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Arbeit und Soziales
Ministerpräsident kann Nokia-Schließung nicht verhindern
Jürgen Rüttgers, Sozialismus-Surrogator
Von Hans-Detlev v. Kirchbach

Bei Nokia in Bochum wird dichtgemacht – Arbeitnehmereinkommen oberhalb der OECD-Armutsgrenze findet der milliardenschwere Weltmarktführer für „Mobiltelephone“ mit finnischem Hauptsitz einfach unzumutbar. Gegen die Ausbeutungs-Chuzpe in Gutsherrenmanier steht nun unser Ministerpräsident auf, als wäre er der Che Guevara vom Revier. Führt Jürgen Rüttgers zum Sozialismus – oder „rettet“ er auch nur die Nokia-Niederlassung? Zweifel bleiben angebracht. – Die Redaktion.

Nokia-Heuschreckenplage aus dem hohen Norden

Jürgen Rüttgers sieht Steuerzahler und Arbeitnehmer von einer grauseligen «Heuschrecke» überfallen, ausgeplündert, ausgenutzt. Nokia sei dank schwirrt das eindrückliche, aber historisch durch antisemitischen Gebrauch in der Nazizeit belastete Heuschrecken-Klischee für verantwortungsloses internationales Kapital wieder durch die Schlagzeilen. Für zitierfähige Kraftmeiereien ist der eigentlich eher intellektuell zurückhaltende NRW-Ministerpräsident schon mal zu haben, wenn er sich davon einen politischen Effekt verspricht, allzumeist einen, der die CDU-Wahlmühlen antreibt. In eher zwiespältiger Erinnerung ist ja noch sein leicht völkischer Beitrag zur „Demographie-Debatte“: „Kinder statt Inder“.


So tun, als wär man links: Ministerpräsident
Rüttgers sonnt sich beim Arbeitnehmerempfang 2007

Link(s)t Rüttgers?

Dabei gilt Jürgen Rüttgers manchen in seiner Partei als verkappter Linker, betont er doch immer, jedenfalls, wenn es werbeträchtig „anzukommen“ verspricht, die „soziale Komponente“ der Marktwirtschaft. Daß er sich nun gegen die Schließung des Bochumer Nokia-Standorts publikumswirksam ins Zeug legt, hat aber womöglich nicht nur mit seinem Engagement für die  Betroffenen zu tun. Indem er sich an die Spitze der Bewegung stellt, bricht er ihr dieselbe ab, soweit sie in’s wirklich Antikaptalistische, Klassenkämpferische umzuschlagen „droht“.

Widerstand simulieren und kanalisieren

Proteste, Streikandrohungen, Demonstrationen – ehe derlei aus dem Ruder läuft, nimmt man den „Widerstand“ doch besser gleich selber in die Hand. Sonst kommt womöglich noch jemand auf die Idee, daß der Fall Nokia nicht nur für sich allein steht, sondern symptomatisch für das ganze System sein könnte. Und daß Abzocken, Ausbeuten, Weiterziehen nicht die Bösartigkeit einer „ausländischen Heuschrecke“, sondern Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus unter Beweis stellen. Und so weit wollen wir die Leute, „das Volk“ oder auch „die Menschen draußen im Lande“, denn doch nicht denken lassen. Nicht, daß noch Handeln aus dem Denken wird.

Nokia-economy: Permanenter Klassenkampf

Gründe genug für starke Worte hat Rüttgers allerdings, und hätte jeder, der hier als Ministerpräsident amtiert. Mindestens 2.300 Arbeitsplätze wären futsch, nach Gewerkschaftsquellen bis zu 4.000, wenn der Global Player Nokia in Bochum wirklich dichtmacht. Die ArbeitnehmerInnen, die sich für Nokia, so eine Beschäftigte, „bis auf die Knochen abarbeiten“, fühlen sich vom Konzernvorstand glatt verhöhnt, da dieser sie als zu teuer und zu „unflexibel“ abkanzelt. In Rumänien, so die schrille Heuschrecken-Melodie, arbeiten die Leute eben für ein Zehntel. Warum dann nicht eigentlich gleich die offene Sklaverei wiedereinführen?

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de


Daß dem Ministerpräsidenten der Kamm schwillt, ist schon aus dem Grund verständlich, daß Nokia vom Lande NRW 60 Millionen Euro Subventionen kassiert hat und vom Bund nochmal 28 Millionen dazu. Mit so reich belegtem Zubrot lässt es sich gut das Bündel schnüren und nach Rumänien auswandern. Da wird Jürgen Rüttgers wenigstens vor Ärger rot: „Ich bin nicht bereit, den Kampf aufzugeben!“, ruft er wie ein gelernter Arbeiterführer.  

„Sauerei“ oder „freies Unternehmertum“


Doch damit nicht genug: Nun geschehen ja noch mehr Zeichen und Wunder, und sei’s auch nur, weil im Lande Wahlen anstehen. Selbst FDP-Generalsekretär Dirk Niebel schüttelt das gepflegt manikürte Fäustchen, mit dem er ansonsten Gegendemonstranten im Bundestag zu verprügeln droht, wider den fiesen Finnen-Konzern. «Es ist eine absolute Sauerei, deutsche Fördermittel für Arbeitsplätze in Anspruch zu nehmen und dann Arbeitsplätze aus Deutschland zu verlagern», so theaterdonnerte  Niebel in den «Kieler Nachrichten». Ob jetzt etwa gar bei der FDP der Sozialismus ausbricht? – Keineswegs! Denn was man in (Neo-) Liberalenkreisen überwiegend wirklich „denkt“, das erfahren wir von Niebels Parteikollegen Rainer Brüderle.  

Der ehemalige Minister für Wirtschaft und Weinbau in Rheinland-Pfalz, heute Wirtschaftssprecher der FDP-Bundestagsfraktion, redet im Hinblick auf Bandarbeiter und Putzfrauen gern von trägen, unflexiblen „Arbeitsplatzbesitzern“, während er für die übelsten Winkelzüge fein gepuderter Herrschaften in Konzernvorständen stets brüderlich warme Worte findet. Dieser volksentbundene Volksvertreter vergattert Rüttgers, daß man unter feinen Leuten so nicht mit "freien Unternehmen" zu reden habe. Die aus den Steuergeldern der weniger "freien" Durchschnitts- und Geringverdiener abgezwackten Subventionsmillionen, die das freie Unternehmen Nokia so freiweg geschluckt hat, sind für Brüderle freilich ebenso wenig einer Erörterung wert wie die durch "Freisetzung" höchst eingeschränkte Freiheit der sogenannten "Arbeitnehmer", an deren Arbeit das "freie Unternehmen" jahrelang gut verdient hat.

Da fällt es wirklich schwer, sich zu entscheiden: Soll man Rüttgers' womöglich auf Beruhigung und Selbstentlastung berechnete populistische Floskeln nicht doch sympathisch finden, weil sie immerhin Teilwahrheiten enthalten? Oder sollte man einem Brüderle für die zwar phrasenhaft verpackte, aber leicht durchschaubare Enthüllung des Kapitalstandpunkts danken?

Folgenlose Floskeln

Doch braucht sich Brüderle um seine Kapitals-Brüder keine Sorgen zu machen. Die praktischen Konsequenzen aus Rüttgers' Revolutionsrhetorik erschöpfen sich nämlich grad mal auf die Ankündigung, man werde "prüfen", ob die Landesregierung von den erwähnten 60 Millionen 17 Millionen  zurückverlangen könne. Womit die pathetische Polit-PR in einer unverbindlichen Kanzleifloskel versandet, deren Drohpotential schlimmstenfalls die zaghafte Bitte um ein paar Cents aus der Portokasse des Milliardenkonzerns enthält. Doch damit wird er keiner Fliege etwas zuleide tun, geschweige denn eine globale  Profitheuschrecke vom Tarantula-Format Nokias auch nur milde erschrecken. Man möchte es allerdings auch kaum glauben, daß dem Politikprofi Rüttgers die relative Ohnmacht einer Landesregierung gegenüber einem multinationalen Trust nicht bewußt sein sollte.


Aktion „Nokias zertreten"
Fotos: gesichter zei(ch/g)en


Der kurze Anflug Rüttgerschen Sozialismus-Surrogats ist denn auch schon wieder abgeflaut. Gestern, am 17. Januar, hieß es eher praxisorientiert, Rüttgers wolle persönlich mit der Nokia-Konzernleitung sprechen, „um Chancen für einen Erhalt des Bochumer Werks auszuloten“. Was aber – Stichwort „Ohnmacht“ – die Nokia-Chefetage postwendend geradezu verächtlich zurückweist. Vielleicht ist es daher mal angebracht, daß sich die ArbeitnehmerInnen und ihre Gewerkschaften nicht nur auf einen „Stellvertreter“ verlassen, der es schon irgendwie richten wird, sondern sich, wie es der Tradition der Arbeiterbewegung entspricht, ihrer eigenen Kraft  bewusst werden und entsprechend handeln. (HDH)

Online-Flyer Nr. 130  vom 18.01.2008

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