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Inland
Wie sich vier hessische SPD-Abgeordnete in die Geschichte einschrieben
Der Hessenkrimi
Von Wolf Wetzel

Am 18. Januar wird in Hessen noch einmal gewählt. Die Wahlwiederholung ist der traurige Endpunkt eines schlimmen Debakels der gesamten SPD, nachdem am 3.11.2008 vier SPD-Abweichler eine rot-grüne Koalition - mit Duldung der LINKEN - zu Fall gebracht hatten. Wer steckt hinter den "vier Musketieren"? Was ist von deren last-minute-Gewissen zu halten? Wolf Wetzel legt Beweise dafür vor, dass das, was wie eine Gewissensnot aussehen sollte, lange eingefädelt und gut geplant war – u.a. zugunsten des von Andrea Ypsilanti und einem großen Teil der hessischen Wähler abgelehnten FRAPORT-Flughafenausbaus. – Die Redaktion.

Juergen-Walter
FRAPORTs Mann bei der SPD –
Jürgen Walter | Quelle: spdnet.sozi.info
Die Landtagswahlen vom 27.Januar 2007 endeten mit einer parlamentarischen Patt-Situation: weder die CDU um Ministerpräsident Koch war zusammen mit dem Wunschpartner FDP in der Lage eine Regierungskoalition zu bilden, noch hatte die siegreiche Herausfordererin Andrea Ypsilanti von der SPD eine stabile Mehrheit für eine rot-grüne Koalition. Die SPD hatte mit einem Linkskurs und Ausgrenzungserklärungen gegen die LINKE versucht, diese Partei durch das Gewinnen von deren potenziellen WählerInnen aus dem Landtag draußen zu halten. Die LINKE zog jedoch mit knappen 5,1 Prozent gleichzeitig mit Niedersachsen erstmals in Parlamente westdeutscher Bundesländer ein. Nach einem harten Wahlkampf zwischen "rechtem" und "linkem" Lager und dem dezidierten Wahlziel der SPD, Koch abzulösen, war eine rechnerisch mögliche große Koalition ausgeschlossen. Nach den Turbulenzen um den ersten Versuch von Andrea Ypsilanti, die Bedingungen für eine Mehrheit links von CDU / FDP auszuloten, wurden das sogenannte "Magdeburger Tolerierungsmodell" vorerst zurückgestellt. Roland Koch blieb daher mit seiner CDU-Regierung geschäftsführend im Amt, nachdem in der konstituierenden Sitzung am 5.April keine Gegenkandidatin vorgeschlagen wurde.
 
Die hessische SPD - einer muss der Bluthund werden
 
Als der ehemalige Bundeswirtschaftsminister der SPD Wolfgang Clement in der "Welt am Sonntag" verkündete, dass er vor der Stimmabgabe für Ypsilanti warne, weil sie zum Beispiel den Ausstieg aus der Atomenergie wolle, wurde deutlich, dass ein "wirtschaftsfreundlicher, konservativer" Parteiflügel in Verbindung mit einer neoliberalen SPD-Kamarilla in der Wirtschaft den Kurs des überwiegenden Teils der hessischen SPD heftig bekämpft.
 
Der hessische Kronprinz dieses Bündnisses in der SPD aus Konservativismus, Mittelständigkeit und Marktradikalismus war Jürgen Walter, der nach dem Willen dieses Bündnisses 2006 SPD-Landesvorsitzender und Spitzenkandidat für die Landtagswahlen 2008 werden sollte, auch nach Wunsch seiner politischen Ziehväter Gerhard Bökel, ehemaliger Innenminister in Hessen, und Lothar Klemm, ehemaliger SPD-Wirtschaftsminister in Hessen - heute Aufsichtsratsmitglied der FRAPORT-AG. Walter blieb stellvertretender Landesvorsitzender und war im Schattenkabinett Ypsilantis als Innenminister vorgesehen. Gegen die anfängliche Berichterstattung der Massenmedien und frühe Umfragewerte gelang es der SPD mit einem glaubwürdigen linksreformistischen Kurs fast acht Prozent Wähler hinzuzugewinnen. Andrea Ypsilanti war daher nach der Landtagswahl innerparteilich gestärkt, und vorerst noch nicht angreifbar.

boekel
Jürgen Walters Ziehvater
– FRAPORT-Aufsichtsrat
Gerhard Bökel | Quelle:
www.spd-fraktion-hessen.de
Als sie dann ankündigte, eine Minderheitsregierung mit der Tolerierung der LINKEN anzustreben, und der Bundesvorsitzende Beck dies duldete, begann der mediale und innerparteiliche Kampf um die Dominanz in der SPD. Im März wurden Grundsatzerklärungen vom rechten Seeheimer Kreis und dem neoliberalen "SPD-Netzwerk" gegen eine Zusammenarbeit mit der LINKEN auch in den Länderparlamenten verabschiedet. Jürgen Walter versuchte auf dem Landesparteitag am 29.3.2008 für die Option einer großen Koalition zu werben, und erntete dafür Buhrufe und wenig Beifall. In Hessen erstarrten die Fronten in und zwischen den Parteien nach dem Motto "wer sich zuerst bewegt, hat verloren".
 
Daran änderten einzelne Ausfälle von Politikern wie Jürgen Walter nichts (der im Juni in der Bild-Zeitung für eine große Koalition warb), deren Zweck ausschließlich darin bestand, den innerparteilichen Gegner aus seiner Stellung zu locken. Allerdings bewegte sich Hessen auf einen seiner größten innenpolitischen Konflikte zu: der Ausbau des Frankfurter Flughafens.
 
Der Flughafen Frankfurt als "nationale Aufgabe"
 
Kurz vor der Landtagswahl hatte der CDU-Wirtschaftsminister noch den Planfeststellungsbeschluss für eine der größten Baustellen Europas - die Nordwestlandebahn im Kelsterbacher Wald - erlassen, der der FRAPORT als Bauherrin durch den Sofortvollzug die Möglichkeit gab, mit den vorbereitenden Arbeiten für die Rodung von 250 Hektar Wald zu beginnen. Seit dem Sommer 2008 begannen Arbeitstrupps der FRAPORT mit Vermessungen, spürten Kampfmittel auf und holzten das Unterholz ab: die FAG will noch vor dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens im Sommer 2009 mit der Rodung und Baubeginn vollendete Tatsachen schaffen.
 
Das Flughafenausbau-Kartell fürchtet in Erinnerung an die Tiefe und Breite der politischen Auseinandersetzungen um die Startbahn West 18 eine unkontrollierbare Dynamik der Kosten des Konflikts. Der Ausbau ist mit einem geschätzten Investitionsvolumen von 4 bis 8 Milliarden Euro Deutschlands größtes Infrastrukturprojekt. Nachdem sich weder durch das Mediationsverfahren, noch im Regionalen Dialogforum der Konflikt entschärfte, sich weder der BUND seine Klage für 2,5 Millionen Euro abkaufen ließ, noch die Kommunen in Geheimverhandlungen zum Klageverzicht bewegt werden konnten, stehen nun insgesamt 260 Klagen von Kommunen, BUND und Privatpersonen gegen den Planfeststellungsbeschluss des Wirtschaftsministeriums an, von denen ausgewählte Musterklagen im Sommer 2009 vor dem Verwaltungsgerichtshof verhandelt werden sollen.

Kelsterbach Wald Baumbesetzung
In der Nacht zum 28.5.08 wurden Bäume im Kelsterbacher Wald besetzt, …
Quelle: www.igel-bi.de


Dem Ausbau-Kartell steht vor Gericht ein juristisch und wissenschaftlich gleichwertiger oder überlegener Gegner gegenüber, der zusätzlich mit den seit Oktober rückläufigen Fluggast- und Frachtgutzahlen betriebswirtschaftlichen Rückenwind erhält. Die politische Baugenehmigung der CDU-Landesregierung, die schon das Forstgesetz viermal änderte, um der FRAPORT gefällig zu sein, beinhaltete nicht nur den Sofortvollzug, sondern schuf gegen die Ergebnisse des Mediationsverfahrens und den parteiübergreifenden Befriedungskonsens "Kein Ausbau ohne Nachtflugverbot" aus dem Jahr 2000 ein Einfallstor, um das Nachtflugverbot zu torpedieren, indem es 17 Flüge in der Kernzeit von 23 bis 5 Uhr genehmigte, und in den Randzeiten bis zu 150 Flüge gestattete.
 
Der CDU wurde von den Ausbaugegnern "Wortbruch" vorgeworfen, eine Vokabel, die wenig später in anderen Zusammenhängen Karriere machen wird. Als am 27.1.2008, etwas mehr als einen Monat nach der Baugenehmigung, Andrea Ypsilanti die Siegerin der Landtagswahlen war, titelte die FAZ "Die Wahlverlierer heißen FRAPORT und K+S". Für das Ausbau-Kartell steht "die wichtigste landespolitische Entscheidung" (Roland Koch) auf dem Spiel, und gegen diese Gefahr entwickelte sich jetzt eine politische Intrige gegen die Linke in der hessischen SPD, mit einer durchaus gewollten bundespolitischen Signalwirkung.
 
Die politische Intrige gegen die linke SPD
 
Im Juni 2008 wurde bekannt, dass die Gutachten, die SPD und die Grünen unabhängig voneinander in Auftrag gegeben haben, um zu untersuchen, ob aus dem Parlament heraus Möglichkeiten bestehen, den Planfeststellungsbeschluss für den Flughafenausbau zu verändern, vorlagen.
 
Beide Gutachten kamen zum Ergebnis, dass nur eine Regierung begrenzte Möglichkeiten hat, die Baugenehmigung zu beeinflussen. Noch vor einer Stellungnahme der SPD-Fraktion meldete sich Jürgen Walter im Landtag zu Wort und sagte, dass die SPD den Planfeststellungsbeschluss für rechtmäßig hält und juristisch nicht angreifen werde, was insbesondere bei den Grünen für Überraschung sorgte.

    Kelsterbach Wald Baumbesetzung
… um die drohende Rodung für den Bau der geplanten FRAPORT-Landebahn Nordwest zu verhindern. | Quelle: www.igel-bi.de

Jürgen Walter, den man durchaus "FRAPORTs Mann bei der SPD" nennen könnte, hat nicht zum ersten Mal auf der Seite von CDU und FDP Position bezogen, und wird mehrmals in Regierungs- oder Presseerklärungen der CDU wegen seiner Haltung zum Flughafenausbau lobend erwähnt. Für die Grünen waren die Ergebnisse der Rechtsgutachten Anlass, das rot-rot-grüne Tolerierungsmodell in den Raum zu stellen.
 
Die CDU reagierte umgehend mit Warnungen an SPD und die Grünen, den weiteren Ablauf des Flughafens nicht in Frage zu stellen. Es gehört nicht viel Fantasie dazu sich vorzustellen, dass diese Nachrichten aus dem Landtag beim Ausbau-Kartell beunruhigend wirkten. Seit Ende Mai steht im Kelsterbacher Wald zusätzlich noch ein Hüttendorf, und für eine Politik, die alle möglichen Risiken möglichst kostensparend ausschalten wollte, wäre eine "rot-grüne" Minderheitsregierung in der Phase des eskalierten Konflikts bei Rodungsbeginn im Februar 2009 ein großer Unsicherheitsfaktor.
 
Die FRAPORT plant nach dem Eilverfahren im Januar - Ausbaugegner haben auf vorläufigen Rechtsschutz geklagt - den Wald zu roden. Weil sie innerhalb der Wachstumsperiode von März bis November nicht roden darf, fürchtet sie jede weitere Verzögerung durch die Gerichte. Dieses Bedürfnis des Ausbau-Kartells nach "Verfahrenssicherheit" trifft sich mit den innerparteilichen Interessen des "rechten" Flügels in der SPD - und die personelle Schnittstelle dieser Interessen ist Jürgen Walter.
 
Anfang August kam es zu einem "Geheimtreffen" von Vertretern beider Flügel: Jürgen Walter, Nina Hauer, Carmen Everts, Gerrit Richter und Nancy Faeser (rechter Flügel) mit Andrea Ypsilanti, Gernot Grumbach und Norbert Schmitt (linker Flügel). Die Grundaussage des "rechten Flügels" ist überraschend: sie sehen keine Alternative mehr zum Tolerierungsmodell, stellen aber Bedingungen an die Zusammenarbeit mit der LINKEN. Diese Kriterien sollten gemeinsam von Jürgen Walter und Andrea Ypsilanti vorgestellt werden. Man stellte gemeinsam einen innerparteilichen Fahrplan auf. In einem Interview mit der FAZ vom 16.8.2008 rechtfertigte Jürgen Walter diesen Gesinnungswandel damit, dass dies die "einzige Möglichkeit der Regierungsbildung" wäre. Carmen Everts wurde Mitautorin des Kriterienkatalogs, der der LINKEN vorgelegt werde solle, und Bedingungen an eine Zusammenarbeit formulierte, wie ein Bekenntnis zu Demokratie und Verfassungsschutz und eine "Distanzierung vom SED-Unrecht".

Das last-minute-gewissen - eine schmierenkomödie powerd by spd
Quelle: wolfwetzel.wordpress.com

Nach allen Äußerungen, die Jürgen Walter, Silke Tesch und Carmen Everts inzwischen auf der Pressekonferenz am 3. November (Die Zeit vom 4.11. "Gestern sagte Frau Everts, sie habe insgeheim gehofft, die Linkspartei würde diesen Katalog ablehnen" ), in der ARD-Sendung "Beckmann" am 10.11. oder in Interviews mit der Frankfurter Rundschau vom 15.11.2008 machten, in denen sie ihre "Hoffnung auf das Scheitern der Koalitionsverhandlungen, Ausstieg bei Abschluss dieses Prozesses, in den Koalitionsverhandlungen"(Carmen Everts) oder ihre "Suche nach den Sollbruchstellen" (Silke Tesch bei Beckmann; wortgleich nannte der FDP-Vorsitzende Hahn Anfang September den Flughafenausbau "die Sollbruchstelle" der Koalitionsverhandlungen von SPD und Grünen, FAZ 4.9.08) verrieten, und als politisches Ziel ihrer "Aktion schwarzer Montag" eine große Koalition angaben ("Wir wollten eine Regierung ohne Beteiligung der Linkspartei", "Wir wollten keine Neuwahlen", Dagmar Metzger, Carmen Everts), erhärtet sich die Vermutung, dass zumindest diese Gruppe, jedoch nicht der ganze "rechte" Flügel, eine Doppelstrategie fuhr: die linke Parteiführung zu Koalitionsverhandlungen mit Grünen und Tolerierungsgesprächen mit der LINKEN ermutigen, um sie in diesen Verhandlungen an den Widersprüchen zwischen und in den beteiligten Parteien scheitern zu lassen.
 
Das Kalkül dieser Gruppe war vermutlich richtig, dass nur nach diesem Scheitern die Möglichkeit einer großen Koalition wieder offen gestanden hätte, rechtzeitig vor dem anstehenden Konflikt um die Rodung und den Flughafenausbau - deswegen stand die Gruppe unter Zeitdruck, und konnte nicht auf ihre Chance warten, wenn die Minderheitsregierung von Grünen und SPD im politischen Geschäft wäre. Zur Überraschung dieser Gruppe nahmen die Verhandlungen jedoch zügig alle Hürden - die LINKEN akzeptierte den Kriterienkatalog der SPD, und innerhalb der Grünen und der SPD stellten sich in den Gremien die Parteien mit überragenden Mehrheiten hinter den Linksregierungskurs. Die Hoffnungen der Gruppe mussten sich zuletzt auf den 23.10.2008 konzentrieren, den letzten Tag der Koalitionsverhandlungen, an dem der Flughafenausbau diskutiert und die Ressorts personell besetzt werden sollten.
 
Mit den Worten "Wir Sozialdemokraten sind nicht angetreten, um Hessen unter Naturschutz zu stellen" ging Jürgen Walter als Mitglied der Verhandlungsdelegation forsch und auf Konfrontationskurs gegen die Grünen in die Verhandlung - und kam am Ende als großer Verlierer wieder heraus. Weder hatte er das Wirtschaftsministerium erhalten, mit dem er Herr über das Baugenehmigungsverfahren gewesen wäre, er hatte die Koalition nicht zum Scheitern gebracht, noch konnte er verhindern, was die Koalitionspartner überraschend ausgehandelt hatten: die FRAPORT wurde ultimativ aufgefordert, bis zu 15.November 2008 zu erklären, dass sie den Sofortvollzug (den Beginn der Rodungs-Bauarbeiten) aussetzt; ersatzweise würde das Wirtschaftsministerium den Sofortvollzug gemäß § 80 Abs.4 VwGO bis zum Abschluss aller Gerichtsverfahren aussetzen. Außerdem beabsichtige die Landesregierung, ein ergänzendes Verfahren zur Umsetzung eines absoluten Nachtflugverbotes einzuleiten (Koalitionsvertrag von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen). Zusammen mit der personellen Besetzung des Ministeriums mit dem SPD-Linken Herrmann Scheer und als Staatssekretär mit dem Ausbaugegner Frank Kaufmann (Grüne), der den Ausbaubefürworter Güttler (SPD) ersetzen sollte, war der worst case für das Ausbau-Kartell eingetreten.

Vorstandschef Bender reagierte sofort ablehnend (24.10.08) und beauftragte die Hauskanzlei mit einer juristischen Prüfung des Koalitionsvertrags. Was folgte, war eine pressure campaign, wie sie im Buche steht: sofort meldeten sich die Parteien CDU und FDP mit drohenden Untergangsszenarien für den Wirtschaftsstandort Hessen zu Wort: Verlust zehntausender Arbeitsplätze, der finanzielle Ruin des Bundeslandes drohe. Flankiert wurden sie von den Wirtschaftsverbänden: auf dem Hessischen Unternehmertag am 28.10.2008 versprach der Aufsichtsratsvorsitzende der Commerzbank und Chef des Bundesverbandes deutscher Banken dem FRAPORT-Chef Wilhelm Bender: "Wir werden mit ihnen mutig, entschlossen und entschieden dafür kämpfen, dass dieser Flughafen ausgebaut wird, und zwar so schnell wie möglich."
 
Medien und Konzerne
 
In allen Printmedien, Radiostationen und Fernsehsendern meldeten sich Konzernchefs, Verbände und Experten zu Wort: BDI, BARIG (Verband von Fluggesellschaften), Bankenverband, Industrie- und Handwerkskammern, Heraeus, Lufthansachef Mayrhuber, Arbeitgeberverband Chemie, BjU (Junge Unternehmer), Bauindustrie, Gesamtmetall Hessen, um eindringlich vor dem Zustandekommen der rotgrünen Regierung zu warnen, und das drohende Ende des Flughafens als internationale Drehscheibe und Jobmotor zu beschwören. Besonders pikant ist der viel zitierte Betriebsratsvorsitzende der Fraport, Peter Wichtel, der als Arbeitnehmervertreter und Aufsichtsratsmitglied mit gegen Rotgrün kämpfte, ohne dass öffentlich erwähnt wurde, dass Peter Wichtel im CDU-Landesvorstand sitzt und Mitglied der CdA ist, und inzwischen als erster Arbeitnehmervertreter den Preis "Soziale Marktwirtschaft" der Konrad Adenauer Stiftung erhalten hat.
 
Auf einer Sondersitzung des Aufsichtsrats der FRAPORT am 31.10.2008 wurde mit einer Enthaltung die Forderung der zukünftigen Landesregierung nach Aussetzung des Sofortvollzugs abgelehnt, mit hohen Schadensersatzforderungen gedroht, und die Rechtmäßigkeit des Koalitionsvertrages bestritten. Für das Ausbau-Kartell wurde auch der Universitätspräsident Rudolf Steinberg als Fachmann für Verwaltungsrecht an Bord geholt, um die „Rechtswidrigkeit“ des Vorgehens der Regierung in spe zu bezeugen. - Die öffentliche Diskursmaschine war aber nur die Spitze dessen, was informell und intern in Bewegung gesetzt wurde, um den stillen Druck auf die zukünftige Linksregierung zu erhöhen.
 
Die Bundesführung der SPD hatte den Kurs der Hessen-SPD zwar kritisiert, hielt sich aber öffentlich zurück. Inoffiziell gab es zumindest am letzten Tag der Koalitionsverhandlungen, dem 23.10.2008 direkte Kontakte zwischen "rechter" Berliner SPD-Führung und der Gruppe um Jürgen Walter: Sigmar Gabriel, aus dem Leitungskreis der Seeheimer und Bundesumweltminister, weilte im Marburger Wahlkreis bei Silke Tesch (Oberhessische Presse), der Adlatus von Müntefering Kajo Wasserhövel, Bundesgeschäftsführer der SPD und Wahlkampfleiter, in Riedstadt bei Frau Carmen Everts (Darmstädter Echo). Wahrscheinlich nahm die "Aktion schwarzer Montag" erst nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen langsam Form an, sie war der Notausgang aus einer gescheiterten Intrige, dem Scheitern der Strategie, die Koalition an ihren inneren Widersprüchen zerschellen zu lassen - ob mit der Zustimmung der Parteiführung bleibt dahingestellt. Auch die Beratung mit Herrn Bökel am Freitag, 31.10.2008, hatte anscheinend nicht zum Ergebnis, von diesem Schritt Abstand zu nehmen, Gerhard Bökel informierte nicht die hessische SPD-Führung, sondern den CDU-Innenminister Volker Bouffier. Die innerparteilichen Einflussmöglichkeiten der Gruppe um Walter waren nach den Koalitionsverhandlungen erschöpft: trotz aller Bedenken und Kritik trug der "rechte Flügel", der drei Ministerien erhalten hatte, den Regierungswechsel mit. Wenn sie die rot-grüne Minderheitsregierung und die Verzögerung des Flughafenausbaus noch verhindern wollten, blieb ihnen nur noch rechtzeitig vor der letzten Probeabstimmung in der Fraktion die öffentliche Aktion.
 
Aktion schwarzer Montag
 
Schon Wochen vor dem Abstimmungstermin wurde befürchtet oder vom politischen Gegner erhofft, dass Andrea Ypsilanti ein ähnliches Schicksal wie Heide Simonis in Schleswig Holstein erleiden könne. Roland Koch äußerte schon am 16.8.2008 in der Wirtschaftswoche, dass ein Scheitern von Andrea Ypsilanti alles einfacher machen werde, und man danach alle Konstellationen prüfen werde, im Focus vom 23.10.2008 äußerte er, dass Andrea Ypsilanti noch nicht am Ziel wäre. Auch die FDP erhoffte sich ein Scheitern von Andrea Ypsilanti in der Abstimmung: „Hochmut kommt vor dem Fall, der Fall von Andrea Ypsilanti wird am 4. November bei der geheimen Abstimmung im hessischen Landtag deutlich werden" (FDP-Presseerklärung von Jörg Uwe Hahn vom 25.10.2008). Unabhängig davon, dass es eine Strategie war, die SPD nervös zu machen, waren CDU und FDP anscheinend über die Haltung von SPD-Abgeordneten informiert: auch hier fällt der Verdacht speziell auf Jürgen Walter.
 
Die linke SPD-Führung glaubte anscheinend trotz aller Befürchtungen, die Abgeordneten durch Probeabstimmungen, Parteibeschlüsse und Kabinettsposten in die Partei-, Fraktions- und Kabinettsdisziplin einbinden zu können. In einer Presseerklärung vom 31.10.2008 nannte dagegen eine Presserklärung der BI gegen Flughafenerweiterung die vier Personen namentlich, die aus eigenen Machtinteressen die Wahl einer Linksregierung verhindern könnten. Den Bürgerinitiativen waren von gut informierter Seite die Namen genannt worden. Das Misstrauen gegen diese vier Abgeordneten war in der letzten Woche anscheinend förmlich mit Händen zu greifen, und es ist erstaunlich, dass die linke SPD-Führung weiter glaubte, die Abstimmung zu gewinnen: offensichtlich traute man den verdächtigten Abgeordneten eine solche Aktion nicht zu, die sie dem Risiko aussetzen würde, alle Parteiämter zu verlieren. Umso überraschender traf die Aktion schwarzer Montag die hessische SPD, und dies, obwohl das Vorwort des Zeit-Chefredakteurs Di Lorenzo vom 31.10.2008 unter Herausgeber Helmut Schmidt fast wie ein Aufruf zum Königinmord war. Indem er die Linksregierung als „linker Putsch gegen den Wählerwillen", „Betrug am Wähler" bezeichnete und damit delegitimierte, rechtfertigte er jede Notwehrreaktion, die diesen "Pakt mit der Linken" verhindern und einen Neuanfang ermöglichen würde. Dieses Vorwort war ein vorauseilender Adelsschlag für die "vier Rebellen" oder "vier Musketiere", wie sie später von der Presse liebevoll getauft wurden. Und wieder war FORSA - das Meinungsforschungsinstitut, dessen Chef Manfred Güllner und Schröderfreund auch schon mal Becks Rücktritt forderte, zur Stelle, um die entsprechenden Umfragen zu liefern: wahlweise 66 Prozent oder auch achtzig Prozent lehnen eine Tolerierung von Rot-Grün durch die LINKE in Hessen ab.
 
FRAPORT-Aktien stiegen schon vorher
 
Die Fassungslosigkeit in der SPD über die Dreistigkeit der Aktion, die jede Loyalität und Solidarität mit Füssen tritt, entstand auch, weil sie ein symbolischer "Verwandtenmord" war. Die vier Abgeordneten waren in Bezirksvorständen, Ortsvereinen und Kreistagen zuhause, sie waren "Fleisch vom Fleisch der SPD", und insofern war die Aktion äußerst wirkungsvoll: sie lähmte, entmutigte, und sorgte für heillose Verwirrung. Allerdings hatten die vier "aufrechten Lichtgestalten" nicht damit gerechnet, dass nicht alle Menschen ihren Verstand bei spiegelonline und FAZ abgegeben haben, sondern instinktiv den Zusammenhang mit dem Flughafenausbau herstellten, symbolisch mit den am 3.11.2008 steigenden FRAPORT- Aktien: am Morgen des 3.11. tendierte die Aktie schon fünf Prozent positiv, schon um 11.50 Uhr, eine Stunde vor der Pressekonferenz, stieg die Aktie von FRAPORT um 13,35 Prozent, nachdem die erste dpa-Meldung die Runde machte (ad-hoc-news, 3.11.2008).
 
Nicht alle waren politischer Amnesie verfallen, sondern erinnerten sich an ähnliche Fälle aus den siebziger Jahren, als 1970/72 eine groß angelegte Aktion die sozialliberale Koalition von Willy Brandt beenden sollte, und Abgeordnete der FDP mit hoch dotierten Beraterverträgen und Listenplätzen bei CDU/CSU für ihr Überlaufen belohnt werden sollten. Und an 1976, als im Niedersächsischen Landtag, wo in anonymer Abstimmung wahrscheinlich auch FDP-Abgeordnete für den Sturz des SPD-Ministerpräsidenten sorgten und Ernst Albrecht (CDU) an die Macht brachten. Die Aktion hatte selbst für neutrale Beobachter offensichtliche Widersprüchlichkeiten: zu sehr widersprach ihr Timing dem fairen Umgang, zu sehr war bekannt, dass die Abgeordneten monatelang an der Regierungsbildung aktiv mitgewirkt und merkwürdig spät ihr Gewissen entdeckt hatten. Die Presseöffentlichkeitsshow im Dorint-Hotel mit Personenschützern vom Innenministerium hatte den faden Beigeschmack einer Inszenierung, die den politischen Kern des Unternehmens verbergen sollte.
 
Jürgen Walter in Juso-Zeiten
 
Wie sich ein Kenner von Jürgen Walter aus Juso-Zeiten ausdrückte: Jürgen Walter und Gewissen sind zwei Dinge, die sich bisher gegenseitig ausschlossen. Die Flucht ins Nachbarland und die Einwegkommunikation über die FAZ sah mehr wie ein Schutz vor unangenehmen Fragen aus. Die Stimmung in Hessen schwang sofort vollständig zu "Neuwahlen" um, und ließ nicht zu, im Schatten der Verwirrung die CDU-Herrschaft für weitere vier Jahre zu zementieren, und die Parteien mussten diesem Druck der öffentlichen Meinung sehr schnell nachgeben. In den Leserbriefspalten, auf Internetforen und Blogs wütet seit dem 3.11.2008 ein erbitterter Kampf um Meinungsführerschaft über die Interpretation der Ereignisse und ihrer Motive, und es tobt sich dort ein vulgärer Sexismus und "Antikommunismus" aus, die durch das permanente autoritäre Mobbing von Andrea Ypsilanti in den Massenmedien aufgeheizt wird. Auch wenn diese Konsequenzen von den Akteuren der Intrige beabsichtigt waren, bekamen sie eine Dynamik, die außer Kontrolle geriet: die politische Kritik an den vier Abgeordneten und ihren Hintermännern lässt nicht nach, und der "rechte" Flügel ging in Hessen aus dieser Aktion geschwächt hervor.
 
Die Walter-Gruppe bekommt respektvolle Zustimmung vom politischen Gegner und erntet wütende Reaktionen in ihrer Partei: für viele Sozialdemokraten ist die Intrige ein Lehrstück für Unverfrorenheit und Hinterhältigkeit. Die Intriganten hatten dennoch die zwei wesentlichen Ziele mit maximalen Schaden für die SPD erreicht: sie hatten eine rotgrüne Minderheitsregierung verhindert, und dem Flughafen-Kartell seine Ausbaupläne gesichert.
 
SPD-Kamarilla im Interesse des Kapitals
 
Wolfgang Clement, der ehemalige Wirtschaftsminister, der Hartz IV-Empfänger Parasiten und Schmarotzer nannte, gehört zu einer ganzen Riege von Sozialdemokraten wie Lothar Klemm (Aufsichtsrat FRAPORT), Alfred Tacke (Vorstandsvorsitzender STEAG), Hermann Borghorst (Arbeitsdirektor Vattenfall) oder der Wirtschaftsminister aus Schröders Kabinett Werner Müller, jetzt Aufsichtsratsvorsitzender der Bahn AG und Vorstandsvorsitzender der RAG, oder dem "Genossen der Bosse" Gerhard Schröder (Aufsichtsratsvorsitzender des NEGP-Konsortiums von Gazprom, Eon und BASF), die in die Energiewirtschaft oder ehemalige Staatskonzerne befördert wurden.
 
Wolfgang Clement, meldete sich nach dem "schwarzen Montag" erleichtert zu Wort, und war "froh, dass der Kelch an uns vorübergegangen ist" (WAZ, 3.11.2008), und hoffte, dass "der Spuk der Zusammenarbeit mit der Linkspartei vorbei sei" (WAZ 10.11.2008) . Clement ist nicht nur Aufsichtsrat bei RWE Power AG, sondern auch bei der Dussmann-Gruppe, beim Zeitarbeitsunternehmen DIS und beim Zeitungskonzern M.DuMont-Schauberg, dem die Frankfurter Rundschau zu 50,1 Prozent gehört. Er ist Mitwirkender des "Konvent für Deutschland", ein Beratergremium für die Politik, und Organ des "Klassenkampfs von oben", dem zum Beispiel Klaus von Dohnany, Roman Herzog, Oswald Metzger, Jutta Limbach und Otto Graf Lambsdorff angehören, und das von FRAPORT, TUI, Linde, Continental, Porsche, WestLB, RWE, Deutsche Bank und vielen anderen finanziert wird.
 
Eng verwandt mit diesem Gremium ist die "Initiative neue soziale Marktwirtschaft", für die Clement auch aktiv ist: eine PR-Agentur für neoliberale Politik, die Fortsetzung der Agenda 2010, verflochten mit Forschungsinstituten und finanziert von Gesamtmetall und Elektroindustrie - elitäre Lobbyorganisationen des Kapitals, deren Ziel es ist, den ideologischen und kulturellen Boden für marktradikale Reformen zu bereiten.
 
Die SPD-Kamarilla steht für die Fortsetzung neoliberaler Politik nach Schröder in der großen Koalition, und diesen Kurs an die Macht will die SPD-Führung mit Steinmeier als Kanzlerkandidat weiter fortsetzen - unabhängig davon, dass Spitzenkandidaten des "rechten" Flügels wie Sigmar Gabriel in Niedersachsen (Verlust von 15 Prozent 2003), Gerhard Bökel (2003, schlechtestes Wahlergebnis seit 1945 in Hessen), Franz Maget 2008 (schlechtestes Ergebnis seit 1945 in Bayern) oder Peer Steinbrück 2005 (schlechtestes Ergebnis seit 1954 in Nordrheinwestfalen) alle Wahlen der letzten Jahre verloren haben.
 
Am 3. November 2008 war also in Hessen exemplarisch in einem "Lehrstück in Demokratie" zu besichtigen, wie ein nur linksreformistisches Projekt, dass im besonderen Fall des Flughafenausbaus nur die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens garantieren wollte, auf mächtige Interessen stößt und mit allen Mitteln zum Scheitern gebracht wurde. (PK)

Lesen Sie hierzu auch das Interview mit Willi van Ooyen in dieser Ausgabe.
 
Quellenangaben zu diesem Artikel: ARD, Hessenfernsehen HR, Frankfurter Rundschau, die Süddeutsche, FAZ, Welt, WAZ, Wirtschaftswoche, Financial Times, Handelsblatt, Spiegel, die Zeit, Presseerklärungen der Parteien und Bürgerinitiativen gegen Flughafenerweiterung u.a. sowie germany.indymedia.org/, wolfwetzel.wordpress.com/, waldbesetzung.blogsport.de



Online-Flyer Nr. 179  vom 07.01.2009

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