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Aktueller Online-Flyer vom 12. September 2024  

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Kultur und Wissen
Revolution von 1848-49: Demokrat, Sozialist und Pionier der Arbeiterbewegung:
Andreas Gottschalk, Teil 1
Von Klaus Schmidt

Vielen Zeitgenossen sind die Ereignisse vor 160 Jahren und davor nicht präsent, den meisten fallen Schlagwörter ein: „Hambacher Fest“, Paulskirche, die Badische Revolution... und all dies liegt ja auch furchtbar weit weg – zumal es wohl auch von den wenigsten Geschichtsschreibern der BRD und ihrer Vorgänger beabsichtigt war, eine revolutionäre Kultur zu etablieren. Der Historiker und Theologe Klaus Schmidt beschreibt die Revolutionsjahre von 1848 in Köln und die Geschichte Andreas Gottschalks – die Redaktion.

Andreas Gottschalk 1848 zeitgenössische Darstellung
Gottschalk 1848,
zeitgenössische Darstellung                  
Als der Arzt Dr. Andreas Gottschalk am 9. September 1849 auf dem Kölner Friedhof Melaten beerdigt wird, haben sich Tausende dort versammelt. Denn Gottschalk, Protestant jüdischer Herkunft, der einen Tage zuvor, gerade 34-jährig, der Cholera zum Opfer gefallen war, ist nicht nur Arzt gewesen. Er gehört zu den Vätern der deutschen Arbeiterbewegung, hatte gerade erst den Kölner Arbeiter-Verein gegründet – mit 5 000 Mitgliedern der größte Deutschlands.

Die Menschen, die Gottschalk jetzt auf seinem letzten Weg begleiten, trauern nicht nur, sie sind auch empört: Der konservative evangelische Pfarrer ist aus Protest gegen den religiösen Sozialisten unter einem Vorwand nicht zur Beerdigung gekommen. Die Zeitung des Arbeiter-Vereins reimt später:

„Senkt die Lade in die Erde! Ist der Pfaff zu Haus geblieben?
Ja, er wollte das Begräbnis nicht auf diese Stund' verschieben.
Aber jene lichten Thränen auf den braunen ernsten Wangen
Sind ein bess'rer Pfaffensegen – schau sie rings im Kreise prangen ...“


Andreas Gottschalk wird als fünftes Kind der Sibilla Levinboch aus Sittard und ihres Mannes, des Talmud-gelehrten Schächters Joseph Gottschalk, 1815 in Düsseldorf geboren. Nach dem Umzug der Familie kommt er in Köln aufs Gymnasium. In Bonn studiert er Medizin, daneben Altphilologie, Logik, Psychologie und englische Literatur. Sein Studium muss er sich – zum Beispiel durch Übersetzungen – selbst verdienen. Mit einer Arbeit über den Blutandrang zum Gehirn erreicht er 1840, auch als Jude unangefochten, seine Promotion. Er verfasst medizinische Aufsätze und wird korrespondierendes Mitglied einer medizinischen Gesellschaft in Brüssel. 1842 eröffnet er in Köln eine Praxis, arbeitet auch als Chirurg und konzentriert sich von vornherein auf die Behandlung armer Patienten, die er meist kostenlos behandelt.

Rheinische Zeitung von 1842 die Großmutter der NRhZ
Rheinische Zeitung von 1842 –                        
die Großmutter der NRhZ
Politisiert wird er vor allem durch den drei Jahre älteren aus Bonn stammenden Moses Hess, den „Kommunistenrabbi“ und späteren Wegbereiter des Zionismus. Im Januar 1842 gehört dieser zu den Mitbegründern der Rheinischen Zeitung, deren Chefredakteur nach monatelangem Hin und Her der 24-jährige Karl Marx wird. (1843 schon verbietet die preußische Zensur das Blatt, und Marx geht nach Paris).

Auf einem Ärztekongress 1846 in Bonn streitet Gottschalk zusammen mit sozial engagierten Kollegen für die Abschaffung des Promotionszwangs und eine effektivere Unterstützung der Armen. 1847 schließt er sich mit Freunden in einem sozialistischen Zirkel zusammen und schreibt an Hess, der zu dieser Zeit schon im Pariser Exil lebt: „Endlich ist's uns gelungen, ein Kränzchen hier einzurichten, das nach meinem Geschmack ist ...Zweimal in der Woche kommen wir zusammen, lesen und singen und disputieren und treiben den Detailhandel der Propaganda ...“

Der „Kölner Rathaussturm“

Bourbonenkönig Louis Philippe
Bourbonenkönig Louis Philippe 1842

Am 27. Februar 1848 muss in Paris König Louis Philippe abdanken. In Kölns Kaffeehäusern w ird die Marseillaise gespielt und das Heil dir im Siegerkranz“, die Hohenzollern-Hymne, ausgepfiffen. In der ganzen preußischen Rheinprovinz fordern die Bürger jetzt eine freie Verfassung, Volkssouveränität und die Verwirklichung der ersehnten deutschen Einheit.

Ein Kreis von Demokraten, in dem Gottschalk rasch eine führende Rolle übernimmt, trifft sich seit Anfang März in den Stallungen eines Gasthauses, die man zum Versammlungslokal umgeräumt hat. 130 Personen, überwiegend Handwerker, berichtet ein Spitzel, finden hier zusammen, um politische Aktionen vorzubereiten.

Am 3. März diskutiert der Kölner Gemeinderat einen Petitionsentwurf. Der Vereinigte Landtag soll einberufen, die Zensur aufgehoben werden und der Deutsche (Fürsten-)Bund eine Volksvertretung erhalten. Doch die Ratsherren sind ängstlich: Weitergehende Forderungen nach Gewährung einer Verfassung mit umfangreichem Wahlrecht und Versammlungsfreiheit lehnen sie „für jetzt noch“ ab.

An die 5000 Menschen, überwiegend Handwerksgesellen in Sonntagskleidung – Gottschalk an ihrer Spitze – haben sich vor dem Rathaus ve rsammelt. Sie wollen den Rat dazu bringen, sechs „Forderungen des Volkes“ zu erfüllen, die auf Flugblättern von Hand zu Hand gehen. Dazu gehört das allgemeine Wahlrecht, Presse- und Versammlungsfreiheit, „Schutz der Arbeit und Sicherstellung der menschlichen Lebensbedürfnisse für alle“ und die „vollständige Erziehung aller Kinder auf öffentliche Kosten“. Auf einigen Blättern steht außerdem noch „Friede mit allen Völkern“.

Köln Alter Markt Rathaus Rathausturm um 1850
Blick auf das Rathaus vom Alter Markt in Köln um 1850

Gottschalk wird vorgelassen, der Gemeinderat will die Forderungen nur in abgeschwächter Form akzeptieren. Teilweise lehnt er sie ganz ab. Gottschalk wird deutlich: „Was wir nicht wollen, ist die Herrschaft einer Oligarchie, einer Camarilla der Börsenmänner und Geldspekulanten.“ Inzwischen drängen die Menschen nach. Oberbürgermeister Adolf Steinberger plädiert für Vertagung, es kommt zu Tumulten.

Gottschalk bittet die Menge, sich zurückzuziehen. Sonst würde man „den Schein geltend machen, als habe der Gemeinderat unter Zwang beraten“. Plötzlich Trommelwirbel, Schreie – Infanterie zieht auf. Die Menschen stürzen nach den beiden noch freien Ausgängen des Platzes, einige werden niedergetreten, ein Mann wird verhaftet. Gleichzeitig verbreitet sich das Gerücht, man habe auch Gottschalk festgenommen.

1848 Barrikaden in Berlin Stich: Theodor Hosemann
Einige Wochen später Barrikaden in Berlin     
Stich: Theodor Hosemann
Steinberger befürchtet weitere Eskalationen. Er erreicht, dass die Soldaten abziehen. Einer der Ratsherren hat sich inzwischen auf dem Rathausturm im Stroh versteckt, zwei weitere sind in Panik aus einem Saalfenster gesprungen, wobei sich der eine beide Beine brach, das eine gar zweimal. Am nächsten Tag reagiert Regierungspräsident Karl Otto von Raumer mit scharfen Verdikten gegen die aufrührerischen Bürger. Das „in unserer Provinz unerhörte Attentat“ müsse geahndet werden. „Die friedliebenden Bürger Kölns“, so hofft er, würden mit ihm „diese Verletzung des Gesetzes und der Ordnung beklagen“. Gottschalk lässt er „wegen Aufreizung zum Aufruhr“ und „Stiftung einer verbotenen Verbindung“ verhaften.

Die revolutionäre Bewegung hat inzwischen ganz Deutschland erfasst. In Wien wird Fürst Metternich gestürzt, in Berlin zwingen die Barrikadenkämpfer am 18. März das Militär in die Defensive; Friedrich Wilhelm IV. gibt zum Schein nach und verspricht Reformen. In Solingen und Elberfeld kommt es zu Angriffen auf Fabriken, in Krefeld zur Erhebung der Seidenweber. Und in Köln, einer Stadt mit damals 94 800 Einwohnern, demonstrieren am 20. März mehr als 10 000 Menschen für Freiheit und Bürgerrechte.

Lesen Sie in der kommenden Ausgabe die Fortsetzung von Klaus Schmidts Artikel über Andreas Gottschalk!


Aber bis dahin ist ja noch ein wenig Zeit, zum Beispiel,
um am Samstag, den 1.November die Veranstaltung
„90 Jahre Novemberrevolution – Gestern
Heute Morgen
zu besuchen, auf der auch Klaus Schmidt referiert.

RLS 90 Jahre Novemberrevolution
                                                    
Die Veranstaltung der Rosa-Luxemburg Stiftung NRW, unterstützt durch zahlreiche Workshops anderer Organisationen und Initiativen, schafft Bezüge zur aktuellen Situation, die durch eine neoliberale und imperialistische Politik, soziale und ökologische Widersprüche mit Massenelend und Migrationsströmen, massiver Aufrüstung und militärischen Interventionen geprägt ist – um schließlich einen Bogen in die Zukunft zu schlagen und die Notwendigkeit und Möglichkeit grundlegender gesellschaftlicher Umwälzungen zu diskutieren.

„90 Jahre Novemberrevolution“
Samstag, 1. November ab 9.30 Uhr
Alte Feuerwache,
Köln, Melchiorstr. 3


klaus schmidt Foto: Andreas Neumann
Foto: Andreas Neumann           
Klaus Schmidt, geb. 1935, ist Theologe, Historiker und Publizist. In den Siebziger Jahren war er evangelischer Studentenpfarrer, Vorsitzender des außerparlamentarischen „Republikanischen Clubs“ und Mitwirkender beim Politischen Nachtgebet in Köln.
Seine Bücher zu 1848/49: „Gerechtigkeit, das Brot des Volkes. Johanna und Gottfried Kinkel. Eine Biographie.“ Stuttgart 1996;
„Kanzel, Thron und Demokraten. Die Protestanten und die Revolution 1848/49 in der preußischen Rheinprovinz.“ Köln 1998;
„Mathilde und Fritz Anneke. Aus der Pionierzeit von Demokratie und Frauenbewegung: Eine Biographie.“ Köln 1998; Franz Raveaux.
„Karnevalist und Pionier des demokratischen Aufbruchs in Deutschland.“
Köln 2001; „Andreas Gottschalk. Jüdischer Protestant, Armenarzt und Pionier der Arbeiterbewegung.“ Köln 2002.
Jüngste Veröffentlichung: „Glaube, Macht und Freiheitskämpfe. 500 Jahre Protestanten im Rheinland“, Köln 2007, 2. Aufl. 2007.

(CH)






Online-Flyer Nr. 170  vom 29.10.2008

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