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Lokales
Gabi Gillens und Heinrich Pachls Lehrstunde über die verhartzte Gesellschaft
Kampf um Dasein und Zukunft durch Fortschrumpf
Von Hans-Detlev v. Kirchbach

Spaßig war das Themenspektrum also nicht, das sich Gabriele Gillen, die unerschrockene Jeanne d'Arc des modernen Journalismus, und ihr intellektueller Schildknappe Heinrich Pachl vorgenommen hatten. Und doch gestalteten die beiden Wortbrillierer in der Buchhandlung Nippes, Neusser Straße, erstmals als Duett einen überaus spaßigen Abend. Nach dem jeder objektive Beobachter zweifelsfrei feststellen mußte:

Hartz IV - Eine Abrechnung
Hartz IV - Leider kein Comic-Spaß
Foto: Paula Schaefer



Das neue Traumpaar der Kölner Politkultur- und Kabarettszene heißt: Gabriele Gillen und Heinrich Pachl. Seinen Einstand gab das Team mit der Lizenz zur Aufklärung mit einem joint venture aus satirisch verschärfter Lesung von Gillen-Texten - insbesondere aus ihrem Buch "Hartz IV - eine Abrechnung" - und kabarettistisch improvisierter Informationsveranstaltung. So nahm das geistreiche Doppelpack das deutsche Elend aufs polemische Korn, das in Hartz IV schon fast sprichwörtlich kulminiert. Dabei wurden an diesem Abend keineswegs nur zugespitzte Meinungen für ein überwiegend gleich gesinntes Publikum geboten, sondern auch und gerade "Fakten, Fakten, Fakten", an denen selbst ein Schwergewicht der herrschenden Meinung wie Helmut Markwort vom Focus nicht vorbei könnte.

Abrechnung und Bilanz der sozialen Enteignung

Denn Gabi Gillens "Abrechnung" mit den Initiatoren, Propagandisten und Profiteuren von Hartz IV basiert auf präziser, geradezu pingeliger Recherche - und ist doch kein nur trocken referierendes Sachbuch. Hier findet man nicht nur Zahlen und Daten, sondern ebenso Erlebtes und Erfahrenes aus der Perspektive der Betroffenen. Und exakt diese "Faktenebene" wird im Mainstream gern verdrängt. Gabi Gillens Perspektive ist, so gesehen, "unsachlich", weil vorrangig auf die Menschen hin orientiert, die aus dem Raster der kapitalistischen Profitverwertung herausfallen und von der Entsolidarisierungspolitik an den Rand der Gesellschaft und der Existenz gedrängt werden.

So erzeugt - nach Gillen - die allein herrschende Eigentumsordnung zugleich die rücksichtsloseste Enteignung. Zum Beispiel durch Abbau von Mitbestimmung, Alterssicherung, bezahlbarer Gesundheitsvorsorge für alle. Die Autorin nimmt auch emotional Partei, und das erregt in bürgerlichen, aber auch in linken Besserwisserkreisen Argwohn. Die Propaganda für die Sicht von oben, für´s herrschende Kapitalinteresse, nimmt natürlich das Siegel der vermeintlichen Objektivität für sich in Anspruch. Die offene Parteinahme für die Opfer der "objektiven" Verhältnisse aber gilt als sentimentale Sozialromantik oder wird als "Agitation" abgekanzelt.
Dabei ist die von Gabi Gillen aufgezeigte Wirklichkeit eine einzige Agitation gegen sich selbst. Etwa wenn sie davon erzählt, wie im Supermarkt eine Frau versucht, eine bereits vor Ablaufdatum saure Tüte Milch umzutauschen, weil sie sich keine neue Tüte mehr kaufen kann und ihr die Autorin eine neue bezahlt.

Gabi Gillen - Jeanne d'Arc des modernen Journalismus
Gabi Gillen - Jeanne d'Arc des modernen Journalismus
Foto: Paula Schaefer



Gegen die Hohepriester der Ungleichheit

Doch fehlt bei solchen Küchen- und Supermarktgeschichten aus dem Schattenreich der blanken Not rechten wie linken Liebhabern des akademischen Kammertons der Blick auf´s Große Ganze.
Obwohl sich Gabriele Gillen gerade um dieses sorgt. Die von neoliberalen Ideologen unter Modeslogans wie "Mobilität" und "Flexibilität" als Inbegriff der Freiheit gepriesene Vereinzelung und Entsolidarisierung ist ihr ein Greuel, denn sie weiß, daß dadurch die und der Einzelne isoliert und wehrlos der Willkür preisgegeben ist. Der Arbeitsnomade des 21. Jahrhunderts soll ohne soziales Netzwerk, ohne Rückhalt egalitärer Solidarität, wie sie einst die Arbeiterbewegung und noch früher sogar die Zünfte boten, hinter wechselnden Billigjobs herhasten, beziehungslos wie eine Monade. Und unter hehren ethischen Parolen wie dem ständigen Appell an die "Eigenverantwortung" macht Gillen letztlich nichts anderes aus als das Gebot: Jeder sei sich selbst der Nächste.

Begriffe, die vielleicht nostalgisch und in aufgeklärten Ohren womöglich gar gestrig klingen mögen, scheinen bei Gillen dann wieder geradezu als Hoffnungsfanale und trotz aller Abnutzung scheinbar wie neu: Begriffe wie "Liebe", "Heimatgefühl", "Gemeinschaft", unter denen sie summiert, was im Autismus des Mainstreams verloren zu gehen droht. In solchen Verheißungen findet die Kölnerin aus Ostwestfalen doch noch einen emanzipatorischen Sinn, wenn man sie nur gegen die Geschichte ihrer reaktionären Vernutzung liest. Denn erst die Bindung an Menschen und an Orte ermöglicht den gemeinsamen Kampf für gleiche Interessen, für soziale und demokratische Rechte. Gegen jene Hohepriester der Ungleichheit, die, wie Gabi Gillen dokumentiert, Verarmung und glattes Kohldampfschieben als Antriebspeitsche einsetzen wollen, um das Millionenheer der Niedriglöhner und "Schwachperformer" zum verbissenen Kampf ums Dasein anzutreiben. Egal, wer auf der Strecke bleibt.

Gabi Gillen u. Heinrich Pachl
Gabriele Gillen und Heinrich Pachl
Foto: Paula Schaefer



Kabarettistisches Urgestein

Heinrich Pachl, der noch tief aus dem letzten Jahrhundert heraufragende Alt- und Großmeister leicht hingeworfener sarkastischer Improvisation, die doch scherz- und schmerzhaft genau ins Schwarze trifft - er war das ideale alter ego für Gabi Gillen: Gnadenlos kenntlichmachende Wortverwirbelung betrieb der Sprachakrobat beispielsweise mit der zwiespältigen Etikettierung der berüchtigten Propaganda-Agentur "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft":

Also muß es etwas altes Soziales gegeben haben, was wir bisher als sozial empfunden haben, die Solidarität, von der eben die Rede war. Das alte Soziale wird jetzt als das nicht mehr Soziale, also Konservative, Reformhemmende, während das Neue Soziale das eigentlich Soziale ist, während das alte Soziale das Asoziale ist und das eigentlich Asoziale jetzt das Neue Soziale ist. Das hat man jetzt nicht verstanden, aber darum geht´s, daß man´s auch gar nicht mehr versteht, sondern daß der Kopf besetzt wird, und daraus entsteht eben diese Zukunftsbesetztheit, der Mut zur Zukunft, und da sagt man eben: Gut, das ist eben der Fortschrumpf!

Fortschrumpf statt Fortschritt - ein trüber Blick ans postmoderne Ende der Geschichte. Wobei die Augentrübung nicht nur den Lachtränen geschuldet ist. Und doch ein Aufruf, sich zur Abwechslung mal in die eigenen Angelegenheiten einzumischen, und sei´s nur spaßeshalber. Ein wesentlicher Beitrag für eine zumindest lehrreichere und amüsantere Zukunft wäre aber allemal, wenn dieses ebenso ansehnliche wie hörenswerte Duo bald und öfter wieder gemeinsam auftreten würde, zwecks Animierung von Hirnschmalz und Spaßhormonen zugleich.

Ausschnitte aus der Veranstaltung mit Gabi Gillen und Heinrich Pachl sind hier als mp3 nachzuhören:

Gabriele Gillen: "Lob der Ungleichheit"
Heinrich Pachl: "Die Zukunft wird fortgeschrumpft"

Hartz IV - eine Abrechnung

Buchhinweis:
Gabriele Gillen: "Hartz IV- eine Abrechnung"
Rowohlt Verlag Reinbek 2004, 7,90 Euro





Online-Flyer Nr. 33  vom 28.02.2006

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