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Arbeit und Soziales
HartzIV-Empfänger stehen vor der Wahl:
Lebensmittel oder Medikamente?
Von Peter Grottian
Die Öffentlichkeit hat sich fast in zynischer Weise daran gewöhnt, dass
9 Millionen HartzIV- und Sozialhilfeempfänger, Ein-Euro-Jobber,
„Aufstocker“ und Niedriglöhner, arme Rentner und Kinder, Wohnungslose,
Migranten und verdeckt Arme nicht mehr zur Zielgruppe großkoalitionärer
Politik gehören. Beim jüngsten zweiten Konjunkturprogramm zeigt die
Bundesregierung ohne Mitgefühl für Bürgerinnen und Bürger ihr asoziales
Gesicht: Selbst als potentiell nachfragebereite Konsumenten werden die
Menschen, die fast oder ganz unten stehen, wie Müll behandelt. Die Große
Koalition will ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse nicht verbessern.
Die SPD hat das Versprechen von Müntefering und Scholz, zumindest die
HartzIV-Regelsätze zu überprüfen, mehrfach gebrochen. Aber um eine
Verbesserung geht es bei denjenigen unterhalb oder oberhalb der
Armutsgrenze schon lange nicht mehr. Es geht um die dynamische Rutsche
permanenter Verschlechterung, die man gönnerhaft mit Tafeln und
Suppenküchen zu drapieren sucht. In Wahrheit haben HartzIV-Empfänger
seit Bildung der Großen Koalition 12-14 Prozent reelle Einkommenseinbußen durch Nichtanhebung der Regelsätze, Mehrwertsteuererhöhung und die besondere Dynamik der Lebensmittel- und Energiepreise hinnehmen müssen.
Essen oder Medizin – Sozialstaat Deutschland 2009
Foto: arbeiterfotografie.com
Wenn aber 600 000 HartzIV-Empfänger gezwungen sind, oft wichtige
Medikamente aus dem HartzIV-Regelsatz, in dem 40,22 Euro für die
Gesundheitspflege vorgesehen sind, ganz oder teilweise selbst zu
bezahlen, dann ist das existentielle Mark des Sozialstaats getroffen.
Immerhin geben nach einer Studie, die im Informationsdienst Soziale
Indikatoren publiziert wurde, 20 Prozent der repräsentativ
befragten HartzIV-Empfänger zu Protokoll, dass sie nichtverschreibungspflichtige Medikamente offenkundig nicht bezahlen
können. Da geht es nicht um Hustensaft und Kräutertee, sondern
offenkundig um in der Regel wichtige Medikamente. Sozial Diskriminierte
sollten zumindest Hören und Sehen können – aber Hörgeräte und Brillen
gibt es in der Regel nicht.
Der Normalfall positiv ist: Der Arzt stellt seine Diagnose, verschreibt
Medikamente und die Krankenkasse zahlt. Die hier aufgeworfene
Problematik: Der Arzt verordnet ein nichtverschreibungspflichtiges
Medikament und der HartzIV-Empfänger erwirbt es auf eigene Kosten.
Es gibt demnach eine asoziale Zuzahlungspflicht, die zu völlig
verantwortungslosen Zuständen führen kann, wie die beiden folgenden Fälle belegen:
Der Fall Michael Lange:
Herr Lange leidet an einer seltenen starken Form von „Trockenem Auge“
(Sicca-Problematik). Diese Krankheit ist so gut wie nicht heilbar. Die
Symptome sind Augenreizungen, gerötete Augen, Bindehautentzündungen,
tränende Augen, Fremdkörpergefühl und eine Schädigung der Hornhaut. Zur
Hauptbehandlung der Symptome verordneten verschiedene Augenärzte, die
Herr Lange aufsuchte, Augentropfen, die allerdings nicht
verschreibungspflichtig sind. Herrn Lange entstehen somit Kosten von
über 100 Euro pro Monat für Medikamente, die er aus seinem
HartzIV-Regelsatz bestreiten muss. In der Universitätsaugenklinik in
Erlangen wurde die Notwendigkeit einer Dauerbehandlung und die
regelmäßige Betreuung durch eine Siccasprechstunde festgestellt. Sowohl
für Fahrtkosten als auch für eine Behandlung mit „Punctum Plugs“
(Tränenkanal-Stöpsel) weigern sich die ARGE-Hamburg und die Techniker
Krankenkasse die Kosten zu übernehmen.
Der Fall Kerstin Koepke:
Frau Koepke lebt mit zwei Diagnosen chronischer Krankheiten: Multiple
Sklerose und Zöliakie (Glutenunverträglichkeit). Um ihre Schmerzen und
Spasmen, die mit der Multiplen Sklerose einhergehen, zu mildern, ist sie
gezwungen, regelmäßig Krankengymnastik zu betreiben. Zudem hat sie
darauf zu achten, sich linolsäurearm zu ernähren. Ihrer Zöliakie
begegnet Frau Koepke mit einer strikt einzuhaltenden Diät, Diätfehler
können zu Durchfällen und langfristig zu Schäden der Darmflora führen.
Beide Krankheiten verstärken sich gegenseitig. Die ARGE ermittelt für
jede chronische Krankheit einen medizinisch notwendigen Mehrbedarf, den
der Betroffene ausgezahlt bekommt. Leidet man an zwei chronischen
Krankheiten, wird nur der höher ermittelte Mehrbedarf ausgezahlt – es
werden also nicht beide Mehrbedarfe addiert. Der somit an Frau Koepke
ausgezahlte Betrag von 66,67 Euro deckt ihren tatsächlich anfallenden
Mehrbedarf für ihre Diät nicht ab, sie muss jeden Monat ca. 100 Euro von
ihrem Regelsatz zusätzlich aufwenden.
Wir können davon ausgehen, dass über die erwähnten 600 000
HartzIV-Empfänger hinaus dieses Problem auch bei Ein-Euro-Jobbern,
„Aufstockern“ und Niedriglöhnern, armen Rentnern und Kindern,
Wohnungslosen und Migranten vorhanden ist.
Als dringliche Schlussfolgerung ergibt sich deshalb, dass bei chronisch Kranken therapienotwendige, nichtverschreibungspflichtige Medikamente von den Krankenkassen übernommen werden müssen. Eine generelle Befreiung von der Zuzahlungspflicht bei verschreibungspflichtigen Medikamenten ist ohnehin sozialpolitisch angezeigt. Noch besser wäre eine sofortige Erhöhung der HartzIV-Regelsätze um 15 Prozent im noch zu beschließenden
Konjunkturpaket II im Bundestag Mitte Februar. Und ungleich noch besser
wäre die Anhebung der Regelsätze auf 500 Euro monatlich zum 1. Juli
2009. Da könnten Konsumankurbelung und soziale Gerechtigkeit Geschwister sein. (HDH)
Online-Flyer Nr. 182 vom 28.01.2009
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Arbeit und Soziales
HartzIV-Empfänger stehen vor der Wahl:
Lebensmittel oder Medikamente?
Von Peter Grottian
Die Öffentlichkeit hat sich fast in zynischer Weise daran gewöhnt, dass
9 Millionen HartzIV- und Sozialhilfeempfänger, Ein-Euro-Jobber,
„Aufstocker“ und Niedriglöhner, arme Rentner und Kinder, Wohnungslose,
Migranten und verdeckt Arme nicht mehr zur Zielgruppe großkoalitionärer
Politik gehören. Beim jüngsten zweiten Konjunkturprogramm zeigt die
Bundesregierung ohne Mitgefühl für Bürgerinnen und Bürger ihr asoziales
Gesicht: Selbst als potentiell nachfragebereite Konsumenten werden die
Menschen, die fast oder ganz unten stehen, wie Müll behandelt. Die Große
Koalition will ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse nicht verbessern.
Die SPD hat das Versprechen von Müntefering und Scholz, zumindest die
HartzIV-Regelsätze zu überprüfen, mehrfach gebrochen. Aber um eine
Verbesserung geht es bei denjenigen unterhalb oder oberhalb der
Armutsgrenze schon lange nicht mehr. Es geht um die dynamische Rutsche
permanenter Verschlechterung, die man gönnerhaft mit Tafeln und
Suppenküchen zu drapieren sucht. In Wahrheit haben HartzIV-Empfänger
seit Bildung der Großen Koalition 12-14 Prozent reelle Einkommenseinbußen durch Nichtanhebung der Regelsätze, Mehrwertsteuererhöhung und die besondere Dynamik der Lebensmittel- und Energiepreise hinnehmen müssen.
Essen oder Medizin – Sozialstaat Deutschland 2009
Foto: arbeiterfotografie.com
Wenn aber 600 000 HartzIV-Empfänger gezwungen sind, oft wichtige
Medikamente aus dem HartzIV-Regelsatz, in dem 40,22 Euro für die
Gesundheitspflege vorgesehen sind, ganz oder teilweise selbst zu
bezahlen, dann ist das existentielle Mark des Sozialstaats getroffen.
Immerhin geben nach einer Studie, die im Informationsdienst Soziale
Indikatoren publiziert wurde, 20 Prozent der repräsentativ
befragten HartzIV-Empfänger zu Protokoll, dass sie nichtverschreibungspflichtige Medikamente offenkundig nicht bezahlen
können. Da geht es nicht um Hustensaft und Kräutertee, sondern
offenkundig um in der Regel wichtige Medikamente. Sozial Diskriminierte
sollten zumindest Hören und Sehen können – aber Hörgeräte und Brillen
gibt es in der Regel nicht.
Der Normalfall positiv ist: Der Arzt stellt seine Diagnose, verschreibt
Medikamente und die Krankenkasse zahlt. Die hier aufgeworfene
Problematik: Der Arzt verordnet ein nichtverschreibungspflichtiges
Medikament und der HartzIV-Empfänger erwirbt es auf eigene Kosten.
Es gibt demnach eine asoziale Zuzahlungspflicht, die zu völlig
verantwortungslosen Zuständen führen kann, wie die beiden folgenden Fälle belegen:
Der Fall Michael Lange:
Herr Lange leidet an einer seltenen starken Form von „Trockenem Auge“
(Sicca-Problematik). Diese Krankheit ist so gut wie nicht heilbar. Die
Symptome sind Augenreizungen, gerötete Augen, Bindehautentzündungen,
tränende Augen, Fremdkörpergefühl und eine Schädigung der Hornhaut. Zur
Hauptbehandlung der Symptome verordneten verschiedene Augenärzte, die
Herr Lange aufsuchte, Augentropfen, die allerdings nicht
verschreibungspflichtig sind. Herrn Lange entstehen somit Kosten von
über 100 Euro pro Monat für Medikamente, die er aus seinem
HartzIV-Regelsatz bestreiten muss. In der Universitätsaugenklinik in
Erlangen wurde die Notwendigkeit einer Dauerbehandlung und die
regelmäßige Betreuung durch eine Siccasprechstunde festgestellt. Sowohl
für Fahrtkosten als auch für eine Behandlung mit „Punctum Plugs“
(Tränenkanal-Stöpsel) weigern sich die ARGE-Hamburg und die Techniker
Krankenkasse die Kosten zu übernehmen.
Der Fall Kerstin Koepke:
Frau Koepke lebt mit zwei Diagnosen chronischer Krankheiten: Multiple
Sklerose und Zöliakie (Glutenunverträglichkeit). Um ihre Schmerzen und
Spasmen, die mit der Multiplen Sklerose einhergehen, zu mildern, ist sie
gezwungen, regelmäßig Krankengymnastik zu betreiben. Zudem hat sie
darauf zu achten, sich linolsäurearm zu ernähren. Ihrer Zöliakie
begegnet Frau Koepke mit einer strikt einzuhaltenden Diät, Diätfehler
können zu Durchfällen und langfristig zu Schäden der Darmflora führen.
Beide Krankheiten verstärken sich gegenseitig. Die ARGE ermittelt für
jede chronische Krankheit einen medizinisch notwendigen Mehrbedarf, den
der Betroffene ausgezahlt bekommt. Leidet man an zwei chronischen
Krankheiten, wird nur der höher ermittelte Mehrbedarf ausgezahlt – es
werden also nicht beide Mehrbedarfe addiert. Der somit an Frau Koepke
ausgezahlte Betrag von 66,67 Euro deckt ihren tatsächlich anfallenden
Mehrbedarf für ihre Diät nicht ab, sie muss jeden Monat ca. 100 Euro von
ihrem Regelsatz zusätzlich aufwenden.
Wir können davon ausgehen, dass über die erwähnten 600 000
HartzIV-Empfänger hinaus dieses Problem auch bei Ein-Euro-Jobbern,
„Aufstockern“ und Niedriglöhnern, armen Rentnern und Kindern,
Wohnungslosen und Migranten vorhanden ist.
Als dringliche Schlussfolgerung ergibt sich deshalb, dass bei chronisch Kranken therapienotwendige, nichtverschreibungspflichtige Medikamente von den Krankenkassen übernommen werden müssen. Eine generelle Befreiung von der Zuzahlungspflicht bei verschreibungspflichtigen Medikamenten ist ohnehin sozialpolitisch angezeigt. Noch besser wäre eine sofortige Erhöhung der HartzIV-Regelsätze um 15 Prozent im noch zu beschließenden
Konjunkturpaket II im Bundestag Mitte Februar. Und ungleich noch besser
wäre die Anhebung der Regelsätze auf 500 Euro monatlich zum 1. Juli
2009. Da könnten Konsumankurbelung und soziale Gerechtigkeit Geschwister sein. (HDH)
Online-Flyer Nr. 182 vom 28.01.2009
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