwei unschlagbare Vorteile. Erstens verfügt er über mehr Informationen und zweitens kann ihn deshalb nichts mehr überraschen. Da lohnt es sich, zum Jahresbeginn den Lackmus-Test zu machen.

Gespaltene Gesellschaft

Da orakelt beispielsweise das Institut für Demoskopie Allensbach am 29.12. pünktlich zum Jahreswechsel, dass 46 % der Deutschen zuversichtlicher in das nächste Jahr blicken als noch ein Jahr zuvor. Da waren es nur 38 %. Skeptisch seien dagegen 47 %, vor 12 Monaten waren es noch 52 %. Das ist einfach positiv. Woher aber die fröhliche Stimmung kommen soll, bleibt im Dunkel des Orakels. Nun haben wir aber lernen müssen, dass Stimmungsbarometer dieser Art genauso viel taugen, wie die Wahlvorhersagen von Allensbach. Danach hätten wir heute eine Schwarz-gelbe Regierung.

Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung Bielefeld weist indessen wissenschaftlich nach, dass sich zwei von drei Bundesbürgern in dieser Gesellschaft nicht mehr zurechtfinden. 87 % haben Zweifel, dass der Wohlstand gerecht verteilt ist. Dass man unfair miteinander umgeht, glauben inzwischen 70 % der Bürgerinnen und Bürger. Die überwältigende Mehrheit ist überzeugt, dass diese Gesellschaft auseinander geschlagen wird. Die Grenze verläuft zwischen denen, die haben und immer mehr, die nicht haben.

Feiertagsreden, um "Frieden zu stiften"

Angesichts dieser Lage sind feierliche Äußerungen der politischen Elite zu Weihnachten oder Silvester wenig überzeugend. Beispielsweise wenn Bundespräsident Horst Köhler von allen mehr Tugenden verlangt und meint, "ein bisschen mehr Ehrlichkeit, Anständigkeit und Redlichkeit im täglichen Umgang können uns wirklich nicht schaden". Man sollte sich verwehren gegen das Moralisieren eines Mannes, unter dessen Führung der IWF für Brasilien harte Kürzungen des Sozialhaushalts beschlossen hat - mit der Folge, dass inzwischen 17 Millionen Brasilianer Hunger leiden.

Für neoliberale Politik steht Horst Köhler auch bei uns, wo die Vermögenden weiter entlastet, die Schulden des Staatshaushalts aber vorwiegend den arbeitenden Bürgerinnen und Bürgern aufgebürdet werden. Und wenn Köhler begrüßt, dass Parteigrenzen mehr und mehr aufgehoben werden, dann muss das mehr als nachdenklich machen. Die Aufhebung der Parteigrenzen hatten wir schon mal - 1933. Wenn er sich dann auch noch bei denen bedankt, die Weihnachten nicht zu Hause sein können, aber dabei die Beschäftigten der Krankenhäuser und Feuerwachen in einen Topf wirft mit den "friedenstiftenden" Bundeswehrsoldaten in Afghanistan, sollte uns das erschrecken. Denn erstmals nach dem 2. Weltkrieg führen wir wieder Krieg, beschlossen durch die rot-grüne Regierung. Diesmal, um der US-Regierung für ihren imperialistischen Krieg am Hindukusch den Rücken freizuhalten.

Da darf man gespannt sein, wie sich Frau Merkel bei einem kriegerischen Schlag gegen den Iran verhält, der schon für März erwartet wird. Denn es muss nichts Gutes verheißen, wenn sie die Beziehungen zu den USA intensiver gestalten will.

Auch ihr aus Steuergeldern finanzierter Mutmacher-Brief, der zum Wohle der Verlagsherren in vielen Zeitungen abgedruckt wurde, ist hinaus geworfenes Geld. Außer dem Hinweis auf 25 Milliarden Euro Konjunkturspritze aus der sozialdemokratischen Wirtschafts-Ankurbelungs-Klamottenkiste enthält er weitgehend Nichtssagendes. Dieser Tropfen auf den heißen Stein wird spätestens 2007 verdampft sein, wenn die Mehrwertsteuererhöhung greift.

"Umbau" der Gesellschaft für´s Kapital

Was aus gutem Grund nicht im Brief steht: Merkel will die Menschen positiv stimmen für einen Wechsel von den Schröderschen "Reformen" zu einem "Umbau" der Gesellschaft, wobei ihr sicher die US-amerikanische Gesellschaft vorschweben dürfte. Und wenn sie davon spricht, dass wir in einem Boot sitzen und gemeinsam stärker sind, bleibt die Frage, wer in diesem Land rudert und wer davon profitiert. So hat das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut des DGB eine weitere Verarmung der Gesellschaft im Jahr 2005 festgestellt. Davon wird sich das Kapital schon nicht irre machen lassen: der Angriff auf das Geld des Mittelstandes hat bereits begonnen, und der Druck auf die Beschäftigungsverhältnisse wird weiter wachsen. Horrende Gewinne und Managergehälter auf der einen, und Entlassungen auf der anderen Seite kann allerdings keiner mehr verstehen. Und noch weniger, dass sich die Politik zum Handlanger einseitiger Wirtschaftsinteressen macht. In diesem Punkt dürfte die Zukunft nicht sehr optimistisch stimmen.

Fehlt im optimistischen Reigen nur noch der neue SPD-Chef Platzeck als Moralprediger: "Auch wenn es für manchen altmodisch klingt: bewährte Grundeigenschaften wie Anständigkeit, Verlässlichkeit und Pflichterfüllung sollten in Deutschland wieder mehr Einzug halten". Das ist nicht nur einfach Blödsinn. Herr Platzeck hat offensichtlich nicht verstanden, dass die Bürgerinnen und Bürger etwas von ihm als Politiker erwarten, nicht dass er von irgendwem Moral zu fordern hätte. Beispielsweise, dass er sich dafür einsetzt, den Zusammenhalt der Gesellschaft durch eine solidarische Politik wieder herzustellen, die seine eigene Partei mit Agenda 2010 und dem Scherbengericht von Hartz IV gerade abgeschafft hat. Das dürfte aber mit dem marktradikalen "Umbau" von Kanzlerin Merkel kaum zu machen sein. Und so wird es wohl bei Platzecks Festrede bleiben.

Wieder auf´s Niveau der Inquisition

Allzu zuversichtlich können wir auch nicht mit Innenminister Schäuble in die Zukunft gehen: "Bei sportlichen Großereignissen muss man Vorsorge treffen. Und dazu gehört für mich auch die Möglichkeit, die Bundeswehr im Inland einzusetzen, wenn sich die Sicherheitslage verschärft." Für ihn reichen danach also einige zigtausend Mitarbeiter der Bundespolizei und örtlicher Polizeibehörden nicht aus, die Fußballstadien während der Fußballweltmeisterschaft zu überwachen. Nach fortgeschrittener Einführung des Überwachungsstaates durch den letzten Innenminister Otto Schily (SPD) führt der beabsichtigte Einsatz der Bundeswehr im Inneren zu einer weiteren beängstigenden Entwicklung. Und wer sich als Innenminister für die Verwertung von Folterergebnissen erklärt, macht sie international hoffähig und begibt sich zudem auf das Niveau mittelalterlicher Inquisition oder des Faschismus. Das macht für die Zukunft bestimmt nicht viel Mut.

Dass wir nach Pressekonzentration und Pressegleichschaltung im Zeitungswesen, angesichts des immer unerträglicher werdenden Jubel- und Verblödungsfernsehens von ARD bis ZDF plus zunehmender Durchsuchungen von Pressebüros und unabhängigen Journalisten immer noch die pessimistischen Nachrichten erfahren dürfen, ist zwar nicht gewünscht, sondern dem aus realistischem Pessimismus sachte wachsenden Widerstand zu verdanken. Und das ist doch positiv, oder?

Online-Flyer Nr. 25  vom 04.01.2006

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