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Auch der Kölner Hauptbahnhof muss Gedenkort an die Todestransporte werden
Die Bahn erinnern an elftausend Kinder
Von Hans-Detlev v. Kirchbach

"Was ich mich erinnern kann, ist die Hand meiner Mutter. Das war mein Schutz. Die Hand durfte ich nicht loslassen."

Eine Installation mit Koffern, darauf Namen geschrieben. Samstagnachmittag im Kölner Hauptbahnhof. Hastende Passanten, Lautsprecherdurchsagen, Lärm und Getriebe. Im Eingangsbereich drängt sich eine Gruppe von etwa einhundert Menschen um die "Kofferskulptur". Im Hintergrund misstrauisch beäugend: Sicherheitsdienst und Polizei. Eine Dame von 67 Jahren versucht, über eine mobile Lautsprecheranlage die Erinnerung an die schlimmste Reise ihres Lebens wachzurufen. Es fällt ihr schwer, zu sprechen. Doch aus ihrer Erzählung wird deutlich, wie furchtbar diese Fahrt war, damals mit der Deutschen Bahn, der Reichsbahn, für sie, für ihre Mutter, deren letztlich rettende Hand sie nicht losließ, für tausende andere, deren Reise im Tod endete.

Tamar Dreifuss, 1938 in Wilna geboren, wurde mit ihrer Mutter 1943 im Viehwaggon Richtung Riga verschleppt. Bereits vorher war der Familienvater deportiert worden. Die Vorspiegelung der Nazis, die Familie könnte den Vater in einem Arbeitslager wieder treffen, durchschaute Tamars Mutter sehr bald. Nicht zuletzt die unmenschlichen "Reiseumstände", eingepresst in Viehwaggons der Deutschen Reichsbahn, vermittelten die Ahnung, die Gewissheit, dass die Zugfahrt nicht zur Arbeit, sondern in den Tod, in die Ermordung führen sollte. Tamar Dreifuss:

"Und dann wurden wir verladen wie Vieh in die Waggons. Ein Gedränge, das man sich nicht vorstellen kann, einer auf dem anderen. Es waren kranke Leute und Alte, es war kein Essen da, kein Trinken, man hat ganz wenig Wasser gegeben und ganz wenig Brot, das wurde verteilt an die alten Leute und an die Kinder. Ich lag so bei meiner Mutter, ganz verängstigt, ich konnte gar nicht rausgucken, ich fragte mich: Was ist da los? Warum macht man mit uns sowas? Und der Zug fuhr ab. Aber meine Mutter war eine starke Frau. Sie hat gesagt: Sie wird sich nicht umbringen lassen auf diese Art. Lieber wird sie erschossen. Und da hat sie drei Versuche unternommen..."

Von drei Fluchtversuchen scheiterten zwei. An einer Bahnstation schließlich ging es zur Selektion. Mit dem dritten gelang den beiden die Flucht aus einem Durchgangslager, sie schlugen sich als "Russinnen" durch und konnten nach Kriegsende nach Israel auswandern. 1959 kehrte Tamar Dreifuss "mit Bedenken" nach Deutschland zurück, nach Köln, hier wurden ihre Kinder geboren. Doch war es wirklich eine Heimkehr? Das dürfte sie, wie so viele Überlebende des Holocaust, zwiespältig empfinden, und zwar gerade angesichts des Verhaltens der Deutschen Bahn.

Vor 62 Jahren war Tamar unfreiwilliger "Fahrgast" im Deportationszug der Reichsbahn; am Samstag war sie für die Deutsche Bahn nur ein unwillkommener, unerwünschter Eindringling, der das Unternehmen mies machen wollte. Nein, dem Bahnvorstand um Mehdorn kann es eigentlich gar nicht recht sein, dass Tamar Dreifuss dank des starken Überlebenswillens ihrer Mutter die damalige Schreckensreise mit der Deutschen Bahn überlebt hat und heute Zeugnis ablegen kann. Ein Zeugnis eben auch für die tiefe und tätige Verstrickung der Deutschen Reichsbahn in die Massenmorde des deutschen Verbrecherstaates. Ein Zeugnis, das etwa jenen elftausend Kindern nicht mehr möglich ist, die allein von Frankreich aus mit Viehzügen der Deutschen Bahn, alias Reichsbahn, in die Vernichtungslager des Deutschen Reiches verschleppt wurden. Ihre Stimmen sind verstummt, sie können dem Bahnvorstand nicht mehr auf die Nerven gehen. Einem Vorstand, der sich so gern als neoliberaler Global Player aufführen und die Geschichte, die verbrecherische Geschichte der deutschen Bahn, als lästiges Geschäftshindernis spurlos entsorgen möchte.

Doch die Geschichte der von der Bahn in den Tod gefahrenen Kinder soll nicht vergessen sein, nicht die staatlichen Massenmörder sollen das letzte Wort gehabt haben. Jedenfalls nicht, wenn es nach dem Willen eines Zusammenschlusses von Initiativen geht, die seit Jahren versuchen, das Gedenken an die elftausend Kinder - und an so viele Millionen anderer wie sie - wach zu halten.

So gelang es den "Söhnen und Töchtern der deportierten Juden Frankreichs" ("Fils et Filles des Déportés Juifs de France"/FFDJF), unterstützt von der französischen Transportarbeitergewerkschaft und mit Zustimmung der Staatsbahn SNCF, zwischen Juni 2000 und Dezember 2004 eine Gedenkausstellung durch 18 französische Bahnhöfe wandern zu lassen. Mit Fotos der verschleppten Kinder, mit letzten Briefen wurden diejenigen wieder ins Bewusstsein zurück geholt, deren junges Leben von deutschen Staats wegen vernichtet, ausgelöscht wurde.

Auf deutschen Bahnhöfen aber sollen die Gesichter von Kindern nicht sichtbar werden, zu deren Ermordung die deutsche Bahn mit Technik, Planung, Logistik vorsätzliche Beihilfe geleistet hat. Bahnchef Mehdorns Vorstand verbietet starrsinnig jede Art von Erinnerung an Bahnverbrechen auf Bahngelände. Doch Initiativen mit Namen wie "Elftausend Kinder" und "Die Bahn erinnern" aus Köln ignorieren die Verbotsverfügung eines Bahnmanagements, das selbst ein Vermittlungsgespräch unter Beteiligung des Zentralrats der Juden und des Auschwitz-Überlebenden Arno Lustiger arrogant abgelehnt hatte. Für die feinen Vorstandsherren sind Leute, die einstmals im Viehwaggon zusammengepfercht wurden, statt in der ersten Klasse zu reisen und sich heute auch noch über die Zugfahrt beschweren wollen, offensichtlich keine Gesprächspartner. Eben auch nicht Tamar Dreifuss, die mit ihrer Mutter als einzige von Tausenden die Todesfahrt mit der Deutschen Reichsbahn überlebte.

Interessierte Minderheit - schweigende Mehrheit

Auch ein Großteil der Bahnkunden reagiert auf die unerwartete Konfrontation mit dieser Art "Bahngeschichte" wie Mehdorns Vorstandstruppe: mit Flucht und Abwehr. Die meisten hasten ohne Blick vorbei. Gelegentlich aber schimpft die "schweigende Mehrheit" auch:
"Die haben einen Dachschaden." Diese Amateurdiagnose teilt ein Herr mit geschäftsmäßigem Outfit den umstehenden Bundespolizisten mit."Das ist doch vorbei und Schluss damit", fordert einer im Vorbeilaufen. Und ein frustrierter Bahnkunde beklagt sich: "Wenn Sie im Vorortzug fahren, dann ist das heute auch wie ein Viehtransport. Dagegen sollten Sie mal lieber demonstrieren."
Doch andere bleiben stehen, hören zu, nehmen sich Informationsblätter, fragen nach Möglichkeiten, selbst aktiv zu werden. Das immerhin gab den anwesenden Zeitzeugen ein Stück Hoffnung. "Ich bin froh, hier zu sein, und dass so viele Leute dieser Deportation gedenken und dieser Zeit", meint denn auch Tamar Dreifuss.

Und die Bahn? Die schickt lieber ihren privaten Sicherheitsdienst und die "Bundespolizei", statt sich ihrer Geschichte zu stellen. Die "Ordnungskräfte" halten sich freilich vergleichsweise im Hintergrund. Die "Bundespolizei" beschränkt sich auf den Versuch, den "Veranwortlichen" festzustellen. Womit natürlich nicht der oder die "Rädelsführer" der Deportationen, sondern des unerlaubten Gedenkens gemeint sind.

Prinzip Geschichtslosigkeit: "Nicht zurückschauen"

Die offenkundige Missachtung, die Mehdorn und Co. den unfreiwilligen "Fahrgästen" der Vernichtungstransporte entgegenbringen, steht freilich in einer langen Tradition. Schon die "alte" Deutsche Bundesbahn verweigerte sich konsequent jeder Auseinandersetzung mit der eigenen verbrecherischen Vergangenheit. Veröffentlichungen wie von Raoul Hilberg oder von Heiner Lichtenstein wurden schlicht ignoriert. Stattdessen brüsteten sich offiziöse Darstellungen der Bahngeschichte gar noch mit der angeblich phänomenalen "Leistungsexplosion" der Reichsbahn während des Krieges - eine "Explosion" für Angriffskrieg und Massenmord. Diese - sicher nicht nur bahntypische - Verdrängung war auch kein Wunder. Sie entsprach reinem Selbstschutz, denn in den Führungsetagen der Bahn saßen so manche Mittäter der Todestransporte. Deren Erinnerungsvermögen war ebenso lückenhaft wie das der Naziärzte, Nazijuristen, Nazigeneräle nach 1945.

"Ich habe zwar mal meine Unterschriften gegeben, aber zuständig war ich nicht. Zuständig war vielmehr ein Herr Meyer - welcher Herr Meyer, weiß ich heute allerdings auch nicht mehr." So etwa ließ sich Martin Zabel ein, zu Reichsbahn-Zeiten Güterzug-Fahrplanreferent in Krakau, in den 80er Jahren Vizepräsident der Bundesbahn-Direktion Kassel. Ein einziger Reichsbahn-Funktionär landete vor Gericht - Albert Ganzenmüller, ehemals stellvertretender Generaldirektor der Reichsbahn, 1973 vor dem Düsseldorfer Schwurgericht der wissentlichen Beihilfe zum millionenfachen Mord angeklagt. Angeblich aber erlitt der 68jährige einen Herzinfarkt und kam wegen Verhandlungsunfähigkeit um den Prozess herum.

Einer der Reichsbahner ließ sich eine Ausrede einfallen, die bis heute geradezu programmatisch für die Haltung der Bahn stehen könnte: "Ich blickte mich nie um und sah nie nach hinten. Ich blickte immer nach vorne." "Wir schauen nicht nach hinten - wir blicken nach vorne - Deutsche Bahn". So wäre die alte Selbstentlastung eines der willigen Transporthelfer Hitlers direkt noch als flotter Werbespruch für die "neue" kommerzorientierte Bahn geeignet, für die Offenheit beim offenen Geldbeutel des Bahnkunden endet. Daran wird sich wohl kein Deut ändern, solange dieses Management amtiert.

Millionen Profite gegen Millionen Tote - ein betriebswirtschaftliches Kalkül

Eiskalte BWL-Ideologie scheint auch die Einstellung zu den Millionen dank Bahnbeihilfe ermordeten Opfern des deutschen Vernichtungsverbrechens zu bestimmen. Welche "betriebswirtschaftlichen" Probleme hätte die Bahn durch eine andere Einstellung zu ihrer Geschichte zu befürchten? Würde wertvolle Vermietungsfläche durch eine Dauerausstellung im Bahngelände profitmindernd besetzt? Würde den ICE-Kunden die Lust am Bahnreisen vergehen, wenn sie auf Schautafeln vor der First-Class-Lounge zu sehen bekämen, wie einstmals tausende von Kindern in Viehwaggons von der Reichsbahn zur Ermordung transportiert wurden? Fürchtet man Vandalismus, als Nachahmungseffekt, angesichts der Berichte von Überlebenden, die mit Messern Löcher in die Waggons bohrten und fliehen konnten? Befürchtet man womöglich durch ein Schuldeingeständnis, als Rechtsnachfolger der Reichsbahn, Schadensersatzforderungen in unbekannter Höhe? Zumal sich die Bahn den Mordtransport, zum Beispiel von Paris nach Auschwitz, mit 40 Reichsmark entgelten ließ? -

"Die heutige Bahn-AG verfügt tagtäglich über den Gegenwert jener Millionensummen, die den Deportierten abgepresst worden sind und in den Vermögensstock der Bahn eingegangen sind" - solche Erinnerung seitens der Kölner Initiative "Die Bahn erinnern" könnte in dieser Hinsicht Unbehagen bei den Verwaltern des Bahnvermögens auslösen. Zwar hat sich die Bahn, natürlich nur unter erheblichem Druck, dem Zwangsarbeiterfonds angeschlossen, da ihr Rechtsvorgänger, wie etwa auch in Köln, zu den rücksichtslosesten Ausbeutern von Zwangsarbeit gehörten.

Für manche Unternehmen ist die Zugehörigkeit zum Zwangsarbeiterfonds mittlerweile eine Art Rehabilitationsausweis, wenn nicht gar ein moralisches Gütesiegel. Warum also die Widerborstigkeit in Sachen Gedenkausstellung? Einen Vers auf diese Frage fand die Medieninitiative "German-Foreign-Policy", die die Kampagne der Deportiertenorganisationen unterstützt, in der "fortwährenden internationalen Expansion" der Bahn-AG, die heute wieder das größte europäische Schienenunternehmen sei. Ihr Ziel sei, eine ähnliche Monopolstellung zu erreichen, wie sie, allerdings dank Kriegseroberung, einst die Reichsbahn in Europa innehatte. Doch möchte man sich heute nicht in eine Reihe mit der Reichsbahn stellen lassen; die geforderten Ausstellungen seien "unternehmensschädlich", da sie "Zusammenhänge" zwischen der Reichsbahn und dem Nachfolgeunternehmen Bahn-AG herstellten, so ließ sich die Berliner Zentrale schließlich vernehmen.

So wird man wohl nur hoffen können, dass Mehdorn bald die Lokführung abgibt. Mindestens bis dahin wird zwar jedes Pop-Mode- und sonstige Kommerzspektakel problemlos in deutschen Bahnhöfen veranstaltet werden können. Wer sich aber über die Geschichte der Reichsbahn-Deportationen und ihre Opfer informieren will, muss wohl die nächsten Aktionen der Erinnerungsinitiativen abwarten. Die zum Ärger der Bahnmanager nicht nur über wehrlose Opfer, sondern auch über erfolgreichen Widerstand gegen die Todestransporte berichten können - der "rechtswidrige Eingriffe" in den "ordnungsgemäßen Bahnbetrieb" erforderte. Am 19. April 1943 stoppten drei junge belgische Juden, unter Führung des Brüsseler Arztes und Kommunisten Youra Livchitz, einen Zug mit 1618 Deportierten auf der Strecke vom belgischen Sammellager Mechelen nach Auschwitz mit einer roten Haltelaterne, die sie auf dem Gleis aufgestellt hatte. Sie öffneten mit Kneifzangen einen der Waggons. Ihnen gelang die Befreiung von 17 Menschen, bevor die Nazi-Soldateska es bemerkte und das Feuer eröffnete. Auch das gehört zu der Geschichte, die die Mehdorns dieser Welt vergessen und vergessen machen wollen.

Der Bericht von Tamar Dreifuss von sieben Minuten kann im O-Ton als mp3-file angehört werden.

Kölner Initiative "Die Bahn erinnern"
Kontakt: Jugendclub Courage Köln e.V., Steinbergerstr. 40, 50733 Köln, jc-courage@netcologne.de

Weitere Informationen: http://www.german-foreign-policy.com

Die Kampagne Bahnhöfe - Gedenkorte für NS-Opfer wird in Köln bisher unterstützt von:

Verein ELDE-Haus, Projektgruppe Messelager, Jugendclub Courage Köln e.V., ROM e.V., Gunter Demnig (Stolpersteine), sowie von zahlreichen Einzelpersonen



Die deportierten deutschen jüdischen Kinder haben das Anrecht wie in Frankreich auf eine Ausstellung in den Bahnhöfen der Deutschen Bahn


Installation [Warten auf den Zug] 1


Installation [Warten auf den Zug] 2


Installation [Warten auf den Zug] mit musikalischer Untermalung


Sklavenarbeit


das NRhZ Kamerakind


Enthüllung der Bahnschwelle vor dem Hbf


Viele Beamte, Angestellte und Arbeiter der Deutschen Reichsbahn waren in Zeit des Nationalsozialismus an der Deportation von Millionen Menschen beteiligt


Im Gedenken an die Opfer von Deportation und nationalsozialistischer Vernichtung - Köln im Januar 2006


Die Deutsche Bahn hat die Reichsbahn übernommen, - weigert sich aber in ihren Räumen und Bahnhöfen die Einbindung der Reichsbahn in die Verbrechen der Nazis öffentlich zu dokumentieren und zu bedauern.


Die Bahnschwelle enthüllt vor dem Hbf


Die Bahnschwelle enthüllt vor dem Hbf


Bahnschwelle mit Rosen


Fotos: Paula Schaefer

weitere Fotos unter www.arbeiterfotografie.com


Online-Flyer Nr. 29  vom 31.01.2006

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