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Aktueller Online-Flyer vom 24. April 2024  

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Arbeit und Soziales
Deutschlands demokratischer Schein
Zeit für politischen Streik!
Von Franz Kersjes

Der Druck auf die abhängig Beschäftigten wird immer stärker. Gleichzeitig nehmen die Angriffe auf die erkämpften sozialen Standards zu. Das zwingt die Gewerkschaften zu Auseinandersetzungen auch außerhalb des Tarifrechts. Schließlich können die Agenda 2010 mit der Hartz-Gesetzgebung oder die Rente mit 67 nicht durch Tarifverträge verhindert werden. Die Forderung nach politischem Schreikrecht wird deutlich lauter. An einer öffentlichen Petition kann man sich schon jetzt bis 26. November beteiligen.

Arbeitslosigkeit, Sozialabbau, zunehmende Armut sind von Politikern zu verantworten und von den Renditeerwartungen der Kapitalbesitzer bestimmt. Und wenn der Gesetzgeber die Finanzierung des Gesundheitssystems teilweise ausschließlich abhängig Beschäftigten aufbürdet, dann hat das für die Einkommensverteilung zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern die gleichen gravierenden Folgen wie ein Lohntarifvertrag. Die koordinierte Politik der Konzerne und Unternehmerverbände mit Unterstützung aus den politischen Parteien hat mit dem Sozialstaatsgebot in unserer Verfassung absolut nichts mehr gemein. Da Betroffenenkritik und Gewerkschaftsproteste ungehört verhallen, müssen sich abhängig Beschäftigte auf deutlichere Weise Gehör verschaffen: mit politischem Streik!



Das große Vergessen: 1918 war der Generalstreik für die SPD noch wichtig
Quelle: NRhZ-Archiv

Da der politische Streik in den meisten anderen Ländern der Europäischen Union zulässig ist, sollte er in Deutschland in gleicher Weise Selbstverständlichkeit der politischen Kultur sein. „Es gehört zur politischen Auseinandersetzung in einer offenen Gesellschaft, dass diejenigen, die im Wesentlichen nur von ihrer Arbeitskraft leben und als solche in wirtschaftlicher und sozialer abhängiger Stellung sind, das einzige Druckmittel, das sie haben, nämlich die kollektive Arbeitsverweigerung, auch einsetzen können müssen, um ihren politischen Willen zum Ausdruck zu bringen", sagte Detlef Hensche, ehemaliger Vorsitzender der IG Medien.

Richterrecht gegen Bürgerrechte

Die Arbeiter haben das Streikrecht einst mühsam erkämpft. Es galt, wie in anderen Ländern, unbegrenzt auch im Deutschland der Weimarer Republik zur Durchsetzung politischer Forderungen. Der so genannte politische Streik wurde erst in der Bundesrepublik durch die Rechtsprechung verboten. Auslöser für dieses Verbot war im Jahr 1952 ein Zeitungsstreik, zu dem die IG Druck und Papier aus Anlass der dritten Lesung des Betriebsverfassungsgesetzes aufgerufen hatte. 30.000 Beschäftigte im grafischen Gewerbe beteiligten sich an diesem 24-Stunden-Streik. In der Folge verklagten 21 Zeitungsverlage die Gewerkschaft und forderten Schadensersatz. Doch in Wirklichkeit ging es um viel mehr: Die Juristen sollten die „Kampfmaßnahme Streik" generell auf ein Minimum beschränken.


1968: Alte Rechte sollte neu erkämpft werden. Der Erfolg war mäßig.
Foto: Günter Zint – panfoto

Es gibt jedoch keine Gesetzgebung, die politische Streiks in Deutschland verbietet. Das Grundgesetz schützt in Artikel 9, Absatz 3 neben der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie auch ausdrücklich Arbeitskämpfe, die „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" geführt werden. Das Streikrecht enthält im Verfassungstext keineswegs die Einschränkung, die heute als „Verbot politischer Streiks" durch bestimmte Interessen ins Bewusstsein der Menschen gepflanzt wird.

Die Einschränkungen des Streikrechts wurden erst durch Arbeitsgerichtsentscheidungen, durch so genanntes „Richter-Recht",  vorgenommen. Danach ist ein Streik verboten, wenn Kampfzieladressat und Kampfmitteladressat nicht dieselben sind. Das wäre der Fall, wenn ein Streik sich gegen die Regierung richtet, aber die Betriebe treffen und schädigen würde. Der erste Präsident des Bundesarbeitsgerichtes, Hans Carl Nipperdey, der bereits unter den Nazis sein „Recht" gesprochen hatte – und nach dem heute noch eine Straße hinter dem Amtsgericht Köln benannt ist – formulierte den bis heute dominierenden Standpunkt, nach dem politische Streiks „Eingriffe in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb" und deshalb rechtswidrig seien – zum Beispiel Streiks gegen die Rente mit 67. Diese Logik stellt ausdrücklich das Recht, ungehindert Geschäfte und Profite machen zu dürfen, über das Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und damit der großen Mehrheit des Volkes, für ihre sozialen Bedürfnisse zu kämpfen.

Streikrecht in Europa - in Deutschland unterdrückt

Damit hat Deutschland das restriktivste und damit undemokratischste Streikrecht in Europa. Die deutsche Rechtsprechung schränkt das Streikrecht auf Ziele ein, die nur tariflich geregelt werden können. Im europäischen Vergleich sind politische Streiks, die sich gewöhnlich gegen die Regierungspolitik richten, neben Deutschland nur in Dänemark und Großbritannien verboten. In Italien, Frankreich, Spanien, Portugal und Österreich haben in den vergangenen Jahren Generalstreiks oder ähnliche Aktionen stattgefunden, die sich gegen Rentenreformen, Sparpakete oder gegen die Aufweichung des Kündigungsschutzes richteten. In weiteren europäischen Ländern hat es eine Fülle von politischen Streiks bis hin zu Generalstreiks gegeben. Was in vielen anderen Staaten selbstverständlich ist, wird in Deutschland durch Politik und Rechtsprechung unterdrückt.


Demonstration heute: Nur noch „Latsch-Demo" ohne Konsequenzen?
Foto: arbeiterfotografie.com

Das faktische Verbot des politischen Streiks widerspricht nicht nur den Interessen der Bevölkerungsmehrheit, sondern auch der Europäischen Sozialcharta. Und die ist schon vor mehr als 30 Jahren von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt worden. Der zuständige Ausschuss unabhängiger Sachverständiger im Europarat hat die deutschen Verstöße bereits mehrfach gerügt. Das Streikrecht sei ein Grund- und Menschenrecht. Außerdem ist von der Bundesrepublik Deutschland das entsprechende völkerrechtliche Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu beachten, zumal der Sachverständigenausschuss der ILO die deutsche Rechtsprechung zum Streikrecht schon mehrfach beanstandet hat.
Die meisten Menschen in Deutschland wollen ihr Freiheitsrecht auch nutzen. Etwa 80 Prozent wünschen eine grundlegende gesellschaftspolitische Wende;  denn an die Legende von der „sozialen Marktwirtschaft" glaubt kaum noch jemand.   

Petition unterstützen!

Früher hat es immer wieder Initiativen zur Akzeptanz politischer Streiks gegeben. Das „Recht auf Generalstreik" versuchte im vergangenen Jahr die Bundestagsfraktion DIE LINKE zu beantragen. Sie wollte die Bundesregierung auffordern, dem Bundestag die gesetzlichen Maßnahmen für die Zulässigkeit von Generalstreiks in Deutschland zuzuleiten. Der Antrag wurde nach Beratung in den zuständigen Ausschüssen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Die Mitglieder der SPD-Fraktion im Ausschuss für Arbeit und Soziales vertraten die Auffassung, dass ein Arbeitskampf rechtswidrig sei, der zur Durchsetzung eines tariflich nicht regelbaren Zieles geführt werde. Ein rechtmäßiger Streik müsse sich gegen den wenden, der die Forderung auch erfüllen könne.

Eine öffentliche Petition zum Recht auf politischen Streik hat der Wiesbadener IG BAU-Sekretär Veit Wilhelmy beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages eingereicht. In der Petition wird beantragt, der Deutsche Bundestag solle den Gewerkschaften das Mittel des politischen Streiks bzw. des Demonstrationsstreiks ermöglichen. Der Antragsteller bezieht sich auf das Grundgesetz, die Europäische Menschenrechts- und Sozialcharta sowie auf das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsor-ganisation zur Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Bis zum 26. November 2008 kann jede/r das Anliegen durch Mitunterzeichnung unterstützen. Der Petitionstext steht auf der Internet-Seite des Deutschen Bundestages.

Das Kampfmittel des politischen Streiks darf nicht allein den Politikern und Juristen überlassen werden. Die Durchsetzung von Rechten erfordert Macht! Gewerkschaften werden mächtig durch die Kampfbereitschaft ihrer Mitglieder und solcher, die es werden könnten. Dazu gehören politische Aufklärung und die Bereitschaft, für die gemeinsamen Ziele einzutreten. Ein gutes Beispiel gaben in der jüngeren Vergangenheit vor allem viele Mitglieder der IG Metall. Anfang 2007 demonstrierten mehr als 300.000 Metaller während ihrer Arbeitszeit (!) bundesweit bis zu vier Stunden gegen die Rente mit 67. Die Proteste reichten leider nicht aus, um die Rentenpläne der Regierung zu verhindern. Deshalb bleibt die Frage: Wo waren eigentlich die Mitglieder der anderen Gewerkschaften?

Informationen zu einem Tabuthema

Gewerkschaften, Parteien und Institutionen haben bisher nichts veröffentlicht, das den politischen Streik behandelt und in verständlicher und praxisnaher Form zugänglich gemacht hätte. Der politische Streik wird wie ein Tabu behandelt, also gar nicht. Sogar in den Gewerkschaften, die es zuallererst anginge, wird dieses Tabu erstaunlicherweise kaum diskutiert.

Das ändert sich mit einer Materialsammlung, die von Veit Wilhelmy, Gewerkschaftssekretär der IG BAU, herausgegeben wurde. Im Mittelpunkt steht einerseits die Frage, ob der politische Streik ein berechtigtes Kampfmittel gegen den so genannten Raubtierkapitalismus sein könnte; auf der anderen Seite wird erörtert, ob er (noch) als illegale Form der politischen Auseinandersetzung gilt.

Die Zusammenstellung bietet Material zur politischen Information und zur Erörterung eines Themas, das zuallererst in den Gewerkschaften diskutiert werden sollte. „Mit der vorliegenden Broschüre hat Veit Wilhelmy ein lange vernachlässigtes Thema theoretisch fundiert, aber auch praxistauglich besetzt, das künftig in den Gewerkschaften und auf der Linken einschließlich der linken Sozialdemokratie größere Beachtung finden wird." So äußerte sich der Politologe Christoph Butterwegge von der Uni Köln. Er hält es für geboten, das Thema „Politischer Streik" endlich zu diskutieren und damit „eines der letzten Tabus unserer Gesellschaft zu durchbrechen". (HDH)

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Veit Wilhelmy: Der politische Streik – Materialien zu einem Tabu
fh-Verlag Frankfurt, Band 143
A4, 148 Seiten, 2-farbig
erschienen 2008
978-3-940087-17-1
16,00 Euro incl. 7 % USt
zzgl. Versandkosten











Online-Flyer Nr. 172  vom 12.11.2008

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