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Inland
Roman über „Die schaudervollen Vorkommnisse in der Kommune V“
„Am Rubikon“
Von Peter Kleinert

Schon 1975 hatte der Kölner Schriftsteller, Historiker, Dramaturgiedozent, Brecht- und Shakespeare-Experte André Müller sen. diesen APO-Roman abgeschlossen. Natürlich bot der gelernte Tischler und bekennende Kommunist ihn einigen westdeutschen Verlagen an. Vergeblich. Auch in der DDR wurde er abgelehnt, obwohl sich Peter Hacks dort nachdrücklich dafür eingesetzt hatte. Seit Mai endlich im Buchhandel findet er so gut wie keine Beachtung in den Feuilletons. Wahrscheinlich weil er am Beispiel der fiktiven Berliner Kommune V ein paar '68er und die diese zum Bombenlegen anregenden „Staatsschützer“ spannend wie in einem Krimi und amüsant wie bestes Kabarett allzu realistisch beschreibt.
 
Am Rubikon 40 Jahre 1968 - Der Roman zur Revolte Einem der wenigen Rezensenten, der diese jetzt vom André Thiele-Verlag herausgegebene Realsatire in der Allgemeinen Zeitung vorstellt, muss allerdings widersprochen werden. Der behauptet - offenbar gestützt auf wikipedia -, dies sei das „Schlüsselbuch über die Entstehung der Baader-Meinhoff-Gruppe“. Das ist wohl genau so falsch wie das meiste, was von den üblichen Medien im 68er Jubiläumsjahr vorgetragen wird. Denn in der Kommune V wird zwar gelegentlich vom „bewaffneten Kampf“ geredet, doch Bomben bauen und legen müssen Kommissar Biermann, der zunächst „nur" von einem Kaufhausbrand träumt, durch dessen Aufklärung er Karriere machen könnte, und der von ihm angeleitete Spitzel und Agent provocateur Bodo Lauscher, als Mitglied der Kommune V, am Ende allein.
 
Die Kommunarden, drei junge Frauen und drei Männer (ein vierter ist nach einer WG-Durchsuchung im Knast gelandet) befassen sich in ihrer ziemlich dreckigen, unaufgeräumten studentischen „Lebens-, Wohn- und Kampfgemeinschaft“ in Berlin-Wedding - gelegentlich umschwelt von Tabak- und Haschischrauchwolken - doch lieber mit der „Ästhetisierung des Hässlichen", mit der Pflicht zur „Verweigerung des bürgerlichen Leistungszwanges", mit der Überwindung von Folgen spießbürgerlicher Erziehung durch Eltern aus der oberen Mittelschicht, mit Streit über die Nichtauffindbarkeit eines Che Guevara-Buches oder damit, Besucher davon zu überzeugen, dass sie mit ihnen zusammen die Gesellschaft umstürzen sollten.
 
Besuch am Vormittag
 
Das versuchen sie eines schönen Vormittags auch mit „der Arbeiterklasse“, die in Gestalt eines etwas heruntergekommen aussehenden Mannes bei ihnen klingelt und Sophie an der Tür bittet: „Können Sie mir vielleicht erklären, was Kommunismus ist? Ich bin nämlich Arbeiter.“ André Müller, der offenbar auf intensive Erfahrungen mit der APO zurückgreifen kann: „Die Kommunarden verstanden ihr gesamtes Tun als stellvertretend für die arbeitenden Schichten, aber sie hatten sich mit der Zeit daran gewöhnt, dass diese nichts von ihnen wissen wollten und ihnen bei Annäherungsversuchen nur entschieden den Rücken zukehrten. Die Nachricht, der Vertreter einer solchen Schicht stehe leibhaftig im Gemeinschaftsraum - der natürlich wieder einmal nicht aufgeräumt war! - und begehre Auskunft über Fragen grundsätzlicher Natur, verbreitete sich mit Windeseile… Bodo putzte sich, einem seltsamen Zwang gehorchend, schnell die Zähne, Jochen zog ein paar frische Wollsocken an, Wolfi wechselte sogar die Unterwäsche, Christine kleidete sich mit einer Geschwindigkeit an, die in der Kommune V noch nicht erlebt worden war, und Deike tat das Ungewöhnlichste von allen: sie schminkte sich die Wangen rötlich und die Lippen lila, woraufhin sie aussah, als rüste sie sich für ein Kostümfest. Und dann eilte jeder, so schnell er nur konnte, ins Gemeinschaftszimmer.“

Der 83 Jahre alte André Müller sen. bei einer Lesung im Juli in Mainz
Der 83 Jahre alte André Müller sen. bei einer Lesung im Juli in Mainz
Quelle: Verlag André Thiele


Stundenlang legen sie dann der „Arbeiterklasse“ dar, was sie unter Kommunismus verstehen: „Er ist die Umkehrung aller Dinge; aller Erscheinungen, aller Verhaltensweisen, aller Vorstellungen und aller Zustände“ - aber auf keinen Fall so wie in der DDR! Von der „Arbeiterklasse“ werden sie gelegentlich nur durch die Bitte um noch eine Flasche kaltes Bier, noch einen Korn, noch ein bisschen gekochten Schinken und noch ein paar saure Gurken unterbrochen. Beim Abschied, mit kräftigem Handschlag, nicht ohne eine baldige Wiederkehr in Aussicht zu stellen, leiht sich „die Arbeiterklasse“ wegen der schon fortgeschrittenen Zeit auch noch Geld für ein Taxi, da ihr dummerweise das nötige Kleingeld ausgegangen sei.
 
Als die Kommunarden von Stefan, der wegen eines Ausflugs nicht dabei sein konnte und den Mann beim Heimkommen an der Haustür trifft, mit höllischem Gelächter darüber aufgeklärt werden, dass der doch ein stadtbekannter Penner und Wermutbruder ist, werden sie auf ihn noch wütender als sie es schon vorher waren, weil er bald nach seiner Aufnahme in die WG immer alles besser wusste als die anderen. Dabei hatte das Zusammenleben mit dem Mann, der mit seiner angeblich erfolgreichen künstlerischen Arbeit als Beleuchter im Theater von Bertold Brecht renommierte, zunächst so gut angefangen. 
 
Rettung auf dem Kurfürstendamm
 
Der mitten im Aufsteigen arbeits- und obdachlos gewordene Drucker und jahrelange Zuhälter Stefan Heyer, dem sein wohlhabender „Herr Vetter“ nicht mit einer Bürgschaft zur erträumten eigenen Druckerei verhelfen wollte, hatte Sophie und Deike, die im Sommer ’68 nach einer blutig endenden Vietnamkundgebung verletzt in ein Café am Kurfürstendamm geflüchtet waren, aus reinem Geltungsbedürfnis durch einen raffinierten Trick vor hereinstürmenden Polizisten gerettet und war deshalb anschließend dankbar in ihre Kommune eingeladen worden. Doch nun, nach seinem Lästern über den Reinfall der Genossen auf „die Arbeiterklasse“ und weil er anschließend mit ihnen auch noch in eine heftige Diskussion über das Leid von Frauen und Kindern im Krieg um Biafra gerät, soll er auf Antrag von Wolfi wieder  ausgeschlossen werden.
 
Jahrelang geübt im Umgang mit Frauen auf dem Strich gelingt es ihm aber, das Mitleid von Deike, Christine und Sophie zu erregen, heimlich mit jeder von ihnen zu schlafen und dadurch mit ihrer Hilfe auch die Männer davon zu überzeugen, dass man endlich politisch aktiv werden müsse und könne: durch die Einrichtung einer Raubdruckerei und den Straßenverkauf der Schriften von Wilhelm Reich „zum Gewinn der linken Bewegung“. Selbst Spitzel Bodo („Die Amerikaner bomben in Vietnam, wir bomben die Amerikaner!") lässt sich davon überzeugen, obwohl er zunächst die Meinung vertritt, das Geld, das zur Führung des bewaffneten Kampfes notwendig sei, könne man einfacher durch einen entschlossenen Überfall auf eine Bank oder eine Sparkasse beschaffen. Das nötige Startkapital besorgt Jochen - durch Stefan Heyer, der ihn nach einer äußerst peinlichen Entdeckung in dessen Koffer erpresst - von seinen Eltern.
 
Raubdruckerei in der WG
 
Bald klappert im Gemeinschaftszimmer eine gebrauchte Druckmaschine, die Leistungszwang ablehnenden Kommunarden verwandeln sich in billige Arbeitskräfte des „Herrn Direktor“. Der Verkauf raubgedruckter Schriften auf der Straße, darunter auch bald die Arbeitshefte von Bertold Brecht und die Heide- und Heimatromane von Arno Schmidt, läuft langsam an und wird von Stefan Heyer sogar erfolgreich auf Großverkauf an linke Gruppen in der ganzen BRD umgestellt. Bodo informiert Kommissar Biermann stolz, dass die Gruppe wohl bald genug Geld haben werde, um eine ganze Serie von Bombenanschlägen durchzuführen.
 
Wo der am Ende auf 90.000 DM gewachsene und am Finanzamt vorbeigeleitete Druckereigewinn landet, wo die zwei Bomben gelegt werden, die Kommissar Biermann und Bodo schließlich allein bauen müssen, da sie die Kommune unter dem Beifall von Verfassungsschutz und Öffentlichkeit als Terrorgruppe enttarnen und dadurch die gesamte Linke erfolgreich diffamieren wollen, was aus dem „Herrn Direktor" und den beiden Bombenbauern wird, erfahren die LeserInnen im letzten Drittel des bis Seite 300 spannenden Romans. Nur soviel sei noch verraten: In diesem Teil der Geschichte der Kommune V spielt außer einem etwas verrückten Adligen auch noch ein NPD-Mann eine wichtige Rolle - der „Herr Vetter“, der sich geweigert hatte, Stefan Heyer mit einer Bürgschaft für die Gründung seiner privaten Druckerei unter die Arme zu greifen.
 
Spannend wie Herodot
 
Warum der linke Kölner Verlag Pahl-Rugenstein, der André Müllers Roman 1987 herausgab, ihn aber nach den ersten erfolgreich verkauften Exemplaren und einer angeblich heftigen internen Kontroverse ganz schnell wieder vom Markt verschwinden ließ, ist nicht bekannt. Ob man dort den durch Stefan Heyers falsch erinnerte Darstellung seiner Zusammenarbeit mit Brecht provozierten und vier Absätze umfassenden Essay des inzwischen 83 Jahre alt gewordenen '68er Autors zur Geschichtsschreibung wahrgenommen hatte, ebenfalls. Ich zitiere daraus zwei Sätze - nicht nur, weil ich sein Buch in Sichtweite der antiken dorischen Stadt Halikarnassos gelesen habe, dem Geburtsort Herodots, der inzwischen Bodrum heißt:

Herodot – griechischer Geschichtsscheiber, lebte im 5. Jahrhundert v.u.Z.
Herodot – griechischer Geschichtsscheiber,
lebte im 5. Jahrhundert v.u.Z.
Quelle: KAOS-Archiv
„Die alten Griechen, wir wissen es, standen deshalb auch nicht davon ab, sie (die Geschichtsschreibung, PK) als Kunstgattung anzusehen und in Klio die Muse, die darüber zu wachen hatte, daß selbst bei der Aufzeichnung ruhmwürdiger und nicht alltäglicher Taten nach den Regeln der Kunst verfahren werde. Aber gerade das ist es, was den Herodot so spannend macht, daß ihn die Menschen noch zweieinhalb Jahrtausende später mit nie erlahmender Lust lesen, während die fünfzigtausend Werke, in denen nachgewiesen wird, wie es wirklich war, so langweilig sind, daß meistens nur die Freunde und Geliebten der Verfasser sie überhaupt zur Kenntnis nehmen.“ (PK)

 
Am Rubikon 40 Jahre 1968 - Der Roman zur Revolte André Müller sen.
„Am Rubikon. Die schaudervollen Vorkommnisse in der Kommune V."
Verlag André Thiele 2008, Mainz
ISBN 978-3-940884-03-9
304 S., Klappenbroschur, 14,90 EUR
 
Bücher von André Müller sen. im Eulenspiegel-Verlag:
Anne Willing - Die Wende vor der Wende, Roman
Geschichten vom Herrn B. - Gesammelte Brecht-Anekdoten
Gespräche mit Hacks - 1963 bis 2003
Nur daß wir ein bischen klärer sind - Briefwechsel mit Peter Hacks 1989 und 1990
Shakespeare ohne Geheimnis
Shakespeare verstehen - Das Geheimnis seiner späten Tragödien

Online-Flyer Nr. 157  vom 30.07.2008

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